
Das Kohle-Wirrwarr
Der von Land, Bund und RWE beschlossene Kohleausstieg 2030 steht endgültig vor dem Aus.
Text: Willi Haentjes
Es geistert in diesen Tagen ein Satz durch die Flure des Düsseldorfer Landtags: Nur noch sehr wenige Menschen in NRW glauben an den Kohleausstieg 2030 – und eine davon ist Mona Neubaur. Aber mittlerweile kommt selbst die grüne Wirtschaftsministerin ins Zweifeln …
Um die Dramatik dieser Zweifel zu verstehen, muss man wissen: Die Bereitschaft zum vorzeitigen Kohleausstieg gehört zum schwarz-grünen Kitt, der die Landesregierung zusammenhält. Fällt dieser Grundkonsens weg – was bleibt dann noch zum Regieren?
Der Koalitionsvertrag von CDU und Grünen aus dem Jahr 2022 trägt den Namen „Zukunftsvertrag“. Auf 146 Seiten ist der Umbau der Wirtschaft das zentrale Element, Kapitel 1 trägt den Namen: „Klimaneutrales Industrieland.“ Auf Seite 15 heißt es: „Wir wollen den Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen bis 2030 umsetzen. Die Versorgungssicherheit werden wir gemeinsam mit der Bundesregierung zu jedem Zeitpunkt gewährleisten und dazu jeweils notwendige Maßnahmen ergreifen."
Der Block „Weisweiler F“ ging am 1. Januar 2025 vom Netz.
Raus aus der Kohle, nicht erst 2038, sondern schon 2030! Dieser gemeinsame Nenner der schwarz-grünen Partnerschaft, er scheint sich langsam, aber sicher auseinanderzudividieren. Denn: Immer mehr Industrieunternehmen, egal ob aus dem Mittelstand oder größere Konzerne, leiden unter zu hohen Strompreisen. Sie sind im internationalen Vergleich nicht mehr wettbewerbsfähig, verglichen mit den USA beispielsweise ist der deutsche Strom drei Mal so teuer. Der Effekt: Sie wandern ab oder investieren im Ausland. Und: Der Ausbau von Ersatzkraftwerken und Speichern geht nicht so schnell voran wie gedacht.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst.
Dabei wiederholte Hendrik Wüst vor der Landtagswahl 2022 regelmäßig einen Satz, um seine Bereitschaft zu Schwarz-Grün zu betonen: „Wenn wir wirklich etwas fürs Klima tun wollen, dann geht das nur, wenn wir der Welt vormachen, wie man dabei gute Arbeitsplätze, Wohlstand und soziale Sicherheit erhält. Denn sonst macht uns das auf der ganzen Welt keiner nach.“ Zweieinhalb Jahre später ist von diesem Satz nichts mehr geblieben. Gute Arbeitsplätze in der Region? Werden abgebaut, ein Drittel der Unternehmen in Metall- und Elektroindustrie müssen 2025 Jobs abbauen, zeigt eine Branchenumfrage. Der Wohlstand? Bröckelt bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten. Soziale Sicherheit? Ergibt sich aus Arbeitsplätzen und Wohlstand und entwickelt sich daher mehr und mehr zu einer sozialen Unsicherheit.
Die K-Frage in NRW
Im Herbst 2022, als sich Bund, Land und RWE auf die Eckpunkte des Ausstiegs einigen, sagte Neubaur bestimmt: „Wir ziehen den Kohleausstieg um acht Jahre auf 2030 vor.“ Die Verhandlungen hätten einen „erfolgreichen Abschluss“ gefunden, es werde „Klarheit“ geschaffen, das Ergebnis sei „ein starkes Signal für Entschlossenheit und Klimaschutz“.
Von dieser Rhetorik hat sich Neubaur verabschiedet. Auf Nachfrage der IHK Köln, ob der Kohleausstieg 2030 noch zu halten sei, antwortet das Wirtschaftsministerium von Mona Neubaur aktuell wie folgt: „Der geplante Braunkohleausstieg bis 2030 im Rheinischen Revier bleibt Ziel der Landesregierung und ist im Kohleverstromungsbeendigungsgesetz des Bundes geregelt. Allerdings hängt die Umsetzung von den Rahmenbedingungen ab. Der Bund ist verantwortlich, den Bau von modernen, steuerbaren Gaskraftwerken, die perspektivisch auf Wasserstoff umgestellt werden können, anzureizen. Bislang hat der Bund seinen Teil der Abmachung leider nicht eingehalten.“
Es mag eine sprachliche Nuance sein, aber die Kernaussage dieser Antwort hat immense Tragweite: Auf einmal ist der Ausstieg nicht mehr „Klarheit“, sondern nur noch „geplant“ und ein „Ziel“.
