Wasserstoff - Hype oder Held?

„Wir brauchen Unternehmen, die bei dem Thema vorangehen“

Oliver Eich und Karsten McGovern von der LandesEnergieAgentur Hessen im Interview
© LandesEnergieAgentur
Wasserstoff gilt als Zukunftstechnologie und Hoffnungsträger für die Energiewende. Warum ist Wasserstoff so wichtig? Kann Deutschland mit Wasserstoff seine Klimaziele erreichen?
Dr. Karsten McGovern: Wasserstoff bietet sich als Speicher für regenerative Energien an. Er macht unsere Erneuerbaren Energien haltbar. Sie können damit zeitlich unabhängig genutzt werden. Diese Speicherfunktion ist notwendig für unser künftiges Energiesystem, so dass Wasserstoff eine wichtige Alternative zu den fossilen Energieträgern Kohle, Erdgas und Öl werden wird. CO2-frei ist die Wasserstoffherstellung vor allem, wenn diese mittels Elektrolyse und mit regenerativ gewonnenem Strom stattfindet, man spricht dann auch von „grünem“ Wasserstoff. Zur Erreichung der Klimaziele ist der Einsatz von vor allem grünem Wasserstoff insbesondere in der Industrie, beim Flug- und Fernverkehr und in einzelnen Wärmebereichen wichtig.
Was sind die Anwendungsgebiete und für wen lohnt sich die Umstellung besonders?
Oliver Eich: Vor allem für energieintensive Branchen wie beispielsweise die Stahl-, Zement- oder Chemieindustrie kommt eine Umstellung in Betracht, um die Klimaziele zu erreichen. Gerade für Mittel- und Hochtemperaturprozesse, die mit Strom nicht sinnvoll betrieben werden können, wird Wasserstoff als chemischer Energieträger ohne CO2-Emissionen gebraucht.
Im Bereich der Mobilität kann Wasserstoff zur Dekarbonisierung beitragen. Schwere LKW und Nutzfahrzeuge, der Luftverkehr oder die Schifffahrt können von Wasserstofftechnologie profitieren. Dies gilt auch für die Binnenschifffahrt, in der bereits erste Versuche laufen. Airbus arbeitet am Fliegen mit Wasserstoff auf der Kurz- und Mittelstrecke. Auf der Langstrecke wird nach derzeitigem Stand auch künftig noch Treibstoff benötigt. Wasserstoff ist hier aber wieder Teil der Lösung, da er die Basis für die Herstellung von CO2-neutralen Flugkraftstoffen (SAF) ist. Auch in Hessen wird an der Gewinnung von E-Kerosin gearbeitet, etwa durch das CENA. Im Wärmesektor wird Wasserstoff langfristig als ein möglicher Ersatz von Erdgas für die Fernwärmeerzeugung benötigt. Dies gilt auch für Kraftwerke. Für private Haushalte wird Wasserstoff in naher Zukunft kaum eine Rolle spielen.
Welche Herausforderungen müssen beim Transport von Wasserstoff bewältigt werden?
Oliver Eich: Da kommt es ganz auf die benötigte Menge an. Kleinere Mengen bis ca. 1000 Kilogramm werden meistens per Trailer auf der Straße transportiert. So werden beispielsweise Wasserstoff-Tankstellen versorgt.
Bei großen Mengen für die Industrie und Kraftwerke bietet sich der Transport über eine Pipeline an, also wie Erdgas heutzutage. Untersuchungen zeigen, dass ein Großteil des bestehenden Gasnetzes für die Durchleitung von Wasserstoff geeignet ist. Es müssen einzelne Einbauteile und Stationselemente getauscht werden, weil Wasserstoff mit einer anderen Geschwindigkeit und Druck transportiert wird sowie Metallverbindungen angreifen kann.
Sie reden vom Wasserstoff-Kernnetz Deutschland. Wie funktioniert das?
