225 Jahre Wirtschaftsgeschichte geschrieben

Zukunft braucht Geschichte – unter dieser Überschrift feiert die Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen in diesem Jahr ihr 225-jähriges Bestehen. Ein Rückblick auf eine Geschichte voller Besonderheiten und erstaunlicher Kontinuität.
Denn nach wie vor unverändert ist die Basis: das starke Ehrenamt, das die IHK über zwei Jahrhunderte hinweg getragen hat. „Ein wichtiges Stichwort ist Kontinuität“, sagt Dr. Engelbert Günster. Das Selbstverständnis als moderner Dienstleister beizubehalten, ebenso die enge Kooperation der vier IHKs in Rheinland-Pfalz mit Blick auf die Landespolitik – das erachtet der Ehrenpräsident der IHK für Rheinhessen als essenziell. Der langjährige Deutschland-Chef von Boehringer Ingelheim sieht die Energiepolitik als eine der Zukunftsaufgaben, ebenso eine „gezielte Einwanderungspolitik statt dem Zufallsprinzip“. Themen, die auch die vergangenen 225 Jahre geprägt haben.
Grafik Jubiläum
Der exakte Gründungstag ist der 28. Januar 1798. Damals wurde, im Zeichen der französischen Besatzung und einer gravierenden Wirtschaftskrise, die Industrie- und Handelskammer für Rheinhessen ins Leben gerufen. Natürlich hieß sie damals anders, schließlich gab es die Region definitionsgemäß noch gar nicht. „Comité de Commerce de la commune de Mayence“ lautete der Titel, also eine Art kommunaler Mainzer Handelsausschuss. Nur die IHK Köln ist deutschlandweit älter – knapp drei Monate.

IHK nimmt Einfluss auf Dampfschifffahrt und Eisenbahnwesen

Schon damals sollte die Kammer die Interessen der Wirtschaft in Richtung Regierung artikulieren. Nur, dass sie noch fester Bestandteil der Verwaltung war. Der Rhein bildete zu Besatzungszeiten eine starre Grenze, mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen. So wie heute die Landespolitik deutliche Auswirkungen auf die Standortattraktivität hat. Symptomatisch, dass die Alliierten die Kammer Mitte der 1810er Jahre nach der Rückeroberung Rheinhessens nicht rückabwickelten. Mainz wurde Hauptstadt der neu gegründeten Provinz Rheinhessen. Und gewann, an Verkehrsachsen zu Land und Wasser gelegen, im Zuge der heraufziehenden Industrialisierung eine wichtige Bedeutung als Handelsplatz – auch mithilfe der Kammer, die schon damals kritisch auf Defizite in der Infrastruktur hinwies.
„Die Politik der Mainzer Handelskammer war und blieb stets weit gespannt und in die Zukunft gerichtet“, hält der Historiker Friedrich Schütz in der AZ-Sonderbeilage zum Kammerjubiläum 1998 fest – und konzediert „entscheidenden Einfluss“ bezüglich Dampfschifffahrt und Eisenbahnwesen. Auch der Abschaffung der Binnenzölle bereitete die Kammer den Weg, was maßgeblich war für den Fortgang der Industrialisierung und die Außenhandelserfolge der Region. In regulatorischen Fragen legte die Mainzer Kammer schon im 19. Jahrhundert den Finger in die Wunde, forderte eine  Vereinheitlichung der Gesetzgebung und des Verkehrswesens sowie eine Modernisierung der Nachrichtenübermittlung. Von behördlicher Verlässlichkeit, Entbürokratisierung und Digitalisierung würde man heute sprechen.
Nach und nach demokratisierten sich die Strukturen innerhalb der Kammern, wie Schütz festhält. Ein wesentlicher Schritt war das Kammergesetz nach der
Deutschen Einigung 1871. Einst waren Regierungspräsidenten automatisch Kammerchefs, nun waren es Fabrikanten und Weinhändler. Nach einer weiteren
Reform 1902 erstreckte sich der Geltungsbereich der Mainzer Kammer auf die Kreise Mainz und Oppenheim. Und 1922, vor 101 Jahren, kam die Neubenennung als Industrie- und Handelskammer.