Gaskraftwerke kommen nicht
Das Neubaur-Ministerium schiebt den Schwarzen Peter nach Berlin, die mittlerweile aufgelöste Ampelregierung habe nicht geliefert. Auch Ministerpräsident Wüst befeuert diese Lesart. Hintergrund: Die sogenannte Kraftwerksstrategie des Bundes sollte den Bau von neuen, wasserstofffähigen Gaskraftwerken beschleunigen, diese Kraftwerke wiederum das Kohle-Aus kompensieren. Das dazu passende Gesetz wurde aber mit der Ampel beerdigt, es gibt keine politische Mehrheit dafür. NRW liefere, Berlin trödele – diese Erzählung verkennt die Rolle der Düsseldorfer Landesregierung. Sie war die treibende Kraft hinter dem vorzeitigen Ausstieg und kann dennoch bis heute keine Strategie vorlegen, wie das Kohle-Aus kompensiert werden soll. Nach dem Motto: Schnell abschalten. Was danach kommt, mögen andere für uns klären.
NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur.
Das Problem an diesem Kohle-Wirrwarr: Bisher wurde nicht ein einziges Gaskraftwerk auch nur beantragt – während die Braunkohle-Kraftwerke weiter planmäßig vom Netz gehen.
Ein Beispiel: Zum 1. Januar 2025 wurde das Braunkohle-Kraftwerk „Weisweiler F“ mit einer Netto-Nennleistung von 321 MW stillgelegt. 321 Megawatt, das entspricht einer Leistung von 53 Windkrafträdern. Windkrafträder sind jedoch nicht grundlastfähig. Wie wichtig hingegen eine sichere Grundlast sein kann, hat sich ausgerechnet in den Tagen vor dem finalen Aus von „Weisweiler F“ gezeigt: Am 27. und 28. Dezember 2024 gab es kaum Wind und Sonne. Der Anteil an Braunkohle lag in dieser Zeit im deutschen Strom-Mix deutlich über dem der Erneuerbaren Energien. „Weisweiler F“ wurde in dieser Zeit unter Volllast betrieben.
Das Problem mit der Dunkelflaute
Bei der nächsten Dunkelflaute (keine Sonne, kein Wind) muss der bisher von „Weisweiler F“ produzierte Strom aus dem Ausland dazugekauft werden. In der Regel sind diese Importe Atomstrom aus Frankreich oder Belgien oder Kohlestrom aus Polen – also aus exakt den Energiequellen, die in Deutschland entweder schon abgeschaltet wurden oder jetzt nach und nach abgeschaltet werden. In Deutschland gehen in diesem Jahr noch zwei weitere Kohlekraftwerke vom Markt, beide mit Steinkohle betrieben.
Wie diese politisch herbeigeführte Stromlücke geschlossen werden soll, ist weiter unklar. Klar ist nur: In dem Tempo, in dem Deutschland und NRW konventionelle Kraftwerke vom Netz nehmen, können weder Alternativen noch Speicher aufgebaut werden.
Großes Problem: Der Netzausbau hinkt hinterher.
„Zu knappes Angebot“
Mittlerweile warnt selbst RWE-Chef Markus Krebber vor der realen Gefahr einer Stromknappheit durch Dunkelflauten. „Das gesamte System kam an seine Grenzen“, sagte Krebber im Podcast „Handelsblatt Disrupt“ mit Blick auf eine zweitägige Dunkelflaute bereits im November. Zwei Tage und das System war am Rande des Kollapses. Zum Vergleich: Im Winter 1997 gab es eine Dunkelflaute, die fast zwei Wochen(!) dauerte. Krebber weiter: „Die sehr hohen Preise sind eine absolut sichere Indikation für den Zustand der Versorgungssicherheit in Deutschland. Sie sind Ergebnis des zu knappen Angebots.“ Heißt: Wenn wir uns weiter im Winter auf Wind und Sonne verlassen, gehen irgendwann die Lichter aus. Und vorher steigen die Preise.
RWE-Chef Markus Krebber warnt vor dem Dunkelflauten-Effekt.
