Veränderungswillen nutzen
Warum aber ist eine solche Krise in der Sichtweise Churchills auch eine nutzbare Chance? Weil die Krisenwahrnehmung die Bereitschaft zu Veränderungen verstärkt, die in den guten Zeiten gering ausgeprägt ist. Deshalb also könnte die neue Bundesregierung vielleicht jetzt ein offenes Reformfenster für Veränderungen vorfinden, das es in den letzten Legislaturperioden nicht gab. Eine aussichtsreiche Reformstrategie benötigt eine nüchterne Diagnose der Problemlage. Zum Thema Standort bietet hier der Anfang des Jahres neu berechnete Länderindex Familienunternehmen aufschlussreiche Hinweise. Der Index, der alle zwei Jahre vom ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen berechnet wird, vergleicht die Standortqualitäten von 21 Industrieländern. Er stellt dabei besonders auf die Standortanforderungen aus Sicht großer Familienunternehmen ab.
Deutschland im internationalen Vergleich
Im neuen Ranking (rechts im Kasten) liegt Deutschland nur auf Rang 17, ein Abstieg um sechs Ränge gegenüber der Erstberechnung vor knapp zwei Jahrzehnten. Dass EU-Staaten wie Dänemark und Schweden erstklassige Standortbedingungen bieten können, ist dabei eine wichtige und ermutigende Botschaft. Dies zeigt, dass ein Land auch unter von der EU gesetzten Rahmenbedingungen eine erfolgreiche Standortpflege betreiben kann. Deutschlands schlechter Rang kann nicht auf eine einzige Ursache zurückgeführt werden. Eine Zeitlang herrschte in der Politik die Einschätzung vor, dass der deutsche Standort einfach nur bei den Energiepreisen Pech gehabt hat. Der Länderindex Familienunternehmen widerlegt diese eindimensionale Sichtweise. Deutschlands Standortdimensionen haben sich über die Jahre in der Breite verschlechtert. Wo liegen also in der Gesamtbetrachtung die nur noch wenigen Stärken und die leider häufigeren Schwächen Deutschlands?
Deutschlands Stärken und Schwächen
Die am besten bewertete Standortdimension Deutschlands bleibt mit Abstand der Bereich Finanzierung, in dem Deutschland noch die Spitzenposition einnimmt (Platzierungen im Kasten rechts). Das liegt unter anderem an den herausragenden Resultaten im Bereich des Kredit-Ratings und der im internationalen Vergleich geringen Verschuldung der privaten und öffentlichen Haushalte. Vergleichsweise gut, aber nicht exzellent, schneidet Deutschland auch im Subindex Infrastruktur und Institutionen ab. Im Bereich Energie sind hohe Preise zwar ein Handicap, dem steht aber eine hohe Versorgungssicherheit gegenüber, so dass die Gesamtnote für das Themenfeld Energie passabel ist. Ausgesprochen schwach sind dagegen die Ergebnisse in den Bereichen Steuern sowie Arbeitskosten, Produktivität, Humankapital und Regulierung. Auf steuerlichem Gebiet ist Deutschland im internationalen Vergleich immer mehr zum Hochsteuerland geworden. Beim Faktor Arbeit nagen eine erneut rückläufige Bildungsperformance, höhere Arbeitskosten und ein geringer Produktivitätsfortschritt an der Leistungsfähigkeit deutscher Betriebsstätten. Noch weiter verschlechtert im Zweijahresvergleich hat sich Deutschlands Position zudem im Bereich von Regulierung und Bürokratielasten.
Drei Schlussfolgerungen
Damit macht der neue Länderindex Familienunternehmen drei Dinge deutlich, welche die neue Bundesregierung in ihrer Reformstrategie berücksichtigen sollte. Erstens muss das jetzt notwendige Reformprogramm breit ansetzen. Eine Subventionierung des Industriestrompreises würde wenig an den insgesamt schwachen Standortbedingungen ändern. Ein großes Reformpaket ist nötig, das entbürokratisiert, Kosten senkt, Infrastruktur verbessert, steuerliche Wettbewerbsfähigkeit wieder herstellt und das Wachstum der Arbeitskosten dämpft.
Von den Besten lernen
Zweitens sollte sich Deutschland besonders an den erfolgreichen EU-Staaten orientieren. Der Ranking-Primus Dänemark macht vieles richtig: Das Land verbindet einen leistungsfähigen Sozialstaat mit einer nur geringen Regulierung des Arbeitsmarkts und fährt bei seiner Klimapolitik einen stark marktorientierten und technologieneutralen Kurs. Das bedeutet, dass die dänische Klimapolitik stärker auf den CO2- Preis setzt, den Unternehmen bei der Technologiesteuerung aber weniger Vorschriften macht. Für Furore sorgt Dänemark ganz aktuell auch in der Rentenpolitik. Mit breiter Zustimmung inklusive Stimmen der Oppositionsparteien hat die Regierung soeben das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre ab dem Jahr 2040 angehoben. Damit geht das Land einen Weg in der Anpassung des Rentenalters an die steigende Lebenserwartung, der hierzulande seit Jahren vergeblich von Experten empfohlen wurde. Drittens muss der deutsche Staat nun in seinem Ausgabeverhalten Prioritäten setzen. Die Grundgesetzänderung vom März hat den Weg für hohe schuldenfinanzierte Zusatzausgaben frei gemacht. Dieser Ansatz wird aber nur dann die Infrastruktur und Leistungsfähigkeit des Staates nachhaltig verbessern, wenn das Wachstum von Personal- und Sozialausgaben in den Haushalten von Bund, Ländern und Kommunen eingedämmt werden kann.
Neue Regierung lässt hoffen
Der Start der neuen Bundesregierung ist vor dem Hintergrund dieser Notwendigkeiten mit dem bekannten Bild des halb gefüllten Glases gut beschrieben. Zu kritisieren ist im Hinblick auf die leere Hälfte des Glases vor allem eine bislang nicht erkennbare Reformbereitschaft für die sozialen Sicherungssysteme. Zwar werden nun Reformkommissionen für Rente, Pflege und Krankenversicherung eingesetzt, es gibt aber keinerlei Signale in Richtung mutiger Reformen etwa nach dem oben genannten Vorbild Dänemarks. Bislang fehlt es der Politik auf dem Gebiet der Sozialstaatsreformen am Mut, die Öffentlichkeit auf eine Abkehr von der Politik der ständigen Leistungsausweitungen vorzubereiten. Aber auch die gefüllte Hälfte des Glases kann sich für die ersten Weichenstellungen sehen lassen: Beim Bürokratieabbau sind plötzlich Dinge möglich wie die Abschaffung des deutschen Lieferkettengesetzes, die vorher noch als Tabu galten. Das Problem zu geringer Arbeitsanreize wird durch Korrekturen am Bürgergeld, Steueranreize für Überstunden und für längere freiwillige Arbeit nach der Regelaltersgrenze adressiert. In der Steuerpolitik soll neben den unmittelbar geplanten Verbesserungen bei den Abschreibungen noch in dieser Legislaturperiode der Einstieg in eine Unternehmensteuerreform mit niedrigeren Sätzen eingeleitet werden.
Der Start der neuen Regierung lässt also hoffen, auch wenn das nur der Anfang sein kann. Angesichts des großen Reformstaus ist es unabdingbar, dass Deutschlands Gesellschaft jetzt Durchhaltevermögen für eine längere Phase der Strukturreformen beweist. Letztlich geht es um die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens, das ohne eine neue Wachstumsdynamik die Erwartungen der Menschen an den Staat nicht mehr wird erfüllen können.
Prof. Dr. Friedrich Heinemann