Ohne Abschluss keine Chance?

Die Luft knistert förmlich vor Anspannung. Halil Kardogan steht in der Lagerhalle seines Arbeitgebers Mercedes-Benz Used Parts & Services GmbH, die Hände leicht feucht vor Aufregung. Auch Gruppenleiter Murat Tuz und Ausbilder Johannes Weinmann sind sichtlich nervös. Für Halil geht es heute um viel: Er lässt seine langjährige Berufserfahrung als Fachkraft für Lagerlogistik offiziell bewerten und bescheinigen. Möglich macht das seit dem 1. Januar 2025 das neue Berufsvalidierungsgesetz.
Nur mit einer Anerkennung seiner Fähigkeiten kann er sich auf eine freie Stelle innerhalb der Firma als Kommissionierer bewerben und beruflich weiterkommen. „Ich habe nach der Schule direkt angefangen zu arbeiten“, erklärt Halil Kardogan. „Damals habe ich gutes Geld verdient – an eine Ausbildung habe ich nicht mehr gedacht. Und ich habe früh geheiratet und musste meine Familie ernähren. Mit einem Ausbildungsgehalt wäre das nicht möglich gewesen.“ Doch Kardogans damaliger Arbeitgeber musste die Firma schließen und der junge Mann hielt sich mit Jobs bei einer Zeitarbeitsfirma über Wasser.
Seit über zehn Jahren arbeitet er jetzt schon als Verpacker bei Mercedes-Benz Used Parts & Services GmbH. „Ich fühle mich hier sehr wohl und bin stolz hier zu arbeiten. Aber um beruflich weiterzukommen, brauche ich einen Abschluss“, so der 36-Jährige.

Unterstützung aus dem Team: Gemeinsam zum Ziel

Den entscheidenden Impuls gab Gruppenleiter Murat Tuz: „Halil ist ein Top-Mitarbeiter. Ich bin davon überzeugt, dass er auch verantwortungsvollere Aufgaben übernehmen kann. Dafür braucht er aber einen Nachweis seiner beruflichen Qualifikation.“ Gemeinsam mit Ausbilder Johannes Weinmann informierte Tuz sich über in Frage kommende Weiterbildungsmöglichkeiten für Halil Karodgan. „Dabei sind wir bei der IHK Region Stuttgart auf das Berufsvalidierungsverfahren aufmerksam geworden“, so Tuz.
Im Mai ließ sich Halil Kardogan von IHK-Beraterin Esraa Rabie beraten und der passende Referenzberuf „Fachkraft für Lagerlogistik“ wurde als Grundlage für die Validierung bestimmt. Danach stellte er den Antrag. Anschließend führte Halil ein Fachgespräch mit Constance Seebo, die das sogenannte Feststellungsverfahren als IHK-Prüferin gemeinsam mit ihrem erfahrenen Prüferkollegen Markus Dreja durchführt.
Bevor es zur Überprüfung der beruflichen Fähigkeiten kommt, muss klar sein: Er erfüllt die fachlichen Voraussetzungen. Die Prüfer geben grünes Licht und Anfang September wird die Berufsvalidierung durchgeführt. Auch wenn Halil nach der Bewertung keinen klassischen Berufsabschluss hat, liegt ihm dann ein Nachweis vor, inwieweit seine beruflichen Fähigkeiten mit denen des festgelegten Referenzberufs vergleichbar sind.

Berufserfahrung statt Abschluss – und jetzt?

Prüfungsängste, Familienprobleme, ein abgebrochenes Studium – die Gründe, warum Menschen keine abgeschlossene Ausbildung haben, sind vielfältig. Oft geht es lange Zeit gut – bis man merkt: Ohne Abschluss kommt man beruflich nicht weiter. Das frustriert und erschwert Bewerbungen auf bessere Jobs.
Seit dem 1. Januar 2025 gibt es das Berufsvalidierungsgesetz, entstanden aus dem Projekt „Valikom“. Es bietet Menschen die Chance, ihre im Berufsleben erworbenen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse offiziell bewerten und zertifizieren zu lassen. Voraussetzung: Sie haben über mehrere Jahre in einem anerkannten Ausbildungsberuf gearbeitet. (Siehe Infokasten am Ende des Artikels).
Für Constance Seebo, die schon während des Valikom-Projekts viele dieser Feststellungsverfahren durchgeführt hat, ist das eine super Sache und eine große Wertschätzung gegenüber Mitarbeitenden. „Wir müssen Berufserfahrung und Fertigkeiten endlich anerkennen – unabhängig von einem Abschluss,“ sagt die erfahrene Prüferin. Besonders wichtig ist ihr der Praxisbezug: „Ein Fehler am Anfang eines Prozesses kann sich durchziehen – das muss man erkennen und vermeiden.“ Und auch die Betriebe profitieren: Mitarbeitende werden wertgeschätzt, können verantwortungsvollere Aufgaben, bis hin zu Führungspositionen, übernehmen und bleiben dem Unternehmen erhalten.

Fachwissen und Nervenstärke sind gefragt

Zurück zu Halil Kardogan. Die ersten 15 Minuten seiner Bewertung sind vorbei und er wird ruhiger. Gerade erklärt er Seebo und Dreja die Organisation und Ausstattung des Lagers sowie die einzelnen Prozesse. Später folgen Themen wie Gefahrguterkennung, Warenannahme, Verpacken und Verladen ausgehender Ware und Ladungssicherung.
Nach rund zweieinhalb Stunden ist es geschafft. Das Prüfungsteam zieht sich zur Beratung zurück. Kollege Murat Tuz ist überzeugt: „Halil hat das gut gemacht!“ Doch Halil ist unsicher, macht sich Vorwürfe – hätte er mehr zeigen können? Für ihn steht viel auf dem Spiel. Die Kosten für die Validierung zahlt er aus eigener Tasche. Eine Investition in die Zukunft?
Am Ende gibt es strahlende Gesichter: Halil hat die Validierung vollumfänglich – wie es im Fachjargon heißt – bestanden und kann sich jetzt auf die ausgeschriebene Stelle bewerben und mit gutem Gefühl in die berufliche Zukunft blicken.
Sybille Wolff für Magazin Wirtschaft
Mit dem Validierungsverfahren werden berufliche Kompetenzen, die unabhängig von einer formalen Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf (Referenzberuf) erworben wurden, bewertet und bescheinigt.

Nach erfolgreichem Abschluss des Verfahrens wird die berufliche Handlungsfähigkeit bei vollständiger Vergleichbarkeit in einem Zeugnis oder bei überwiegender Vergleichbarkeit in einem Bescheid schriftlich bescheinigt.
Ausführliche Informationen zum Berufsvalidierungsverfahren finden Sie auf der Webseite der IHK Region Stuttgart.