Kleine Welt – Exportregion Rheinhessen

Über Jahre und Jahrzehnte schien die Welt immer kleiner zu werden. Der Grund: die Globalisierung. Wirtschaftlich, kulturell und politisch vernetzten sich Staaten, Völker und Branchen. Reisen wurden immer einfacher, über das Internet lässt sich der ganze Globus in Echtzeit erschließen. Doch historische Entwicklungen kennen selten nur eine Richtung.
Gesellschaftlich-kulturelle Ungleichheiten prallen aufeinander, lösen Reibung aus. Krisenzeiten lassen scheinbar wie geölt laufende Lieferketten brechen. Und vom weltweiten Siegeszug der Demokratie ist längst keine Rede mehr.
In dieser immer komplexeren Gemengelage stehen die Unternehmen in einer stark exportorientierten Region wie Rheinhessen besonders unter Spannung. Chancen und Risiken im weltweiten Handel sind schwierig zu überblicken. „Wir erleben gerade eine sehr intensive Phase mit viel Licht und viel Schatten im internationalen Geschäft“, sagte Volker Treier, Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), bei der Vorstellung des AHK World Business Outlook für Herbst 2023. Für die Erhebung wurden weltweit mehr als 3.600 deutsche Unternehmen an ihren jeweiligen Standorten befragt.
Demnach erwarten 22 Prozent der Betriebe eine bessere konjunkturelle Entwicklung an ihrem jeweiligen Standort, 28 Prozent rechnen mit einer Abkühlung. Tenor: Im Ausland tätige Unternehmen kämpfen weniger mit strukturellen Herausforderungen als jene, die ausschließlich im Inland aktiv sind. Dennoch: In Eurozone und USA drückt das Zinsniveau, die Nachfrageschwäche Chinas sowie geopolitische Risiken schlagen ebenfalls zu Buche. Konstant optimistisch zeigen sich die Unternehmen in Nordamerika, im Asien-Pazifik-Raum, in Süd- und Mittelamerika. Auffällig auch: In Übersee wollen anteilig mehr Unternehmen investieren als daheim.

IHK bringt Botschafter nach Rheinhessen

Die IHK für Rheinhessen bringt die Welt und ihre Möglichkeiten ein Stück weit nach Mainz: So hatte die IHK im November zum dritten Mal zum Botschafterdialog eingeladen. Nachdem zweimal der Schwerpunkt auf Afrika gelegen wurde, rückte nun der Asien-Pazifik-Raum in den Fokus – mit großem Erfolg. „Die Resonanz war mit über 100 Anmeldungen sehr gut“, sagt Elvin Yilmaz, Abteilungsleiterin International. Sonst finden Veranstaltungen dieser Art vorrangig in Berlin statt, diesmal kamen die Botschafter nach Mainz. So konnten die Unternehmensvertreter aus dem Rhein-Main-Gebiet direkt mit den Vertretern acht asiatischer Staaten in Kontakt treten, was die Wege in die potenziellen Zielmärkte deutlich kürzer werden lässt.
Eines von mehreren Beispielen erfolgreicher Etablierung in Asien gab Julia Schnitzler, Geschäftsführende Gesellschafterin bei Strassburger Filter in Westhofen. Das Familienunternehmen fertigt in vierter Generation maßgeschneiderte Filtrationslösungen für unterschiedliche Branchen. 2012 wurde ein eigenes Vertriebsbüro in China eröffnet, seit 2018 gibt es zudem eine Niederlassung mit inzwischen drei Mitarbeitern. An der Etablierung in China änderte auch die Corona-Pandemiesamt der vor Ort strengen Einschränkungen nichts. Drei Jahre lang konnten Schnitzler und ihre Kollegen nicht nach China reisen.