Selbstverwaltung der Wirtschaft dank hunderter ehrenamtlich Engagierter

Die Regentschaften kamen und gingen, die Kammer blieb – lediglich mit Ausnahme der Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie, von der wiederum französischen Militärregierung, mit ihren Pendants in Worms und Bingen fusioniert. Wobei die alliierten Luftangriffe auf Mainz den 1930 erworbenen, ersten – und bis heute einzigen – wirklichen Hauptsitz am Schillerplatz in der Mainzer Altstadt zerstört hatten. Erst 1959 war eine Rückkehr möglich. Am 28. Juni 1946 hatte sich die nun auch vom Namen her „Rheinhessische Kammer“ gegründet. Präsident und
Hauptgeschäftsführer vertreten die Kammer seither nach außen.
„Im Laufe der Zeit hat der Staat der Industrie- und Handelskammer viele Aufgaben übertragen“, blickte der frühere IHK-Präsident Kraft Waentig anlässlich des
200-jährigen Bestehens zurück. „Er hat dies in der Überzeugung getan, dass die Wirtschaft ihre ureigensten Aufgaben selbst kostengünstiger und kompetenter regeln kann.“ Daher sind Berufsausbildung und Sachverständigenwesen sowie eine Fülle regulatorischer Themen nach wie vor bei den Industrie- und Handelskammern angesiedelt. Als gesetzliche Pflichtaufgaben, delegiert vom Staat, und als Teil der Selbstverwaltung, die der Wirtschaft Unabhängigkeit sichert. Dass staatliches Handeln durch diese „gelebte Subsidiarität“ kostengünstiger und wirtschaftsnäher werde, bezeichnete Waentig als „unschätzbaren Vorteil für die Wirtschaft insgesamt und jedes einzelne Unternehmen“.
Dieser wiederum wird maßgeblich ermöglicht durch hunderte, tausende ehrenamtlich Mitwirkende. Nach und nach wuchs auch die kammereigene Infrastruktur, mit Fachschulen, Lehrwerkstätten und Bildungszentren – all dies natürlich auch in Rheinhessen. Ebenso wuchs der Dienstleistungsgedanke. Die Industrie- und Handelskammern wurden zu den wichtigsten Informationsquellen der Unternehmen in Rechts- und Wirtschafts-, Handels- und Wettbewerbsfragen. Durch Sachverständige und hausinterne Expertise helfen sie, wie Waentig betont, viele Streitigkeiten außergerichtlich zu schlichten. Und sie engagieren sich für Ansiedlung und Stärkung von Wirtschaft und Wissenschaft.