Dr. Karsten McGovern: Die Planungen des Wasserstoff-Kernnetzes beruhen auf der Umnutzung von bestehenden zum Beispiel parallel verlaufenden Erdgasleitungen und dem Bau neuer Leitungen. Für Hessen ist zum Glück jetzt auch eine neue Leitung durch Nordhessen in Planung. Dazu hat auch die Intervention des Landes Hessen und das Engagement zum Beispiel der nordhessischen IHK und der nordhessischen Unternehmensallianz beigetragen. Der genaue Trassenverlauf wird noch weiter geklärt. Insgesamt soll in Deutschland bis 2032 ein rund 9700 Kilometer langes Kernnetz entstehen, welches industrielle Zentren und Großverbraucher mit Wasserstoff versorgt
Wie ist Hessen in dieses Netz eingebunden?
Oliver Eich: Hessen ist durch zwei große Pipelines angebunden: Im Projekt „H2ercules“ ist eine Leitung vorgesehen, die vom Ruhrgebiet kommend über den Taunus verläuft, das westliche Rhein-Main-Gebiet durchquert und weiter nach Südhessen führt. Die zweite Pipeline im Projekt „FLOW – making hydrogen happen“ kommt von der Ostsee, erreicht Hessen im Bereich von Fulda und führt durch das Kinzigtal, das östliche Rhein-Main-Gebiet und den Odenwald. Im südhessischen Lampertheim treffen sich die beiden Leitungen und verlaufen weiter nach Süden.
Während diese beiden Leitungen in weiten Teilen eine Umstellung bestehender Gasfernleitungen sind, soll durch Nordhessen zusätzlich eine Neubauleitung führen, die von Eisenach in Thüringen nach Werne in Nordrhein-Westfalen verläuft. Der genaue Leitungsverlauf ist hier aber noch offen.
Mittelhessen ist auf der Landkarte ein weißer Fleck. Warum?
Dr. Karsten McGovern: Die Leitungen laufen vor allem an den großen energieintensiven Industriestandorten vorbei - wie zum Beispiel dem Industriepark Hoechst im Rhein-Main-Gebiet. In Mittelhessen sind die Bedarfe nicht an einer Stelle konzentriert, sondern eher in der Fläche verstreut. Es sind aber bereits Verteilnetze vom Kernnetz in die unterschiedlichen hessischen Regionen in Planung. Damit soll auch Mittelhessen entsprechend angebunden werden. Die LEA Hessen unterstützt diesen Prozess im Auftrag des Landes.
Inwiefern?
Oliver Eich: Vor knapp zwei Jahren haben wir die Energieversorger im Rhein-Main-Gebiet aufgesucht und gemeinsam einen sogenannten regionalen Wasserstoff-Backbone von 300 Kilometern skizziert. Wenn das Kernnetz die „Wasserstoff-Autobahnen“ sind, stellt der regionale Backbone quasi die „Bundesstraßen“ dar. Dieser Vorschlag wurde im August 2023 über das Hessische Wirtschaftsministerium veröffentlicht und bringt die Planungen der Netzbetreiber voran. Das gleiche setzen wir derzeit für Mittel- und Nordhessen um. Wir sind hier mit 13 Energieversorgern im Gespräch und wollen einen Entwurf bis Sommer 2024 vorstellen.  
Für diese Planungen müssen die Energieversorger wissen, welches Unternehmen wie viel Wasserstoff benötigt…
Oliver Eich: … Ja, dafür gehen die Gasnetzbetreiber auf die Unternehmen zu: Am 7. Februar 2024 startete eine neue Marktabfrage der Fernleitungsnetzbetreiber für künftige Bedarfe an Strom und Wasserstoff im Rahmen der Netzentwicklungsplanung. Das klingt sperrig, ist aber die Chance für Unternehmen bis zum 22. März 2024 ihre künftigen Wasserstoff-Bedarfe zu übermitteln. Auch die Verteilnetzbetreiber haben erste Kunden nach ihren Bedarfen abgefragt. Wichtig: Der Weg ist keine Einbahnstraße. Unternehmen, die Interesse an einem Anschluss haben, aber noch nicht von ihrem Energieversorger angesprochen wurden, sollten sich proaktiv melden – am besten bei ihrem zuständigen Versorger oder über die Bedarfsumfrage (siehe QR-Code). Denn genau jetzt ist die richtige Zeit, Bedarfe sichtbar zu machen! Viele Unternehmen wollen übrigens auch wissen, wie ihr Produktionsprozess konkret auf die neue Energie umgestellt werden kann. Auch da beraten wir von der LEA Hessen.