Null-Covid-Politik erschüttert Vertrauen in China

Die Null-Covid-Politik Chinas zog einen kräftigen wirtschaftlichen Einbruch nach sich, der nachhallt. Noch immer berichten die Unternehmen dort von überwiegend schlechten Geschäften, wie die AHK-Umfrage zeigt. Nicht nur deshalb ist es ratsam, sich breiter aufzustellen. Strassburger Filter tut das längst. Schnitzler, die regelmäßig mit Kanzlerin Angela Merkel oder auch ihrem Nachfolger Olaf Scholz in Wirtschaftsdelegationen nach Asien reiste, hat ihr Unternehmen auch auf Japan ausgerichtet. Dort, wo das politische System dem deutschen ähnelt, hat das Unternehmen aus dem Wonnegau einen Vertriebspartner gefunden.
„In Japan schaut man stark auf die Technologie und in die Zukunft, ist immer am Neuesten interessiert“, sagt Schnitzler. „Aber Asien besteht nicht nur aus China und Japan. Wir haben auch in Südkorea und Indien Projekte, und in Indonesien sind welche in Sicht. In Asien findet unsere Expansion statt, leider nicht in Europa.“ Im Ausland verdiene Strassburger Filter weitaus mehr Geld als daheim. Der Markt in Europa erscheint weitgehend gesättigt für die Produkte zur Blutplasma-Fraktionierung. In Asien, speziell in den Schwellenländern, seien aber noch viele Potenziale zu entdecken.

Im Ausland Fuß fassen mit dem richtigen Partner

Doch wie fasst man so weit in der Ferne Fuß? „Man braucht den richtigen Partner vor Ort, gerade bei Nischenprodukten“, betont Schnitzler. „Das ist immer die Stecknadel im Heuhaufen.“ In China half eine Marktrecherche mithilfe einer spezialisierten Agentur. In behördlichen und bürokratischen Fragen ist die Expertise vor Ort Gold wert. „Ohne Hilfe wäre es nicht möglich gewesen“, sagt Schnitzler. Ein gutes, auf den Markt passendes Produkt allein reiche nicht aus. „Man braucht das Netzwerk vor Ort. Das Gute ist, die Kunden sind in der Nische leichter zu identifizieren.“
EUROPAWAHL 2024
Europa ist mit 70 Prozent der Importe wichtigster EinfuhrMarkt für rheinland-pfälzische Unternehmen. Mit knapp 20 Prozent folgt Asien – und deutlich steigender Tendenz (plus 19 Prozent). Bei den Exporten rangiert der Kontinent Asien (13 Prozent) hinter Europa (68 Prozent) und Amerika (15 Prozent) auf Rang drei. Aus dem  Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) stehen Rheinland-Pfalz für die Förderperiode 2021-2027 insgesamt rund 250 Millionen Euro zur Verfügung. Am 9. Juni sind auch die Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer zur Europawahl aufgerufen.
wahlen.rlp.de/europawahl
Auch den Standort für die Ansiedlung gelte es mit Bedacht zu wählen. In China war das für Strassburger Filter Shanghai. Wobei ausdrücklich keine Produktionsstätte gesucht wurde, um die Expertise unter dem eigenen Dach zu behalten. Produkt-Piraterie ist in China ein großes Problem, wie die Unternehmerin betont: „Ich habe dort schon nachgemachte Produkte gefunden – sowie Bilder aus unseren Präsentationen und von unserer Website. Man kann es nur als dreist bezeichnen.“ Schnitzlers Konsequenz: „Wir müssen immer einen Schritt schneller sein, denn auf den Markt verzichten können wir nicht.“

IHK-Außenhandelsexpertin rät zur Diversifizierung

Diversifizierung ist angeraten, sagt IHK-Abteilungsleiterin Elvin Yilmaz: „Die politischen Risiken nehmen zu. Da gilt es, sich breit aufzustellen - Risiko-Streuung ist das A und O.“ Der ASEAN-Raum in Südostasien zählt zu den am stärksten wachsenden Wirtschaftsräumen der Welt und bietet daher viele Chancen. „Dort finden sich Zukunftsmärkte, die unfassbar viele Potenziale aufzeigen“, betont die Außenhandelsexpertin der IHK Rheinhessen. Eines ihrer Ziele ist es, den Unternehmen den entscheidenden, aber auch schwierigen ersten Schritt in neue Zielmärkte zu erleichtern.
Dabei gilt es auch den Blick auf die Herausforderungen zu richten: Die Nachfrage, die Wirtschaftspolitik vor Ort und den Fachkräftemangel nennen die befragten Unternehmen beim AHK World Business Outlook als aktuell wichtigste Geschäftsrisiken. Finanzwirtschaftliche Fragen wie Wechselkurse, Arbeitskosten und Rohstoffpreise folgen. Handelsbarrieren oder auch die Infrastruktur werden als eher nachrangig beurteilt, auch mangelnde Rechtssicherheit beklagt nur ein kleiner Teil der im Ausland tätigen Unternehmen. So gesehen, wird die Welt kleiner. Und manches im Inland präsente Problem findet sich zuzeiten der weltwirtschaftlichen Abkühlung auch in den neuen Zielmärkten wieder.

