Bayern-Čechy - Ausgabe Januar 2024

Wie weiter wachsen?

Mit weit über 60 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung pro Jahr ist der Wirtschaftsraum Oberpfalz/ Kelheim – Pilsen eine europaweit wettbewerbsfähige Grenzregion, und das trotz seiner ländlichen Lage. Ihn weiterzuentwickeln, ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Babylon war einmal einer der mächtigsten Stadtstaaten im antiken Zweistromland. Das heutige Babylon ist ein unbedeutender Weiler zwischen Bayern und Böhmen – ein paar Tankstellen, Einkaufsläden und das Spielcasino im nahen Folmava sind von den wilden Neunzigerjahren übriggeblieben, als der Grenzsteifen ein heruntergekommener Verheißungsort für konsumund erlebnissüchtige Ostbayern war. Rechts der Staatsstraße 26 finden Ortskundige einen hübschen Naturbadesee, der noch aus der tschechoslowakischen Vorkriegszeit stammt. Links davon erhebt sich das verwunschene Čerchov-Massiv, ein Wanderparadies für Grenzgänger und tschechische Pilzfreunde. Spätestens an dessen Fuß wähnt man sich im geschliffenen Weiler Bystřice, dem früheren Fichtenbach, am Ende der Welt. Dabei ist drum herum viel mehr los, als es den Anschein hat.
Die Nachbarregionen Oberpfalz und Pilsen haben in den vergangenen 33 Jahren eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte geschrieben, der selbst die Corona-Delle mit zeitweise geschlossenen Grenzen nichts anhaben konnte. „Die Region ist dank ihrer Industriestruktur gut aufgestellt, obwohl sie sehr ländlich geprägt ist und infrastrukturelle Defizite beim Verkehr und bei der Digitalisierung aufweist“, sagt der Experte für Border Regions Prof. Dr. Tobias Chilla von der Universität Erlangen. Anhand des BIP-Wachstums kann man den, wie der Geograph sagt, externen Schock der Corona-Pandemie gut nachvollziehen.

Grenzgebiete haben aufgeholt

Gerade die grenznahen ländlichen Gebiete Ostbayerns und Westböhmens haben im europäischen Vergleich aufgeholt. Zwischen 2012 und 2018 stieg das BIP dort um bis zu 140 Prozent. Rund 150 deutsche Unternehmen produzieren, forschen und entwickeln heute in der Nachbarregion Pilsen. Sie haben mehr als 40.000 Arbeitsplätze geschaffen. Und aus keinem Nachbarland pendeln mehr Menschen nach Deutschland täglich ein als aus Tschechien. Insgesamt sind das fast 31.000 Menschen (Stand 2021), von denen wiederum 13.000 Pendlerinnen und Pendler täglich den Oberpfälzer Arbeitsmarkt verstärken. Das kommt auch dem ostbayerischen Einzelhandel zugute. Aufgrund des großen Wettbewerbs hierzulande ist es für Tschechen günstiger, auf dem Nachhauseweg in Bayern einzukaufen. Wer das nicht glaubt, der kann in einem kürzlich erschienenen Onlinevideo mit Tschechiens Ministerpräsident Petr Fiala in Waldsassen in den Supermarkt gehen und den Preisvergleich machen.
Die tschechischen und bayerischen Nachbarn profitieren enorm voneinander, auch wenn ihnen das nicht immer bewusst sein mag. Hier setzt auch der Wirtschaftsgeograph Chilla an. Er sieht das Potenzial, die Vernetzung der Region auf eine nächste Stufe zu heben und bezeichnet dabei die Achse zwischen Regensburg und Pilsen als „Role Model“ mit Luft nach oben. Gerade Pilsen und Regensburg seien durch ihre Wirtschaftskraft und Attraktivität Zugpferde, die die gesamte Grenzregion voranbringen. Was sind nun die Herausforderungen in dieser Grenzregion? Wohin steuert sie und welche Weichenstellungen sind für die Zukunft notwendig?

