Auf der Suche nach dem Dahlheim-Effekt

Nach einem Rekordergebnis im Jahr 2021 hat VW Financial Services (VWFS) auch das vergangene Jahr, schreiben wir es ruhig so, mit einem Hammer abgeschlossen: 5,6 Milliarden Euro Gewinn. Bei einem Konzernplus von 22 Milliarden Euro steuerte VWFS so rund 25 Prozent zum Gewinn bei. Dieser Ertragsperle steht seit gut einem Jahr Dr. Christian Dahlheim vor. Der CEO wollte eigentlich Astronaut werden, dieser Traum scheiterte jedoch an seiner Größe von knapp zwei Metern und seiner Brille. Nun also, mit 55, Vorstand von VWFS. Es hätte schlimmer kommen können.
„Chef, du bist auch versorgt?“, fragt freundlich die junge Frau im Vorzimmer von Dr. Dahlheim, als der Chef uns zum Gespräch hereinbittet und wir Wasser und Kaffee, den sie uns bereits angeboten hatte, mit hineinnehmen. Sie als Vorstandsassistentin oder Sekretärin des Vorstands zu beschreiben, käme mir alles nicht über die Tastatur, obwohl es wahrscheinlich korrekt wäre. Aber das würde die Atmosphäre nicht richtig einfangen und vielleicht sogar verfälschen, die hier oben im 5. Stock in der Nordhoffstraße in Braunschweig herrscht.
Über dem Büroschrank im Vorzimmer schwebt eine große pinkfarbene Luftballon-Eins und während wir warten, frage ich, was es damit auf sich hat. Die gab es für den Chef, als sich sein Einstand jährte. Man hat schon von anderen Führungskräften in anderen Unternehmen gehört, die nach einem Jahr, wie das dann immer so schön durchsichtig diplomatisch formuliert wird, „auf Distanz“ zur Belegschaft sind. Dass das Arbeitsklima hier stimmt, hat zweifelsohne auch mit dem unglaublichen Erfolg zu tun, aber vielleicht auch mit dem Chef, was es in einem Zeitfenster von knapp einer Stunde herauszufinden gilt. Wenigstens annäherungsweise. Zum Warm-up erst mal eine lockere Frage: Wie sehen Sie das als gebürtiger Berliner? Das Beste an Braunschweig ist der kurze Weg nach Berlin? Dr. Dahlheim lächelt amüsiert. Und erzählt von seiner mittleren Tochter, die bald 18 wird und gerade von einem Austauschjahr in Vancouver, Kanada, zurück ist. „Sie liebt Braunschweig.“ Und der Vater dreier Töchter mag die Stadt auch. Richtige Größe, kurze Wege, gute Restaurants. „Und bitte – es ist eine Großstadt.“ Das sagt der Mann, der immerhin schon Adressen in Washington D.C. und Los Angeles, München, Paris und Hamburg hatte, ohne einen Anflug von Süffisanz oder Ironie. Eine Großstadt mit einem Vier-Sparten-Theater, das er gern besucht. Am liebsten Oper. Wagners „Götterdämmerung“ hat er schon ein paar Mal gesehen. Karten für die Braunschweiger Inszenierung hat er bereits. Hand aufs Herz: Sind Sie, was man im Theater angelegentlich beobachten kann, ein Gattinnen-Anhängsel? Wieder dieser amüsierte Zug um den Mund: „Ehrlich nicht!“ 