Was kostet das Wasserstoffnetz und wer bezahlt das?
Dr. Karsten McGovern: Die Investitionskosten für das Wasserstoff-Backbone für Rhein-Main und Südhessen haben wir auf ungefähr 540 Millionen Euro geschätzt. Die Investitionskosten für das Kernnetz Deutschland werden auf knapp 20 Milliarden Euro geschätzt. Das sind hohe Vorlaufkosten, die über Netzentgelte finanziert werden müssen.
Oliver Eich: Damit die ersten Kunden, die an ein Wasserstoff-Netz angeschlossen werden, nicht die ganzen Kosten tragen müssen, werden die Netzbetreiber voraussichtlich in Vorleistung treten. Für die Verluste, die über die ersten Jahre des Wasserstoff-Hochlaufs anfallen, ist die Einrichtung eines so genannten Amortisationskontos geplant. Bis 2055 möchte man die Verluste der Anfangszeit dann aufgeholt haben.
Das „Wasserstoff-Kernnetz“ soll bis Ende 2032 entstehen. Doch das ist aus Sicht der Wirtschaft viel zu spät – wer heute in H2-Technologien investieren soll, benötigt zwingend Planungssicherheit in Bezug auf Infrastruktur und Anschlussmöglichkeiten. Geht es auch schneller?
Dr. Karsten McGovern: Ja und Nein. Die Geschwindigkeit ist abhängig von der vermuteten Nachfrage, der Finanzierung der enormen Vorlaufkosten für den Leitungsaufbau und den dafür notwendigen Planungs- und Bauzeiten. Für das einzelne Unternehmen hängt die Geschwindigkeit davon ab, wie nah oder fern es an der künftigen Wasserstoffleitung liegt. Wer näher an der Wasserstoff-Leitung sitzt, hat mehr Chancen, schneller bedient zu werden. Wer vorher schon Gas über eine Leitung bezogen hat, die umgestellt werden soll, auch. In Rhein-Main und Südhessen rechnen wir mit Anschlüssen schon Ende des Jahrzehnts. Das Jahr 2032 ist das Ziel für das gesamte Kernnetz, aber schon vorher wird es Teilabschnitte geben. Der Ausbau ist mit dem initialen Kernnetz nicht zu Ende und wir rechnen auch auf der Verteilnetzebene mit Aktivitäten.
Welcher Wasserstoff wird durch die Leitungen fließen?
Oliver Eich: Für das Kernnetz geht man hauptsächlich von reinem Wasserstoff aus. Ziel ist natürlich grüner Wasserstoff, also erzeugt aus regenerativen Energien. Auf Verteilnetzebene sind auch Beimischungen, das heißt ein Mix aus Wasserstoff und Erdgas für eine Übergangszeit denkbar.
Dr. Karsten McGovern: Derzeit gibt es eine Debatte darüber, ob man verstärkt auf blauen Wasserstoff setzen sollte. Damit bezeichnet man Wasserstoff der aus Erdgas hergestellt wird und das dabei entstehende CO2 abgeschieden und gespeichert wird. Aktuell ist das in großem Maßstab noch nicht getestet und die Kosten sind sehr hoch. Daher ist mit einem Einsatz mittelfristig kaum zu rechnen.
Wo wird unser grüner Wasserstoff herkommen?