Einkaufsinitiative Südostasien ebnet Weg zu neuen Lieferanten

Umso wichtiger ist es, die richtigen Partner zu finden. In diesem Jahr geht die Einkaufsinitiative Südostasien in ihre dritte Runde, die 2022 vom Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) gemeinsam mit den Auslandshandelskammern ins Leben gerufen wurde (Anmeldung: bmematchmaking.com). „Wir als BME sehen Südostasien als Wachstums- und Potenzialmarkt für deutsche Unternehmen. Das zeigen auch die Ergebnisse der beiden Einkaufsinitiativen 2022 und 2023“, sagt Leiter Olaf Holzgrefe. Als Wachstumsmarkt, Option für eine „China plus eins“-Diversifizierung und Alternative für Lieferketten sei die Region interessant. „Die deutschen
Unternehmen sollten sich die Entwicklung genau angucken“, findet Holzgrefe.
Diesmal ist auch der Ostasienverein mit von der Partie. Lieferanten aus Malaysia, Vietnam, Thailand, Laos, Kambodscha sowie erstmals Philippinen und Indonesien präsentieren sich in einer mehrwöchigen Online-Veranstaltung. Knapp 90 asiatische und 30 deutsche Unternehmen nahmen voriges Jahr teil. „So lässt sich mit geringem Aufwand das Potenzial in allen sieben Ländern erkunden“, sagt Holzgrefe, „Südostasien ist ein spannender Markt. Dort sind die Unternehmensgrößen für deutsche Mittelständler attraktiv. Die Kultur ist auf Geschwindigkeit und Lernen ausgerichtet. Die Unternehmen adaptieren Entwicklungen sehr schnell.“ Es gehe darum, in diesen neuen Zielmärkten schneller Fuß zu fassen als die internationalen Mitbewerber. „Vietnam und Malaysia haben sich als besonders attraktiv erwiesen“, sagt Holzgrefe.

„Eine Weltwirtschaft ohne China ist nicht vorstellbar“

„China wird allen aktuellen Turbulenzen zum Trotz bedeutsam bleiben“, meint Andrea Hideg, Leiterin des Referats Ostasien im Bereich Internationale Märkte bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK). Eine aktuelle Geschäftsklima-Umfrage von Jahresbeginn 2024 zeigt, dass etwa jedes zweite in China tätige deutsche
Unternehmen derzeit weitere Investitionen in den kommenden zwei Jahren plant. Ein Fünftel der Betriebe will dagegen weniger investieren. Ein Grund ist die politische Unsicherheit, die spätestens mit der Pandemie noch stärker in den Vordergrund gerückt ist. Dies bewegt die Unternehmer, verstärkt zu diversifizieren. Viele Unternehmen vor Ort reagieren auf die geopolitischen Risiken allerdings auch damit, dass sie sich stärker lokal aufstellen und eher auf den chinesischen Inlandsmarkt konzentrieren.
„Ein zweites China gibt es nicht“, sagt Hideg, „eine Weltwirtschaft ohne China ist nicht vorstellbar.“ Und doch scheinen im Zuge der genannten Komplikationen andere asiatische Zielmärkte zunehmend reizvoller zu werden. So etwa Japan und Korea: Beide Länder sind zwar in politischer und rechtlicher Hinsicht verlässliche Partner. Allerdings haben sich die beiden Volkswirtschaften in den letzten Jahrzehnten stark entwickelt. Zudem ist das durchschnittliche Alter der Bevölkerung im Vergleich zu anderen Ländern der Region verhältnismäßig hoch, weshalb andere asiatische Länder – allen voran Asean und Indien – derzeit für neue Markterschließungen spannender sind. Andererseits: „Werte-Partnerschaft, politische Stabilität und Rechtssicherheit wissen Unternehmen durchaus zu schätzen.“