„Papa, you are our favorite superhero“

Dahlheims Büro ist angenehm unspektakulär. Geräumig, aber nicht protzig überdimensioniert. Wenn er nicht konferiert, arbeitet er gern an seinem Stehpult. Darauf steht ein Geschenk seiner Töchter. Ein Bilderrahmen mit lauter kleinen, von den Töchtern selbst zusammengebastelten und aufgeklebten Helden und der handgeschriebenen Zeile „Papa, you are our favorite superhero“.
Warum ich das notiert habe? Weil man alles andere über den CEO Dahlheim googlen kann und weil ich schon viele klinisch reine, fast aseptische Büros kennengelernt habe, wo man sich immer fragt: Wo ist eigentlich der Mensch in dieser zugeknöpften Atmosphäre? Dahlheim hingegen scheint Nahbarkeit nicht als Souveränitäts- oder Autoritätsverlust misszuverstehen.
Bevor wir die Kurve zurück zum CEO der Ertragsperle und seinem Werdegang kriegen, muss aber diese Frage (die ich wirklich ohne jeden strengen Unterton stelle) noch schnell geklärt werden: Was hat es mit dem Mannschaftsfoto von Borussia Mönchengladbach an der Wand auf sich? Ja, er war und ist Fan von Gladbach, das Foto ist aus der Saison 78, als die Borussen die Dortmunder mit einer 12:0 Klatsche vom Platz fegten. Legendär! Seit er in Braunschweig ist, geht er gelegentlich ins Stadion an der Hamburger Straße, zum Basketball eigentlich immer. Dort sitzt er auch im Aufsichtsrat der Braunschweiger Löwen. In Berlin hat er bei BG Zehlendorf selbst gespielt. „Aber auf niedrigem Niveau.“
Der schlanke Mann, der dosiert Triathlon betreibt, „kein Iron Man“, hat in München Physik studiert. Hätte er damals, 1993, auch nur ansatzweise geahnt, mal Vorstand bei Europas größtem automobilem Finanzdienstleister zu werden? Oder hätte es auch sein können, dass er an der Bestimmung der Hubble-Konstante, einem Maß für die Expansion des Universums und seit Jahren einer der spannendsten Herausforderungen der Physik, mitgearbeitet ­hätte? 

Vom Physikstudium profitiert er noch heute

Natürlich nicht, was für eine Frage, sonst wäre er ja Ahnherr geworden. Und so ging es auch erst mal als Ingenieur nach Hamburg, wo er, ganz grob vereinfacht, für Valensina den Punicasaft abgefüllt hat. In Los Angeles machte er seinen Master of Business. Und kehrte dem Ingenieurswesen den Rücken. Geblieben aus dieser Zeit der Physik ist ihm der analytische Blick, die Fähigkeit, aus unglaublich vielen Daten Essenzielles herauszulesen. „Davon profitiere ich heute noch.“ Und gleichzeitig eine gesunde Skepsis gegenüber allem vermeintlich unfehlbarem Zahlenwerk, „weil sich aus Zahlen eben auch nicht alles herauslesen lässt.“ Nachdenken und hinterfragen – das sind wohl Dahlheims vornehmste Arbeitsprinzipien. 
Wir müssen noch mal auf diesen fulminanten Höhenflug von VWFS zu sprechen kommen. Und wagen mal die Frage, wo der CEO seinen ganz persönlichen Anteil an diesem Erfolg sieht, gewissermaßen den Dahlheim-Effekt. Als wir ihn bitten, auf so Standardantworten wie „Ohne mein Team geht gar nichts“, die in solchen Momenten gern gegeben werden, zu verzichten, lacht er herzlich. Überlegt kurz und sagt: „Du musst als CEO die richtigen Leute auswählen, die Führungsqualität haben, die das operative Geschäft managen.“ Er schaut beinahe ein wenig entschuldigend, aber es sei nun mal so: „Letztlich kommt es eben auf das Team an.“ Reduziert man alles unternehmerische Tun auf den Nukleus, dann ist es dieses: Ein Geschäft zwischen Menschen. Da muss der Umgang untereinander vernünftig sein, konstruktiv, sachlich. Darauf zu achten, das ist vielleicht der Dahlheim-Effekt.

Vom Erfolg haben die Mitarbeiter über Boni profitiert

Man darf das wohl ruhig so sagen: VWFS hat unweigerlich auch von den Krisen der letzten Jahre profitiert. Auf einen Nenner gebracht: Aufgrund der Zuliefererkrise (Stichwort Halbleiter) hakte die Neuwagenproduktion, und der Gebrauchtwagenmarkt boomte, die Preise gingen, salopp formuliert, durch die Decke. Wird man da als Krisengewinner schon mal angeweht von einem schlechten Gewissen, oder ist das emotionaler Quatsch, den man sich im Business nicht erlauben kann? Dahlheim sagt, diese Frage als emotionalen Quatsch abzutun, würde er so nicht formulieren. Aber zwei Dinge müsse man dazu geraderücken: Die Zahl der neuen Finanzierungs- und Leasingverträge stagnierte 2022 bei 3,4 Millionen. Und Volkswagen blieb im Autobau halbleiterbedingt hinter den eigenen ­Erwartungen zurück. Ein weiterer Punkt: „Wir haben den Erfolg über Boni in die Fläche gestreut, die Mitarbeiter haben profitiert.“ Insofern: Kein Grund für ein schlechtes Gewissen. 
„Ein Autobauer baut nun mal Autos.“
Wo wir gerade beim Gewissen sind: Autofahren ist in Verruf geraten, jedenfalls in manchen Kreisen. Sind Klimakleber und Fantasten, die VW gern als Straßenbahnbauer sähen, bei ­Dahlheims am Abendbrottisch mit drei Töchtern und einer Ehefrau, die Politik­lehrerin ist, ein Thema? „Natürlich diskutieren wir in der Familie über Klimawandel und Klimakleber, auch über Gleichberechtigung und Feminismus“, sagt Dahlheim. Aber ein Autobauer baut nun mal Autos. Und keine Straßenbahnen. Deshalb müsse es darum gehen, die Bemühungen zu forcieren, CO2-neutral zu produzieren und Mobilität zunehmend CO2-neutral zu gestalten. Den Aktivisten der letzten Generation geht das nicht weit genug. Der Kanzler hat ihre Aktionen mit dem wenig verständigen Adjektiv „bekloppt“ abgekanzelt. „Eine falsche Aussage“, sagt ­Dahlheim, der durchaus Verständnis für die Anliegen der Aktivisten hat. Aber er macht gelegentlich bei Jugendlichen auch eine scheinbare Gewissenszerreißprobe aus, wenn sie auf der einen Seite zum Kleber greifen, um andererseits für 50 Euro nach Mallorca zu fliegen. 