Dr. Karsten McGovern: Gemäß Einschätzung der Bundesregierung für 2030 wird maximal die Hälfte des prognostizierten Wasserstoffbedarf in Deutschland produziert werden können. Der größere Teil wird durch Importe gedeckt werden müssen. Der Bund will in den kommenden Jahren zehn Gigawatt an heimischer Erzeugungsleistung für grünen Wasserstoff aufbauen. Zum Vergleich: Ein größeres Kohlekraftwerk hat etwa ein Gigawatt Leistung. Durch Offshore-Windparks haben wir vor allem an der Küste viel Leistung. Also wird ein großer Teil an Wasserstoff aus Norddeutschland kommen.
Für die Importe von Wasserstoff entwickelt sich derzeit ein globaler Markt. Hier sind besonders Standorte mit hohen Erträgen an erneuerbaren Energien interessant.
Apropos Elektrolyseleistung: Einige Unternehmen in Hessen experimentieren bereits mit diesem Thema …
Oliver Eich: …und es ist auch sinnvoll, sich mit dem Thema schon zu beschäftigen. Diese Unternehmen sind Vorreiter in Sachen Wasserstoff, sind beim Thema Umstellung des Produktionsprozesses bestens vorbereitet und können direkt mit Wasserstoff arbeiten, wenn die Umstellung startet. Vor der Schaffung eines Netzanschlusses können sie Wasserstoff mit einem Trailer anliefern lassen oder ihn auf dem Unternehmensgelände mit einem Elektrolyseur selbst herstellen. Auf diese Weise lassen sich praktische Erfahrungen sammeln. Wir brauchen Unternehmen, die bei dem Thema vorangehen.
Was kostet die Erzeugung von Wasserstoff?
Oliver Eich: Den Marktpreis, wenn er über das Kernnetz bezogen wird, kann man noch nicht beziffern. Die Kosten für die Erzeugung hängen von vielen Faktoren ab. Aktuell kann in Deutschland eine Kilowattstunde grüner Wasserstoff mittels Elektrolyse zu Kosten von circa 20 bis 25 Cent erzeugt werden. Dabei spielt der Strompreis eine zentrale Rolle. Zum Vergleich: Eine Kilowattstunde Erdgas kostete im April 2023 für Gewerbekunden etwa 12 Cent, für Industriekunden auch unter 10 Cent. Die Erzeugungskosten für Wasserstoff werden aber in den kommenden Jahren tendenziell sinken, da die Elektrolyse-Technologie hochskaliert wird, erneuerbare Energien günstiger und die Erdgaspreise durch die CO2-Besteuerung steigen werden.  Das Interview führte Iris Baar

LandesEnergieAgentur (LEA)
Hessen soll 2045 klimaneutral sein. Die LandesEnergieAgentur (LEA) Hessen übernimmt im Auftrag der Hessischen Landesregierung zentrale Aufgaben bei der Umsetzung der Energiewende und des Klimaschutzes. Die LEA berät unter anderem hessische Kommunen und unterstützt bei kommunalen Strategien und Maßnahmen zum Klimaschutz, zur Energieeffizienz, zur Energieeinsparung und zum Ausbau erneuerbarer Energien. Die Agentur versteht sich auch als Informationsplattform für Bürger sowie für Unternehmen und alle Arten von Organisationen in Hessen.

Das Land Hessen unterstützt und fördert die Entwicklung und den Einsatz der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie. Im Rahmen der hessischen Wasserstoffstrategie wurde bei der LEA die Landesstelle Wasserstoff eingerichtet. Sie ist zentrale Ansprechpartnerin des Landes Hessen zum Thema und unterstützt unter anderem durch individuelle Beratung, Machbarkeits- und Begleitstudien, Informationen zu Fördermöglichkeiten oder organisiert Fachworkshops und Konferenzen wie das jährliche Brennstoffzellenforum Hessen.

Bedarfsermittlung und Fördermöglichkeiten finden Sie hier.
LahnDill Wirtschaft März/April 2024