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die WIRTSCHAFT | Das Magazin
Nr. 6337738
9 minLesezeit
Leitartikel
Mit Inklusion Berührungsängste überwinden
Es war im Jahr 2011, als die Oberschwäbischen Werkstätten (OWB) in Bad Saulgau ihren siebten Werkstattbetrieb für Menschen mit Behinderungen eröffneten. „Nur wenige Meter von uns die Straße runter“, sagt Peter Widmann, Leiter der gewerblichen Ausbildung bei der KNOLL Maschinenbau GmbH.
Zur Eröffnung war auch das KNOLL-Management eingeladen. „Unser Geschäftsführer Matthias Knoll, unser damaliger Produktionsleiter und ich sind hingegangen“, erinnert sich Widmann. Und er muss gestehen: „Wir hatten totale Berührungsängste.“ Er und sein Kollege hätten „einfach nicht gewusst, wie wir mit den Menschen mit Handicap umgehen sollten“.
Bei Geschäftsführer Knoll war das anders. Es habe sich herausgestellt, dass er manche der „OWBler“ bereits „vom Fußballplatz her“ kannte, erzählt Widmann. „Und während wir völlig verunsichert hinten dran standen, hat er uns gezeigt, wie das geht, ganz locker und souverän.“ Noch Jahre später hätten sie über diese Situation lachen müssen. Entstanden ist aus dem Eröffnungsbesuch eine Kooperation, die bis heute gelebt wird – und für die KNOLL später sogar im Bundeswirtschaftsministerium ausgezeichnet wurde. Doch dazu später.
Auf Initiative der OWB hatten die Partner einen Austausch begonnen. Die OWBler lernten drei Tage lang die Azubi-Werkstatt von KNOLL kennen, im Gegenzug ging ein Ausbildungsjahrgang der rund 100 KNOLL-Azubis drei Tage in die OWB-Werkstatt. Anfangs habe es einen Eins-zu-eins-Austausch gegeben, berichtet Ausbildungsmeisterin Corinna Arnold, die die Kooperation bei KNOLL betreut. Doch das sei betreuungsintensiv gewesen: „Wir mussten zum Beispiel Medikamentenpläne beachten.“ Mittlerweile kommen die OWBler in Gruppen. Vier von ihnen sind bei dem mittelständischen Familienunternehmen, das Förderanlagen, Filteranlagen und Pumpen für die Metallbearbeitung herstellt, mittlerweile fest angestellt, etwa als Staplerfahrer oder für einfachere Arbeiten wie das Abkleben in der Lackiererei. „Nicht immer funktioniert das“, weiß Widmann. Eine taubstumme Mitarbeiterin zum Beispiel hatte sich einfach nicht wohlgefühlt – „obwohl sie einen ebenfalls taubstummen Kollegen hatte“. Einem anderen hatte Widmann sagen müssen, dass es nicht gehe. „Das ist mir sehr schwer gefallen“, sagt er.
Die Auszeichnung Ausbildungs- Ass zeigt uns, dass wir das Richtige tun. - Peter Widmann
Der „Perspektivenwechsel“, wie OWB das Austauschprojekt getauft hat, ist für Widmann jedenfalls „eine Erfolgsgeschichte“. Seien die Azubis anfangs skeptisch gewesen – „Was soll ich denn dort?“ –, komme doch jeder verändert zurück. „Hin und wieder muss sogar jemand abbrechen, weil er von einem Schicksal so mitgenommen ist.“ Auch das sei ok. Umgekehrt gehörten die Mitarbeiter mit Beeinträchtigungen heute ganz selbstverständlich zum Team. „Anfangs hatten Kollegen manchmal noch komisch geschaut“, erinnert sich Corinna Arnold. Heute geht man ganz selbstverständlich zusammen essen, hilft sich gegenseitig. Und erlebt besondere Momente: Einmal sei jemand aus der Kantine allein zum Arbeitsplatz zurückgegangen, erzählt Widmann, dort aber nie angekommen. Letztlich habe ihn ein Schweißer vom anderen Ende des gut 1.100 Mitarbeiter zählenden Betriebs in die Azubi-Werkstatt zurückgebracht, so Arnold: „Das war in seiner Mittagspause.“ Für den „Perspektivenwechsel“ wurde KNOLL 2015 als bester Ausbilder Deutschlands mit dem Preis „Ausbildungs-Ass“ geehrt. „Da sind wir ins Bundeswirtschaftsministerium nach Berlin gefahren“, erinnert sich Widmann, „und haben den ersten Platz gemacht, vor Großunternehmen wie Hella und Gabor“. Es war offenbar ein sehr emotionaler Moment: „Unser Geschäftsführer hat gar kein Wort mehr herausgebracht.“ Stolz ist man im Unternehmen darauf noch heute: „Es zeigt uns, dass wir das Richtige tun“, sagt Widmann.