Von der Behörde zum Dienstleister

In diesem Jahr wird gefeiert, mit Jubiläums-Website und Jubiläums-Film. Beim Sommerabend der Wirtschaft wurde der besondere Jahrestag in den Fokus gerückt, Mitte Dezember wird beim Festakt zum Beginn der neuen Vollversammlung dieses für unsere Kammer ganz besondere Jahr gebührend  abgeschlossen. Günster ist seit 2009 mit von der Partie, seit 2013 als Teil des Präsidiums, schließlich als Präsident. „Man sollte die Gelegenheit nutzen, regional, wo man verwurzelt ist, mitzugestalten“, blickt der Ehrenpräsident auf den Dreiklang aus Dienstleistung für die Mitglieder, der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben sowie der Politikberatung, den so nur die IHK bietet.
War die Kammer von ihren Mitgliedern zunächst als Behörde empfunden worden, so ist es, wie Günster festhält, gelungen, die IHK zu einem Dienstleister umzuwandeln. Eine Reihe Meilensteine fällt in die jüngste Vergangenheit, etwa die Beratung zu Digitalisierungsthemen und Gründungen, Gutenberg-Hub und Gründerzentren, Übergangslotsen und Welcome-Center oder auch das Projekt Startup@School, um Schulen für Wirtschaftsthemen zu sensibilisieren. In den neunziger Jahren geht das Azubi-Festival auf dem ZDF-Gelände an den Start, das nach wie vor bundesweit einzigartig ist. Azubis wurden und werden dringend gesucht. „Wir sahen ja, dass die geburtenschwachen Jahrgänge kommen. Da wurden viele Klinken geputzt“, erzählt Günster, „von 2017 bis 2022 haben wir allein über 10.000 junge Leute durch die Prüfungen geschickt. Mehr als 1.200 ehrenamtliche Prüfer sind mit viel Herzblut dabei.“
Mit Berufsinformationsmessen, Tagen der Technik oder dem Programm „Ausbildung bringt's“ habe die IHK eine „richtige Erfolgsgeschichte beim Thema „Ausbildung“ geschrieben, auch im Schulterschluss mit der Handwerkskammer. Partnerschaften mit Medien, Arbeitsagentur und Schulen trugen allein zwischen 1998 und 2009 zu einem 44-prozentigen Zuwachs bei den Ausbildungsverträgen bei. „Es bleibt eine große Aufgabe, durch Information jungen Leuten Wege zu öffnen“, betont Günster.

Schulterschluss beim Rheinhessen-Jubiläum

Die Personalführung war ein wichtiger Punkt auf dem Weg hin zu einer verjüngten, auch in Führungspositionen weiblicheren Belegschaft mit hoher Identifikation. Dass die IHK für Rheinhessen dicht am Sitz der Landesregierung beheimatet ist, wurde für regen Austausch genutzt. „Das wird auch von der Politik geschätzt“, betont Günster. In der Krise 2008/09 erfolgte ein schneller Schulterschluss mit der landeseigenen Investitionsbank ISB zugunsten der Mittelständler, nach dem „Desaster Schiersteiner Brücke“ drängte die IHK auf rasches Handeln, und schon seit Jahren setzt sie sich mit Nachdruck für das Thema Energiewende ein.
Als „Hauptstadt-IHK“ übernehmen die Rheinhessen auch eine Schlüsselfunktion in Rheinland-Pfalz. Dass Angela Merkel allein dreimal zum Jahresempfang der Wirtschaft kam, illustriert Strahlkraft und Wirksamkeit. „Wir haben immer wieder versucht, unsere politische Agenda behutsam, aber mit Nachdruck nach vorne zu bringen“, sagt Günster. „Die vielen Krisenthemen haben uns immer wieder eng mit der Politik in Verbindung gebracht.“ Das gilt auch für das Rheinhessen-Jubiläum 2016, wo der große regionale Schulterschluss genutzt wurde, um das Thema Wirtschaftsstandort vor allem für das produzierende Gewerbe zu platzieren. Ebenso wie die für Günster weiterhin drängende Frage der Mobilität. Manches ist doch erstaunlich beständig geblieben über 225 Jahre hinweg.
In ihrem Jubiläumsjahr lädt die IHK ein zur digitalen Zeitreise, zur Wirtschaftsgeschichte, und ebenso zu ihren Standorten Mainz, Bingen und Worms. In einem eigenen Film kommen Menschen mit einer besonderen Verbindung zur IHK zu Wort – von der Auszubildenden bis zur Ministerpräsidentin. Auch die IHK-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter gratulieren der Jubilarin. Ebenso stellt die IHK alle bisherigen Präsidenten und Hauptgeschäftsführer vor. Weiterhin wird das Jubiläum zum Teil der unterschiedlichen IHK-Veranstaltungen, bis hin zur konstituierenden Sitzung des neu gewählten Ehrenamts, der IHK-Vollversammlung, im Dezember.
www.ihk.de/rheinhessen/ihk225
Bingen, Mainzer Straße 136
Telefon: 06721 9141-0
Mainz, Schillerplatz 7
Telefon: 06131 262-0
Worms, Rathenaustraße 20
Telefon: 06241 9117-3