Die Menschen sind an Fortbewegung interessiert

Und dennoch gibt es auch viele Jugendliche, die gar kein Auto mehr haben wollen. Ein Problem oder eher die Zukunft? Dass das Auto nicht mehr zum millionenfachen Statussymbol taugt wie in den jungen Jahren der Bundesrepublik, „das finde ich gut“, sagt Dahlheim und fügt hinzu: „Die Leute sind nicht mehr so an Besitz, sondern vielmehr an Fortbewegung interessiert.“ Es gehe darum, Fahrzeuge zu nutzen. Beim von VWFS angebotenen Auto-Abo gehe das übrigens auch mal für nur ein paar Wochen oder Monate. Und Leasingverträge für E-Fahrräder hat es auch im Portfolio. 
Und dennoch: Individuelle Mobilität habe gerade in der Coronazeit noch einmal einen Schub erfahren, das Auto wurde gewissermaßen als Schutzraum geschätzt. Zudem: Entgegen mancherlei Behauptungen lebten wir nicht in einem Land der Autohasser. Und auch junge Menschen kehrten nach der Sturm- und Drangphase meist wieder zur individuellen Mobilität zurück, schätzten als junge Familie die Geräumigkeit eines SUV. Dennoch sei eines klar: „Die CO2-Emissionen sind ein globales Problem. Wir sollten vermeiden, zum Beispiel Indien mit 10 Millionen Fahrzeugen zu überschwemmen.“ Dahlheim selbst, der keine Kindheit als Autonarr mit stundenlangen Matchboxauto-Spielereien oder Autokennzeichen-Wettbewerben hinter sich hat, ist derzeit im elektrischen Porsche Taycan unterwegs, demnächst steigt er auf einen Golf GTI um.
Nun drängt die Zeit allmählich, die Fotografin möchte auch noch zum Zuge kommen. Rasch werden aus den Büros ein paar Mitarbeiter an den Kicker gebeten. „Wie! Ich?“, sagt eine junge Frau ein bisschen überrumpelt und gesellt sich dann „na klaro“ an die Seite des Chefs. Als der 0:2 zurückliegt, frotzelt sein Gegenüber: „Wann wollt ihr denn mal anfangen?“ 

„Es gibt keinen normalen Tag“

Zwischen den munteren Kick lässt sich gut noch die Frage aufs Spielfeld flanken, wie ein normaler Tag im Leben des Christian D. aussieht. „Es gibt keinen normalen Tag.“ Aber doch so viel: 6:30 Uhr die Töchter wecken. Vorher hat er schon Sport gemacht, fünf Mal die Woche ist sein Ziel. Ebenso vor 20 Uhr zum Abendbrot zu Hause zu sein. Was nicht immer gelingt, weil er im Schnitt eine Woche im Monat international unterwegs ist. Schließlich ist VWFS in 47 Ländern unternehmerisch aktiv. Ob er auch mal den Einkauf erledigt oder zum Abendbrot einen Strammen Max serviert, hätten wir noch fragen wollen. Wahrscheinlich ist es. Denn Dahlheim ist ein geerdeter Typ, der es zwar irgendwie verlockend fände, den Weltraum doch noch zu erkunden, private Raketenreisen hält er aber für „ziemlichen Quatsch“.
suja
5/2023