Fokus

Frühstart

Damit Unternehmen dringend benötigte Fachkräfte ausbilden können, müssen die schulischen Grundlagen stimmen. Die IHK Berlin gibt hier wichtige Impulse.
Die Bildungsqualität in Berlin lässt zu wünschen übrig. Wiederholt deckten in den vergangenen Jahren bundesweite Vergleichsstudien gravierende Mängel beim Lernniveau der Schülerschaft aus der Hauptstadt auf. Gerade in zentralen Fächern wie Mathematik, Rechtschreibung oder Lesen schneiden junge Menschen aus Berlin unterdurchschnittlich ab. Bedenklich stimmen auch folgende Zahlen: Fast sieben Prozent der Jugendlichen verlassen die Schule ohne Abschluss, gleichzeitig blieben 2022 rund 1.500 Ausbildungsstellen unbesetzt.
Wie sich diese Daten auf Berliner Ausbildungsbetriebe auswirken, zeigt das Beispiel der Ehrig GmbH. Für das Charlottenburger Büro-Systemhaus ist die duale Ausbildung ein wichtiges Instrument, um dem Fachkräftemangel im IT-Bereich frühzeitig zu begegnen. „Wir merken, dass es jedes Jahr schwieriger wird, unsere Ausbildungsplätze zu besetzen“, beschreibt Kerstin Ehrig-Wettstaedt die Situation. „Aus unserer Sicht fehlt etwa die Vorbereitung auf das Berufsleben an den Schulen, und damit haben die Jugendlichen oftmals keine Vorstellung, wie es nach der Schule weitergehen soll“, fügt die Geschäftsführerin der Ehrig GmbH hinzu.
Darüber hinaus beobachtet die Unternehmerin, dass sich das Allgemeinwissen und die Qualität der Bewerbungen junger Menschen verschlechtern. „Die Bewerbungsschreiben sind zum Teil sehr kurz oder unvollständig, beinhalten Rechtschreib- und Grammatikfehler, ­falsche Ansprechpartner oder die falsche Berufsbezeichnung, auch auf das Vorstellungsgespräch bereiten sich die Bewerber oft nicht vor“, wundert sich Kerstin Ehrig-Wettstaedt. „Entsprechend wünschen wir uns für die Berliner Schulen die notwendigen Kapazitäten und Mittel, um die Allgemeinbildung wieder zu stärken und die Berufsorientierung als wichtiges Instrument für das spätere Berufsleben wirklich zu erkennen.“
Diesen Wunsch teilt sie mit vielen anderen Berliner Ausbildungsbetrieben. Grundsätzlich stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich Bildung insgesamt wirksamer gestalten lässt. Klar muss sein: Versäumnisse von heute schaffen die Probleme von morgen. Auf diese Weise werden Defizite in der Bildungskette auf die nächste Bildungsstufe von der Kita in die Schule und von der Schule in die Ausbildungsbetriebe weitergereicht. „Aus diesem Grund ist es so wichtig, die komplette Bildungskette in den Blick zu nehmen“, betont Stefan Spieker. „Im Kindergarten müssen vor allem sozial-emotionale und sprachliche Kompetenzen gefördert werden, auf deren Basis eine gelingende Bildungsteilhabe in den Schulen aufgebaut und entwickelt werden kann“, so der IHK-Vizepräsident weiter. „Berufsorientierung in der Schule ist wiederum eine wesentliche Voraussetzung für Teilhabe am Arbeitsmarkt.“ Ein Schritt baut also auf dem nächsten auf. „Nur wenn man die gesamte Bildungskette in den Blick nimmt und weiterentwickelt, verbessert man die Bildungsqualität nachhaltig und sichert den Fachkräftebedarf von morgen“, ist Stefan Spieker überzeugt.