Utz beschäftigt Lagerarbeiter mit Down Syndrom
Nicht minder emotional klingt die Geschichte von Simon Maucher, die Matthias Utz erzählt, Geschäftsführer des Lebensmittelgroßhändlers Utz GmbH & Co. KG in Ochsenhausen. Maucher nimmt hier seit Mai 2022 das Leergut an, das die Fahrer auf ihren täglichen Auslieferungstouren ins Zentrallager zurückbringen. Der 34 Jährige mit Down-Syndrom ordnet die Retouren sortenrein auf Paletten. „Das macht er wirklich gut“, sagt Utz.
Wie es dazu kam? Utz kennt Maucher schon „seit der fünften Klasse“. Denn mit dessen älterem Bruder ist er damals zur Schule gegangen und noch heute befreundet. Dadurch bekam er immer wieder mit, „was der Simon grade so macht“. Fürs Kugelschreibermontieren in der Behindertenwerkstatt sei er zu fit gewesen – „das hat ihn unterfordert und unglücklich gemacht“ –, aber „auf dem regulären Arbeitsmarkt war es schwierig“. Schon länger habe er sich gedacht: „Wenn bei uns mal die passende Stelle frei wird, dann probieren wir es.“ Nach einem anfänglichen Praktikum ist Maucher nun fest angestellt, mit unbefristetem Vertrag und durch Zuschüsse mit dem gleichen Gehalt wie die Kollegen. „Er kann aber nicht die gleiche Leistung bringen“, sagt Utz, brauche bei komplexeren Dingen Unterstützung. Dafür erhält das Unternehmen – nach Vermittlung durch den Integrationsfachdienst (IFD) – aktuell einen Lohnkostenzuschuss von der Arbeitsagentur, der das Leistungsdefizit ausgleicht. Die Zuschüsse werden für zwei bis drei Jahre festgelegt und dann erneut geprüft. „Jemand wie Simon dürfte aber auf Dauer Zuschüsse bekommen“, glaubt Utz. Die seien auch wichtig. Die Alternative wäre ein geringerer Lohn. „Doch das wollen wir nicht.“
Wobei das Ganze für Utz eine weitere Komponente hat: „Neben seiner Arbeit tut Simon der Firma auch als Mensch gut“, sagt er. „Er ist unglaublich stolz, bei uns zu arbeiten und wirkt glücklich. Jeder kennt ihn, und jeder mag ihn.“ Utz berichtet etwa von einem LKW-Fahrer, mit dem Simon im Lager zusammenarbeitete. Die beiden hätten eine richtige Freundschaft entwickelt. „Einmal hat er mir erzählt, wie ihn Simons Lebenseinstellung beeindruckt und was er alles von ihm gelernt habe.“
Wir sind uns unserer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. - Thomas Möller
Hätte Utz Simon Maucher auch eingestellt, wenn er kein Bekannter gewesen wäre? „Wir hatten das vorher schon mal versucht, aber der Bewerber war leider nicht fit genug“, sagt er. Ein mögliches Hemmnis sei sicherlich auch der erweiterte Kündigungsschutz. Denn behinderte Mitarbeiter können nur mit Zustimmung des Integrationsamtes wieder gekündigt werden – die in der Praxis allerdings in vier von fünf Fällen erfolgt. Dennoch sollte man als Arbeitgeber „bedenkenlos überzeugt“ sein, findet Utz. Praktika oder ein anfangs befristeter Vertrag könnten mehr Sicherheit geben. „Bei Simon hatte ich aber ein so gutes Gefühl, dass ich da gar nicht drüber nachgedacht habe.“
Wertvolle Hilfe von der EAA
Auch die Klöber GmbH aus Owingen hat einen „Mitarbeiter mit Handicap“ eingestellt, wie Thomas Möller, Geschäftsführer des Büromöbelherstellers, sagt. Dieser baut Mechaniken für Bürodrehstühle zusammen – „ein immer gleicher Prozess, der eine feste Struktur gibt“, so Möller.
