Der Heimvorteil in Volzum – Coworking-Spaces aufs Land gebracht

Wo früher Trikots und Stollenschuhe dominierten, klappern heute Laptoptastaturen: Das alte Sportheim in Volzum hat eine bemerkenswerte Verwandlung erlebt. Dort, wo einst Fußballstrategien besprochen wurden, treffen sich nun Mobilarbeitende, Kreative und Freiberufler, um in ruhiger Umgebung und mit prächtiger Aussicht aufs ostbraunschweigische Hügelland ihrer Arbeit nachzugehen. Hinter diesem Wandel steht vor allem Sandra Heerwagen, die mit ihrem Gespür für moderne Arbeitswelten und in enger ehrenamtlicher Zusammenarbeit mit der Gemeinde Sickte und der Samtgemeindeverwaltung aus einem ungenutzten Gebäude nicht nur idyllische Coworking-Flächen geschaffen hat, sondern auch mit der prägnanten Bezeichnung „Mehrwertort“ Arbeit, Gemeinschaft und Kreativität in einem bunten Mix unter einem Dach vereint.
„Die Deckenbalken haben wir für eine ansprechendere Gesamtoptik mit viel Aufwand freigelegt und abgeschliffen“, erinnert sich ­Sandra Heerwagen, Vorsitzende des Vereins Heimvorteil e. V., die ihrer Wahlheimat Volzum mit viel Herzblut eine moderne Form des Arbeitens beschert hat. Hauptamtlich als Personalleiterin der surfactor GmbH in Schöppenstedt tätig, entwickelte sie gemeinsam mit lokalen Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Idee, den alten und wenig frequentierten Bolzplatz samt verwaistem Sportheim am nördlichen Rand des 400-Seelen-Dorfs mit einer neuen Funktion auszustatten, denn vor gut fünf Jahren schienen die Räumlichkeiten an der Steinstraße mit der Auflösung des TSV Volzum ihre Halbwertszeit erreicht zu haben.
Die Kommunalpolitik grübelte dem Vernehmen nach lange über eine Nachnutzung, bis Vertreter der Stiftung Zukunftsfonds Asse während der Corona­pandemie die Idee zur Schaffung moderner Büroausweichflächen auf dem Land ins Spiel brachten. Mit Unterstützung der Gemeinde Sickte und Gemeindedirektor Marco Kelb nahm die Idee rasch Gestalt an. Der Kommune wurde das damals noch in den Kinderschuhen befindliche Konzept in Grundzügen vorgestellt, aber schnell wurde klar: Hier bietet sich eine einmalige Chance, um einen innovativen Arbeitsraum mit ländlichem Charme zu schaffen. Eine Machbarkeitsprüfung ergab positive Perspektiven, und im Sommer 2021 trat die Gemeinde an den damals bereits bestehenden Förderverein des Dorfes mit der Anfrage heran, ob man dieses ambitionierte Projekt denn ehrenamtlich betreuen könne. ­Heerwagen sowie weitere Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner zögerten nicht lange und erklärten der Kommune prompt ihre Bereitschaft zur Revitalisierung der vakanten Immobilie.

Fördermittel hauchen Sportheim neues Leben ein

„Als die Pläne Gestalt annahmen, wurde uns schnell klar: Die eigentliche Arbeit beginnt nicht mit Farbe und Möbeln, sondern mit Papier und Paragrafen“, erinnert sich die gebürtige Ostwestfälin. Bevor auch nur ein einziger Umzugskarton hereingebracht werden konnte, galt es, sich durch einen Dschungel aus Förderregularien zu kämpfen – sowohl für die Gemeindemitarbeiterinnen und -mitarbeiter als auch für den Verein. Die Finanzierung stand schließlich auf drei wichtigen Säulen: die Stiftung Zukunftsfonds Asse, das EU-­Programm Leader-Region Elm-Schunter und die Gemeinde. Nach zähen Monaten des Umbaus konnte auch schließlich ein Betreibervertrag abgeschlossen werden. Im vergangenen September kamen deshalb Bürgermeister Geisler, Gemeindedirektor Kelb sowie für das Projekt verantwortliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gemeinde und Mitglieder des Heimvorteil e. V. zusammen, um mit ihrer Unterschrift den offiziellen Startschuss für das Projekt zu geben.
Coworking muss nicht nur in den größeren Städten stattfinden.