Achillesferse Infrastruktur

Einen enorm hohen Nachholbedarf sehen Experten und die regionale Politik bei der Infrastruktur. Und auch selbst fragt man sich als Bahnreisender, warum die Verbindung Prag – München als derzeit unzuverlässigste Strecke in ganz Bayern gilt. Die Antwort ist schnell gefunden – sie liegt an der maroden Gleistechnik auf deutscher Seite, während man auf tschechischer die Schiene zweispurig bis an die Grenze elektrifiziert hat. Bedauerlicherweise blieben im letzten Jahrzehnt von mehreren hochrangig besetzten deutsch-tschechischen Eisenbahnkonferenzen nur Absichtserklärungen übrig. Internationale Touristen, welche diese Relation in den Sommermonaten zuhauf nutzen, landen da mal schnell im Nirgendwo. Immerhin verbindet die Autobahn A6/D5 seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten die Nachbarn schnell und zuverlässig miteinander. Noch mehr Chancen würden sich durch regionale, grenzüberschreitende ÖPNV-Konzepte auftun.
Infrastruktur heißt im 21. Jahrhundert jedoch umso mehr, Digital- und Energienetze auszubauen, und dies sollte konsequent über die Grenze hinweg getan werden. Je mehr man im bayerischen Grenzraum nach Osten geht, umso schwächer wird das Mobilfunknetz, bis man im Funkloch landet. Wenn man dann ein paar Schritte weitergeht, erreicht einen mit Glück bereits das tschechische Netz. Mit dem 5GCorridor Munich-Prague soll das besser werden. 2020 haben Bayern und Tschechien die Absichtserklärung geschlossen, dass sie Hochgeschwindigkeits-Mobilfunknetze der fünften Generation (5G) gemeinsam errichten wollen.
Für die Sicherstellung der Energieversorgung von morgen wiederum böte der Grenzraum etwa ein erhebliches Flächenpotenzial für Windkraft und Photovoltaik. Limitierender Faktor sind der unzureichende Netzausbau auf beiden Seiten sowie die fehlenden grenzüberschreitenden Netze – nur bei Waidhaus verbindet eine Höchstspannungs-Trasse die Leitungen miteinander.

Neue Produkte für den Arbeitsmarkt

Immer öfter wird bei den Unternehmen in Bayern und Tschechien der Arbeitsund Fachkräftemangel zum Hemmschuh für Investitionen und Wachstum. Die Arbeitslosenquoten lagen selbst während der Corona-Krise nie wesentlich über dem Status Vollbeschäftigung. Da würde es schon per se nichts bringen, wenn zum Beispiel die bayerische Seite im großen Stil Fachkräfte aus Tschechien abwerben würde, wie von der tschechischen Politik ab und an befürchtet. Für die heimatverbundenen Grenzpendler aus Tschechien sind die ostbayerischen Arbeitgeber vor allem dank der geografischen Nähe interessant. Je weiter man sich in Westböhmen wiederum Pilsen nähert, umso mehr pendeln die Menschen dorthin.
Den Arbeitsmarkt beiderseits der Grenze stärken, das gelingt aus Sicht der Experten dann, wenn man gemeinsame Angebote schafft und darüber spricht. Mehr international ausgerichtete, gemeinsame Studiengänge oder betriebliche Ausbildungsmöglichkeiten im grenzüberschreitenden Kontext wären Produkte, mit denen die Nachbarregion am europäischen Arbeitsmarkt punkten könnte. Es sollten auch alle Möglichkeiten der Anwerbung von Fachkräften aus Drittstaaten ausgeschöpft und bürokratische Hürden bei der Integration von Geflüchteten und Zuwanderern aus dem Weg geräumt werden. Das wären Maßnahmen, welche der Region zum einen ein Profil geben und zum anderen ein Ansatz für ein professionelles Marketing, das den im Rest Europas oft unbekannten Grenzraum Ostbayern-Westböhmen attraktiv macht.