Der Klöber-Chef betrachtet das Thema aus einer beiderseitigen Perspektive: „Wir müssen Vertrauen in die Mitarbeitenden haben, sie aber auch in uns.“ Im Vorfeld gab es hier durchaus Fragen: „Wie integrieren wir den Mitarbeiter
ins Team, wie kommt sein Team mit den Anforderungen zurecht, fühlt er sich wohl bei uns, sind wir überhaupt die richtige Firma?“ Eine große Hilfe sei hier die Einheitliche Ansprechstelle für Arbeitgeber (EAA) des Inklusions- und Integrationsfachdiensts Bodensee- Oberschwaben gewesen (siehe S. 21 f.). „Unsere Ansprechpartnerin, Frau Duelli, hat sich um alles gekümmert“, sagt Möller, „mit der Agentur für Arbeit gesprochen, den Arbeitsplatz angeschaut, uns die Person vorgestellt, unsere Fragen beantwortet und uns Vertrauen gegeben.“ Als kleines Unternehmen mit 120 Mitarbeitenden hätte man dies vermutlich nicht so leisten können. Aktuell suche man einen zweiten Mitarbeiter mit Handicap.
Doch warum sucht Klöber aktiv Mitarbeiter mit Behinderung? Die gesetzlich vorgeschriebene Quote von 5 Prozent Schwerbehinderten erfülle man bereits „durch angestellte Mitarbeitende sowie dank der Zusammenarbeit mit beschützenden Werkstätten“, sagt Möller. Doch „wir sind uns unserer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und möchten diese möglichst wahrnehmen“. In der Produktion gebe es durchaus Tätigkeiten, die sich für Menschen mit Einschränkungen eigneten. Möller gibt zu bedenken: Einen Großteil der Behinderungen erwerben Menschen erst im Lauf ihres Lebens, etwa durch Unfälle oder Erkrankungen. „Das kann morgen auch mich treffen. Und dann wäre ich glücklich, weiter am Arbeitsleben teilhaben zu können.“
Wobei man „achtsam sein muss mit den Begriffen“, wie Susanne Riester, Personalverantwortliche bei Klöber, anmerkt. Der neue Mitarbeiter habe nur einen geringen Grad der Behinderung (GdB 30), aber eine Gleichstellung der Agentur für Arbeit. Dies seien „einfach gewisse Einschränkungen, die es ihm auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schwerer machen“. Als Ausgleich erhalte man Lohnkostenzuschüsse über das Förderprogramm „Arbeit inklusiv“ des Kommunalverbands für Jugend und Soziales (KVJS). Ansonsten sei der Mitarbeiter angestellt wie jeder andere auch.
Klöber beschäftigt ebenso Mitarbeitende mit einem offiziellen Schwerbehinderungsgrad von 50 Prozent oder mehr. Ein Grund dafür könne schlicht Diabetes sein, was im täglichen Arbeitsumfeld gar nicht zum Tragen komme. „Viele wollen das auch gar nicht thematisieren“, sagt die Personalverantwortliche Riester.