Sandra Heerwagen

Für ihren Mann Peter Wolff und die neun weiteren Vereinsmitglieder entwickelte sich das Projekt mit zunehmender Dauer zur Herzensangelegenheit. Mit einem Blick fürs Detail und einem modernen Verständnis von Inneneinrichtung gestaltete das Team die Räumlichkeiten so, als wäre es das eigene Zuhause. Sie wählten Möbel aus, griffen selbst zum Pinsel und überließen nichts dem Zufall – nicht einmal den perfekten Standort der Kaffee­maschine, die als heimlicher Mittelpunkt des sozialen Miteinanders dienen soll. Als die Küche schließlich fertig aufgebaut war, öffnete der Heimvorteil Anfang des neuen Jahres seine Pforten, bereit, mit Leben gefüllt zu werden. „Coworking muss nicht nur in den größeren Städten stattfinden. Mit unserer Idee konnten wir schon einige Remote Worker begeistern, die das angenehme Ambiente und ruhige Umfeld zu schätzen wissen“, erklärt Heerwagen und ergänzt: „Es stellt sich außerdem heraus, dass insbesondere unser ‚Bolzplatz‘, also der große Workshopraum, von Firmen und Kreativkursanbietern gerne genutzt wird, um in unserer heimischen Atmosphäre Ideen fliegen zu lassen.“
Natürlich blieb es nicht bei der reinen Umgestaltung. Unvorhergesehene Herausforderungen wie die notwendige Dachsanierung brachten zusätzliche Kosten mit sich, die durch weitere beantragte und bewilligte Gelder jedoch kompensiert werden konnten. Der organisatorische Aufwand größerer Umbauarbeiten am Baukörper wurde hingegen durch die Gemeinde mit ihren Expertinnen und Experten getragen.

Ein Mehrwert(-ort) für alle

Neben voll ausgestatteten Arbeitsplätzen werden hier Workshops, kulturelle Veranstaltungen und soziale Begegnungen ermöglicht. Die enge Verbundenheit in der Dorfgemeinschaft zeigt sich dabei überall – Menschen grüßen sich auf der Straße, spontane Gespräche entstehen, und das Projekt wächst durch den gelebten Austausch. Interessierte können flexibel Arbeitsplätze buchen – sei es für einen Tag, einen Monat oder im Rahmen eines flexiblen Mehrfachkarten-Modells. Auch eine Komplettanmietung des Gebäudes ist möglich.
Für virtuelle Meetings oder Telefonate stehen separate Rückzugsräume bereit, die den gleichen Komfort wie der großzügig ausgelegte Workshopraum bieten. Die Namens­gebung der einzelnen Räume bleibt dabei dem sportlichen Ursprung des Gebäudes treu: „Fallrückzieher“, „Auswärtsspiel“ oder die Sitzgruppen „Delling“ und „Netzer“ sorgen für einen kreativen Bezug zum auserkorenen Vereinsnamen. Die Zielgruppe? Vielseitig. Arbeitnehmende, die kein eigenes Büro haben, Freiberufler, Coaches und Kreative – sie alle profitieren von der ruhigen, ländlichen Atmosphäre. Der Open Space bietet Platz für acht Arbeitsplätze oder Workshops für bis zu 15 Personen, während zwei Räume weiter im „Dorfhaus“ klassische Gemeinschaftsräume für Geburtstagsfeiern, Sportfeste oder Kurse genutzt werden können. Hier treffen sich Qi Gong- und Chorgruppen ebenso wie generationenübergreifende Gemeinschaften.
„Die Grundwerte des Heimvorteil basieren auf Demokratie und Nachhaltigkeit. Neben der professionellen Nutzung des Ortes als Coworking-Space steht vor allem das Ermöglichen von Ehrenamt im Fokus“, betont Sandra Heerwagen. „Das Einzugsgebiet umfasst Sickte und seine Nachbardörfer, aber auch Menschen aus Braunschweig sind herzlich willkommen, unsere Alternative zum klassischen mobilen Arbeiten zu nutzen“, heißt es weiter. Ein Coworker hat sich derweil dauerhaft im Heimvorteil eingerichtet, da sein Unternehmen mittlerweile nur noch digital agiert.

Coworking-Spaces in Zeiten wiederkehrender Mitarbeitenden?

Aktuell liegt Heerwagens Hauptaufgabe in der Vernetzung, um das Projekt in der Region mit Nachdruck zu popularisieren. Sollte sich der Heimvorteil langfristig als wirtschaftlich erweisen, könnte sogar eine hauptamtliche Stelle geschaffen werden, um die Verwaltung zu professionalisieren und das Ehrenamt zu entlasten. Ebenso sind weitere Verbesserungen am Außengelände geplant, das durch seine Grünflächen und den angrenzenden Sportplatz enormes Potenzial bietet. „Drei Jahre dauerte der gesamte Entwicklungsprozess – ein langer Weg voller behördlicher Auflagen, Förderanträge und Detailplanungen“, resümiert Sandra Heerwagen. Doch das Ergebnis zeigt: Coworking im ländlichen Raum hat Zukunft. Während große Unternehmen ihre Mitarbeitenden zurück in urbane Büros holen, bietet der Heimvorteil eine Alternative: arbeiten in ruhiger Umgebung, mit der Möglichkeit, den Kopf freizubekommen und neue Ideen mit den Vorzügen der malerischen Landschaft zu entwickeln.
Der Heimvorteil beweist, dass ländliche Regionen nicht zurückbleiben müssen, wenn es darum geht, durch innovative Konzepte aktiv zur Zukunft der Arbeitswelt beizutragen und neue, mutige Wege zu gehen. Und vielleicht ist es genau dieser Heimvorteil, der aus einer kleinen Idee eine große Bewegung schaffen könnte – vor allem in der Region 38. Übrigens: Die Konzeption orientiert sich an der erfahrenen Kieler Genossenschaft „CoWorkLand“, die als Beraterin unterstützend zur Seite stand und ihre Expertise im Aufbau ländlicher Coworking-Strukturen einbrachte.
jk
2/2025