Gute Geschäftslage und noch bessere Erwartungen

Im Asien-Pazifik-Raum wird die Geschäftslage durch die dort präsenten, deutschen Unternehmen als gut bezeichnet. Und die Geschäftserwartungen seien sogar noch besser, wie Katharina Wittke, Referatsleiterin Süd-, Südostasien und Pazifik, berichtet. Vor allem Indien, das seit vorigem Jahr bevölkerungsreichste Land der Welt, sticht heraus. Das Fachkräfte-Potenzial ist immens, ein Kriterium, das auf der Chancen- und Risiko-Seite der Unternehmen besonders zählt. Nicht ohne Grund richtet der Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, zu dessen Trägern die DIHK zählt, gemeinsam mit dem Bundeswirtschaftsministerium sowie der AHK Indien im Oktober
2024 in Neu-Delhi die 18. Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft aus.
„Das Land plant in großem Maße Infrastruktur-Projekte und ist auf der Suche nach westlichen Partnern“, berichtet Wittke. Auch die IT-Branche und die Automobilindustrie böten besonders viel Potenzial. Ebenfalls hohe Geschäftserwartungen haben die Unternehmen auch auf den Philippinen, in Malaysia und Sri Lanka. „Auf den Philippinen wird stark auf einen positiven Wandel in der Politik gesetzt“, sagt Wittke. „Malaysia ist ein geschäftsfreundlicher, stabiler, sicherer, erschwinglicher Standort. Als stärkster Handelspartner Deutschlands in Südostasien bietet Malaysia ein stabiles Netzwerk zur internationalen High-Tech-Industrie, Englisch ist als Geschäftssprache etabliert. Mit seiner zentralen Lage ist Malaysia auch für Diversifizierung attraktiv.“ Sri Lanka wiederum punktet mit seiner Ausrichtung auf die Bereiche IT, Tourismus, Shared Services, Marinedienstleistungen und Agrartechnologie. „Hier gibt es Nachfrage nach neuen Geschäftspartnern, Deutschland steht dabei besonders im Fokus.“

Stabile Rahmenbedingungen und junge Bevölkerung zählen

Mit Hoffnungen verknüpft ist das von der EU im November ratifizierte Freihandelsabkommen mit Neuseeland. Dies eröffnet – allen voran in Rheinhessen – auch für den Absatz von Wein neue Chancen. Die große Entfernung ist ein Grund für das bislang geringe Handelsvolumen mit Deutschland. Auch in Indonesien wird die aktuelle Geschäftslage sehr positiv beurteilt. „Es handelt sich um ein Land mit vielen Rohstoffen, junger Bevölkerung und schnell wachsender Mittelschicht“, berichtet Wittke.
Auf stabile politische Rahmenbedingungen, eine junge Bevölkerung mit vielen Konsumenten und eine wachsende Wirtschaft achten die expandierenden Unternehmen – und tun gut daran. „Der Asien-Pazifik-Raum rückt bei deutschen Unternehmen immer weiter in den Fokus“, sagt Hideg, „Dass nicht alle Potenziale gehoben werden, hat auch mit Anlaufschwierigkeiten auf den Märkten zu tun.“ Allerdings werde im Asean-Großraum zuweilen die Heterogenität der einzelnen Länder unterschätzt, beobachtet Wittke. „Dabei ist die Region nicht mit der EU vergleichbar. Es gibt keine Zollunion, zudem unterschiedliche Währungen. Die Region ist jedoch sehr dynamisch, und das wissen die deutschen Firmen auch.“

IHK und AHK stehen mit Rat und Tat bereit

Die Auslandshandelskammern stehen für Expertise und Hilfestellung zur Verfügung. In China ist gerade ein ‚Diversification Desk‘ in Betrieb gegangen, der die Unternehmen bei der Diversifizierung unterstützt. Die Auslandeshandelskammern helfen mit Wissen über Zielmärkte, zu Chancen und Risiken, mit Unternehmenskontakten und Standortanalysen. Auch die IHKs in Deutschland sind Teil des Netzwerks mit spezialisierten Beratern für ausgewählte Länder und Regionen. Sie organisieren Außenwirtschaftstage, halten Informationen bereit und vermitteln Kontakte. Auf diese Weise können alle Unternehmen, die ihre Aktivitäten im Ausland ausweiten wollen, sich mit Unterstützung in den neuen Strukturen einer globalisierten Welt besser zurechtfinden.
IHK-ANGEBOTE
Mit Blick auf den steigenden Beratungsbedarf stehen die Expertinnen der IHK für Rheinhessen den Unternehmen zur Seite. Allein im vergangenen Jahr hat die IHK für Rheinhessen 14.304 Außenwirtschaftsdokumente ausgestellt und mit unterschiedlichen Veranstaltungsformaten knapp 900 Teilnehmer erreicht. Neben Beratungen, Netzwerkveranstaltungen und Webinaren bietet die IHK ein breites Netzwerk International.
E-Mail: international@rheinhessen.ihk24.de
Website: ihk.de/rheinhessen/international
TORBEN SCHRÖDER, FREIER JOURNALIST
Quelle: Report – Ausgabe Januar/Februar/März 2024
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