Gemeinsame Technologie- und Bildungsregion

Die IHK Regensburg und die Deutsch-Tschechische IHK haben mit ihrem Regionalbüro in Pilsen eine gemeinsame Ansiedlungs- und Bildungspolitik für die Nachbarregion im Blick. Die Anstrengungen richten sich auf die Verzahnung des Angebots der Hochschulen sowie der betrieblichen Aus- und Weiterbildung. Ein Beispiel ist die einjährige berufsbegleitende Qualifizierung zum Industrial Professional, welche die IHK in Westböhmen auf den Markt gebracht hat. Und als kooperatives Ausbildungsmodell bezeichnet man es, wenn deutsche Investoren in Tschechien in ihren Niederlassungen mit den örtlichen Berufsschulen zusammen junge Menschen fürs Berufsleben qualifizieren. Vor Ort klappt das seit Jahren sehr gut. In Prag stößt man aber auf taube Ohren, wenn man die Spitzenpolitik nach einer landesweiten Einführung der betrieblichen Ausbildung fragt.
Wie kann man die grenzüberschreitende Kooperation dennoch auf eine neue Stufe heben? „Wir wollen die Vision einer gemeinsamen Technologieund Bildungsregion Ostbayern-Westböhmen in die Tat umsetzen“, berichtet der Hauptgeschäftsführer der IHK in Regensburg Dr. Jürgen Helmes von einem Kick-off der Universitäten und Hochschulen der Oberpfalz und der Region Pilsen im Herbst 2023. „Wir teilen mit Ostbayern eine 200 Kilometer lange Grenze. Allein deswegen sollten wir auf allen Feldern von der Wirtschaft über die Kultur bis zur Bildungsund Forschungslandschaft noch intensiver zusammenarbeiten“, so Prof. Miroslav Lávička, Rektor der Westböhmischen Universität. Es mag heute zwar selbstverständlich sein, dass junge Menschen aus Tschechien und Deutschland im Nachbarland einen Studienaufenthalt absolvieren. Die Region würde jedoch noch mehr profitieren, wenn man zum Beispiel doppelte Studiengänge ostbayerischer und tschechischer Hochschulen in englischer Sprache anböte. Das lockt auswärtige Studierende in die Region, denen man im nächsten Schritt die hervorragenden beruflichen Perspektiven hier aufzeigen kann.

Grenzüberschreitende Vernetzung

Neben der Bildungskooperation ist das Potenzial zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen in Forschung und Entwicklung zwischen den Hochschulen Ostbayerns und Westböhmens groß. „Je mehr unsere Universitäten und Hochschulen miteinander kooperieren, umso attraktiver wird die gesamte Nachbarregion für Studierende und Lehrende, für Fachkräfte und für Akademiker. Hiervon wiederum profitiert unsere Wirtschaft“, weiß Helmes. Und es wirke auch nach innen. Bildung und Gleichwertigkeit der Berufsund Lebenschancen spielen für den Chamer Landrat und Oberpfälzer Bezirkstagspräsident Franz Löffler eine entscheidende Rolle. „Junge Leute wollen die Möglichkeiten ihres Berufs ausschöpfen. Denen müssen wir zeigen, dass sie das in der Region auch erreichen können.“
Dass die Oberpfalz und die Region Pilsen auf regionaler Ebene gut miteinander können, zeigt die grenzüberschreitende Vernetzung auch auf anderen Gebieten, in der Kultur oder etwa bei den Rettungsdiensten. Beim Gesundheitssystem wollen die Nachbarn nun noch weiter gehen, etwa die Notaufnahmen auf beiden Seiten der Grenze besser miteinander verzahnen. „Wenn es nur an uns liegen würde, wären wir hier schnell, aber das hängt auch immer an Prag und Berlin,“ merkt der Hauptmann der Region Pilsen Rudolf Špoták an.
Zum Glück machen Feuerwehr und Sanitäter an der Grenze heute nicht mehr halt. Ostbayerische und Westböhmische Nachbargemeinden führen gemeinsame Feuerwehrübungen durch. Bei Bier und Würsteln kommen sich spätestens danach die Nachbarn näher. Das trägt auch über Verständigungsprobleme bei der Sprache. Leider wurde es vor allem auf bayerischer Seite bis heute versäumt, die tschechische Sprache als Wahlpflichtfach auf die Lehrpläne zu bringen. Dabei wäre gerade die Sprache ein Schlüssel für das bessere Verständnis voneinander, wie das die Nachbarregionen zwischen Westdeutschland und Frankreich seit Jahrzehnten vor Augen führen.
Es gibt viele Baustellen, auf denen die Vernetzung zwischen Ostbayern und Westböhmen vorangetrieben werden sollte. Das weiß auch IHK-Hauptgeschäftsführer Helmes. „Europa findet hier bei uns in den Grenzregionen statt. Nicht Brüssel, sondern wir vor Ort müssen das europäische Haus bauen.“
Autor: Peter Burdack
IHK vor Ort in Pilsen
Bei allen Fragen zu wirtschaftlichen Themen im Nachbarland hilft das gemeinsame Regionalbüro Pilsen der IHK Regenburg für Oberpfalz / Kelheim und der Deutsch-Tschechischen IHK gerne weiter.