Unerschlossenes Potenzial
In Deutschland gibt es etwa 3,1 Millionen Schwerbehinderte im erwerbsfähigen Alter, doch ein großer Teil dieser potenziellen Arbeitskräfte ist bislang nicht in den Arbeitsmarkt integriert. 2023 waren im Jahresdurchschnitt laut der Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit rund 166.000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet. Diese Zahl verdeutlicht das ungenutzte Potenzial, das Unternehmen nutzen könnten, um die wachsende Fachkräftelücke zu schließen.
Überdurchschnittlich gut qualifiziert
Ein oft unterschätzter Faktor: Menschen mit Behinderungen sind häufig überdurchschnittlich gut qualifiziert. So hatten im Jahresdurchschnitt 2023 etwa 53 Prozent der arbeitslosen Menschen mit Schwerbehinderungen einen Berufs- oder Hochschulabschluss – im Vergleich zu 42 Prozent bei arbeitslosen Menschen ohne Behinderung.
Fachkräftelücke durch Inklusion schließen
Während viele Unternehmen den Blick auf ausländische Fachkräfte richten, wird das Potenzial der Inklusion in der Öffentlichkeit noch zu wenig beachtet. Dabei bietet die Integration von Menschen mit Behinderungen eine klare Win-win-Situation: Der Fachkräftemangel wird verringert, und Menschen mit Behinderungen erhalten bessere Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt. Mit geeigneten Inklusionsmaßnahmen, wie technischen Hilfsmitteln oder flexiblen Arbeitsmodellen, könnten Unternehmen diese Menschen stärker einbinden und die Fachkräftelücke schließen. Schon kleine Anpassungen, wie flexible Arbeitszeiten oder Homeoffice, haben oft große Wirkung. Zudem gibt es zahlreiche Fördermöglichkeiten für Unternehmen und Beschäftigte. Darüber hinaus kann ein grundsätzlich auf Inklusion ausgerichteter Arbeitsmarkt die Fachkräftesituation entspannen. So können Beschäftigte, die durch eine Krankheit oder einen Unfall Behinderungen davontragen, gut integriert weiterhin einen wichtigen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten. Zumal die meisten Behinderungen erst im Lauf des Lebens erworben werden, oft durch Krankheiten, die sich im Alter oder über die Zeit entwickeln – nur drei Prozent sind angeboren.
Neue Staffelbeträge und ihre Auswirkungen auf kleine und große Unternehmen
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit mindestens 20 Arbeitsplätzen müssen mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Erfüllen sie diese Beschäftigungspflicht nicht, zahlen sie eine sogenannte Ausgleichsabgabe.
Seit Beginn dieses Jahres gilt ein neuer Staffelbetrag von 720 Euro pro Monat pro unbesetztem Pflichtarbeitsplatz für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber mit 60 und mehr Arbeitsplätzen, die keinen einzigen Pflichtarbeitsplatz besetzen (sogenannte Nicht-Erfüller). Für kleine Unternehmen gelten reduzierte Beträge (210 bzw. 410 Euro). Der neue Staffelbetrag gilt ab dem Anzeigejahr 2024 und ist erstmalig zum 31. März 2025 fällig.
Die neue Nicht-Erfüller-Regel trifft dabei vor allem kleine Unternehmen. Es wundert allerdings wenig, dass große Betriebe in Sachen Inklusion besser abschneiden als kleine: Größere Unternehmen haben mehr Ressourcen – finanziell wie personell –, um Arbeitsplätze von schwerbehinderten Beschäftigten anzupassen oder Mitarbeitern, die ihre ursprünglichen Aufgaben aufgrund einer im Lauf der Beschäftigung auftretenden Einschränkung nicht mehr ausüben können, eine neue Aufgabe innerhalb des Unternehmens zu geben. Zudem haben große Unternehmen häufig ein besseres Know-how in Sachen Fördermöglichkeiten als kleine – die bundesweiten Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber (EAAs) zum Beispiel unterstützen Arbeitgeber bei der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen.
Gut informierten Unternehmen gelingt es häufiger, gemeinsam mit den Betroffenen passende Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, ihre Beschäftigten zu unterstützen, stärkenorientiert einzusetzen und somit langfristig qualifizierte Fachkräfte zu halten oder neu einzustellen.
Branchen mit Nachholbedarf
Nicht nur Unternehmen unterschiedlicher Größe, auch verschiedene Branchen trifft die Nicht-Erfüller-Regel unterschiedlich stark (Grafik): Besonders das Gastgewerbe (44 Prozent), die Land- und Forstwirtschaft (42 Prozent) sowie das Baugewerbe (37 Prozent) erfüllen die Quote nicht, was für diese Branchen einen besonders großen Handlungsbedarf bedeutet. Auch hier könnten gezielte Informationen und Maßnahmen das Bewusstsein für Inklusion stärken und entsprechende Unterstützung bieten.
Inklusion als Schlüssel zur Fachkräftesicherung: Chancen und Herausforderungen
Die verstärkte Inklusion von Menschen mit Behinderungen bietet eine vielversprechende Lösung gegen den Fachkräftemangel. Trotz ihrer überdurchschnittlich guten Qualifikationen sind viele jedoch noch nicht ausreichend in den Arbeitsmarkt integriert. Während große Unternehmen bereits Fortschritte gemacht haben, besteht insbesondere in kleinen Betrieben und bestimmten Branchen noch Handlungsbedarf.
Ob die verschärften Regeln für Nicht-Erfüller den Arbeitsmarkt inklusiver gestalten, bleibt abzuwarten. Höhere Ausgleichsabgaben allein schaffen keine inklusivere Unternehmenskultur. Daher ist es wichtig, neben finanziellen Anreizen auch umfassende Informations- und Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen bereitzustellen und die Qualifikation von schwerbehinderten Menschen weiter zu fördern.
Eva Eisch, Wissenschaftliche Referentin im Projekt REHADAT