Zukunftsforum der IHK

Mit diesem Ziel vor Augen hat die IHK Berlin gemeinsam mit einem Team aus Expertinnen und Experten bereits im vergangenen Jahr den Businessplan „Wirksame Bildung“ mit einer Reihe von konkret umsetzbaren Lösungsvorschlägen zur Verbesserung der Berliner Bildungsinfrastruktur erarbeitet. Für neue Impulse bei diesem Thema sorgt auch das Berliner Zukunftsforum „Wirksame Bildung 2023“. Anlässlich der KMK-Präsidentschaft Berlins in diesem Jahr veranstaltet die IHK Berlin das Zukunftsforum, um Innovatoren aus Berliner öffentlichen und privaten Schulen, der frühkindlichen Bildung und der Unternehmerschaft in ihrem Engagement zu unterstützen, den Dialog mit der Politik zu fördern und Bildungsakteure miteinander zu vernetzen.
In den Fokus rückt auch zunehmend die Forderung, eine verlässliche Gesamtstrategie für die schulische Berufsorientierung zu erarbeiten. Gerade eine erfolgreiche Berufsorientierung am Lernort Schule hilft dabei, mehr Jugendliche für eine berufliche Ausbildung zu gewinnen, die Ausbildungsangebote zu erweitern und das Matching zwischen Jugendlichen und Unternehmen zu verbessern. „Dafür sind Kontakte und Netzwerke zwischen Schulen und Unternehmen unverzichtbar“, weiß Stefan Spieker. „Aus diesem Grund haben wir als IHK gemeinsam mit Teach First und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in diesem Jahr ein Pilotprojekt ins Leben gerufen.“ Ziel ist es, an einer ausgewählten Pilotschule eine verbindliche Strategie für Berufsorientierung zu erarbeiten. Mit der Unterstützung regionaler Unternehmensnetzwerke, der Expertise der Wirtschaftspartner und den qualifizierten Fellows von Teach First setzen die Schulen diese Strategie um. Es ist nicht das einzige von der IHK Berlin im Rahmen ihrer Ausbildungsoffensive begleitete und unterstützte Projekt. Neue Impulse für die berufliche Bildung liefern auch die beiden innovativen Projekte Praktikumswoche und Ausbildungsbotschafter.
Die Praktikumswoche bietet Jugendlichen ab 15 Jahren die Möglichkeit, in den drei Wochen vor und in den Sommerferien mehrere Unternehmen und Berufe kennenzulernen. Berliner Unternehmen können so auf sich aufmerksam machen und bereits frühzeitig Talente an sich binden. „Wir vermuten, dass wir durch die niedrige Hürde von nur einem Praktikumstag ohne weitere Verpflichtungen auch Kandidatinnen und Kandidaten erreichen, die sonst nicht auf uns aufmerksam geworden wären, und wir somit noch einen weiteren Recruiting-Kanal nutzen können“, sagt Dieter Mießen von der Frisch & Faust Tiefbau GmbH.
Das Pankower Unternehmen nutzt auf der Suche nach passenden Auszubildenden viele weitere Angebote der Berufsorientierung. „Ob auf der großen Ausbildungsmesse, der schul-eigenen Praktikums- und Ausbildungsbörse, bei einer Betriebserkundung, unserem alljährlichen Baustellentag oder im Rahmen der Vorstellung mit Mitmachaktionen im WAT-Unterricht: Unser Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler zum Ende ihrer schulischen Laufbahn den Namen Frisch & Faust Tiefbau schon mehrfach gehört haben“, fügt der kaufmännische Leiter des Bauunternehmens hinzu. „Wir möchten, dass wir in den Köpfen erscheinen, wenn es am Ende um die Frage der Ausbildung geht.“

Projekt Ausbildungsbotschafter

Bei dem anderen neu ins Leben gerufenen Projekt Ausbildungsbotschafter steht dagegen der Dialog zwischen Schülerinnen und Schüler sowie Auszubildenden auf Augenhöhe im Vordergrund. Ausbildungsbotschafterinnen und Ausbildungsbotschafter berichten über ihren Weg in die Ausbildung und stellen ihren Arbeitsalltag sowie mögliche Karriereoptionen vor. „So einen Einblick in die Arbeitswelt hätte ich mir als Schüler auch gewünscht“, erzählt Joshua Noel Mohr. Derzeit absolviert der engagierte Ausbildungsbotschafter eine Ausbildung zum Kaufmann für Groß- und Außenhandelsmanagement bei der Oskar Böttcher GmbH & Co. KG. Unter dem Markennamen Obeta betreibt das Berliner Traditionsunternehmen deutschlandweit mehr als 60 Filialen im Elektrogroßhandel.

Starke Lernkurve in Selbstständigkeit

„Bis jetzt habe ich bei meinen Auftritten sowohl von den Lehrkräften als auch von den Schülerinnen und Schülern ausschließlich positives Feed-back erhalten“, freut sich der Azubi. Auch Sara Lehmann schätzt die vielen Vorteile des Projekts. „Unsere Auszubildenden, die als Ausbildungsbotschafter in die Schulen gehen, haben eine starke Lernkurve in ihrer Präsentationskompetenz, ihrer Selbstständigkeit und ihren kommunikativen Fähigkeiten“, unterstreicht die Ausbildungskoordinatorin bei Obeta. „Zusätzlich wird auch die Loyalität zum Unternehmen gestärkt, da sie sich detailliert mit den Benefits unseres Unternehmens befassen“, ergänzt Lehmann. Gleichzeitig beobachtet das Unternehmen den positiven Effekt, schon bei jungen Menschen und deren Kommunikatoren wie Eltern, Lehrkräften oder Freunden als fördernder Arbeitgeber und Ausbildungsbetrieb mit 90 Auszubildenden wahrgenommen zu werden. „Das ist bei der großen Auswahl an attraktiven Arbeitgebern ein großer Wettbewerbsvorteil“, fügt die Ausbildungskoordinatorin hinzu.
Es ist also mehr als deutlich: Im Wettbewerb um junge Talente haben diejenigen Unternehmen die Nase vorn, die sich in der Berufsorientierung engagieren. Angesichts des drohenden Fachkräfteengpasses geht es dabei mehr denn je darum, leistungsstarke wie auch leistungsschwache junge Menschen von den Vorzügen der dualen Ausbildung zu überzeugen.  „Ich glaube, dass vielen Schülerinnen und Schülern die Attraktivität der dualen Ausbildung nicht klar ist“, staunt Uta Bendixen, langjährige Ausbildungsleiterin beim Medienunternehmen Axel Springer SE, immer wieder. „Warum nicht erst einmal eine gute, fundierte Ausbildung mit Praxisbezug machen, um die Unternehmenswelt kennenzulernen?“ Recht hat die Expertin!
Von Jens Bartels