„Schwerbehinderung bedeutet nicht immer Leistungsminderung“
Bei den Stadtwerken Ulm (SWU) werde bereits bei der jährlichen Vergabe der Ausbildungsplätze geprüft, „welche Möglichkeiten wir Schwerbehinderten bieten können“, sagt Personalleiter Michael Kuhn. In dem 1.200-Mitarbeiter- Unternehmen gibt es neben dem Betriebsrat eine eigene Schwerbehindertenvertretung.
Kuhn berichtet etwa von einem langjährigen Mitarbeiter, der zwei stark sehbehinderte Töchter hat. „Beide hatten sich beworben, einer von ihnen konnten wir einen Ausbildungsplatz geben.“ Auch Kuhn arbeitet hier eng mit dem Integrationsfachdienst zusammen. Der hatte die möglichen Zuschüsse und erforderlichen Arbeitshilfen geprüft, etwa einen speziellen Bildschirm mit Leselupe.
Wichtig ist für Kuhn dabei, dass es „nach der Ausbildung bei uns weitergeht“ – in diesem Fall in der Buchhaltung. Die Idee, eine Mitarbeiterin ins Team zu integrieren, die niemals die volle Leistung bringen würde, sei anfangs allerdings nicht überall auf Begeisterung gestoßen, gesteht er. Man habe der Abteilung jedoch die nötige Unterstützung zugesichert und die junge Frau mit einem unbefristeten Vertrag übernommen. „Für uns ist wichtig, dass jeder voll im Team integriert ist.“ Und das sei mal einfacher, mal schwieriger. Bei einem kürzlich eingestellten Rollstuhlfahrer etwa sei es leicht gewesen. „Hier mussten wir lediglich sicherstellen, dass er sich im Unternehmen gut bewegen kann.“ Werden aufwändige Hilfsmittel oder Fahrzeuge nötig, wird es manchmal schwieriger. Oder auch wenn Mitarbeiter schwer krank würden. Auch darauf müsse man sich als Unternehmen einstellen, sagt Kuhn.
Insgesamt liegt der Anteil der Schwerbehinderten in den Ulmer Stadtwerken bei 4,8 Prozent. Manche Tochterfirmen überschreiten die 5-Prozent-Quote, eine kommt nur auf 0,2 Prozent. Das hänge eben ganz vom Arbeitsbereich ab, weiß Kuhn, und sei in der Büroarbeit leichter als in der Technik. „Ich kenne jemanden mit einem Arm, der arbeitet als Bauleiter“, sagt Kuhn. „Als Gerüstbauer ginge das nicht.“ Jährlich zahlt die SWU knapp 20.000 Euro an Ausgleichsabgabe für nicht besetzte Plätze. „Das ist nicht das Thema“ so Kuhn. Und was rät der erfahrene Personalchef Unternehmen, die sich noch nie mit dem Thema beschäftigt haben und daher eine hohe Ausgleichsabgabe zahlen? „Schwerbehinderung bedeutet nicht immer gleich Leistungsminderung“, so Kuhn. Und: „Ich würde das immer positiv angehen.“ Sofern man nicht gleich sehe, dass eine Arbeit mit einem bestimmten Handicap schlicht nicht machbar sei, sollte man einen schwerbehinderten Bewerber betrachten wie jeden anderen auch. Und dann, wenn man von der Qualifikation überzeugt sei, „mit dem Integrationsfachdienst über die Unterstützungsmöglichkeiten sprechen“.
Schwerbehinderung bedeutet nicht immer gleich Leistungsminderung. Ich würde das immer positiv angehen. - Michael Kuhn
Die Beispiele zeigen: Die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung bietet nicht nur diesen Chancen, sondern auch den Betrieben selbst. Das Potenzial jedenfalls ist da – vermutlich in fast jedem Unternehmen.