Und was passiert, wenn der Kohleausstieg 2030 verschoben wird? Auch diese Frage haben wir dem Wirtschaftsministerium NRW gestellt und folgende Antwort erhalten: 2026 soll die Gesamtsituation überprüft werden und gegebenenfalls eine Kohle-Verlängerung bis 2033 ermöglicht werden. „Die konkrete Ausgestaltung des Reservebetriebs ist noch offen und müsste ebenfalls 2026 bundesgesetzlich geregelt werden.“ Heißt: Eigentlich weiß niemand so genau, wie es weitergeht („noch offen“). Aber alle wissen eigentlich: Der Kohleausstieg 2030 wird nicht zu halten sein.
Unsichere Energieversorgung
Das Prüfszenario für 2026 war tatsächlich von Anfang an als „doppelter Boden“ für die Politik mit eingeplant. Nur während der Politik vier Jahre reichen, um Entschlüsse zu revidieren und Gesetze anzupassen, planen energieintensive Unternehmen in wesentlich längeren Zyklen: Anlagen in der Industrie haben oft zehn Jahre Planungsvorlauf. Diese Firmen müssen deshalb bereits heute wissen, wie die Energieversorgung in zehn Jahren aussieht – und dürfen nicht die berechtigte Sorge haben, dass Energieversorgung nicht mehr verfügbar oder extrem teuer sein wird.
Warnungen vor dieser Fehlentscheidung gab es genug: Die Studie „Versorgungssicherheit für NRW im Jahr 2030“ vom Energiewirtschaftlichen Institut an der Universität zu Köln (EWI) zeigte im April 2023, dass bei einem Kohleausstieg 2030 die Importkapazitäten nicht mehr ausreichen, um die Nachfrage zu decken. Abschaltungen wären die Konsequenz. Die IHK Köln hat den vorgezogenen Ausstieg mit Blick auf die Versorgungssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie immer und auch öffentlich kritisiert. In der Resolution „NRW muss Industrieland bleiben!“ heißt es im Juni 2023: Kein Ausstieg ohne gesicherten Einstieg. „Unser Strombedarf wird weiterwachsen. Die Industrieunternehmen brauchen in Zukunft ,grüne‘ Energie. Deshalb fordern und unterstützen wir den zügigen Ausbau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen. Doch für unsere Wirtschaft brauchen wir gesicherte und regelbare Leistung aus Gaskraftwerken.“
Die breite Mehrheit der Unternehmen im Kammerbezirk der IHK Köln bekennt sich zum Ziel der Klimaneutralität und der Bekämpfung des Klimawandels. Auf dem Weg zu diesem Ziel stehen aber alle Beteiligten vor einer doppelten Herausforderung, wie die IHK-Vollversammlung in einer Resolution vom 28. März 2022 festhielt: „Zum einen kostet der beschleunigte Kohleausstieg Beschäftigung und Wertschöpfung in der Braunkohlewirtschaft und bei verknüpften Unternehmen. Diesem Effekt muss durch die Ansiedlung neuer, möglichst klimaneutraler Industrieunternehmen begegnet werden.
Zum anderen ist unsere Wirtschaftsregion geprägt von energieintensiven Industriezweigen. Sie benötigen auch in Zukunft wettbewerbsfähige Energiepreise sowie einen in Qualität und Quantität verlässlichen Zugang zu Strom und anderen Energieträgern.“
Standort in Gefahr
Das Thema ist auch längst im Bundestagswahlkampf angekommen. Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sagte Mitte Januar in Bochum: „Wir steigen nirgendwo mehr aus, bevor wir nicht entschieden haben, wo wir einsteigen.“ Auch er wolle aus den fossilen Energieträgern raus, aber wenn Kohle-Kraftwerke ohne den entsprechenden Ersatz vom Netz gehen, würde das „den Standort für die Industrie in Deutschland massiv gefährden.“
Beim Neujahrsempfang der IHK Köln wurde Bundeskanzler Olaf Scholz konkret gefragt, wie er seine Energiepolitik ändern will, wenn er die Wahl gewinnt. Die Antwort war: Keine grundsätzlichen Korrekturen, nur mehr Geschwindigkeit. Scholz wörtlich: „Also ist der Weg jetzt, die Hürden, die bisher entgegenstehen, beseitigen, das Tempo zu Ende führen und dafür sorgen, dass wir bezahlbare Energie haben. Das ist Grundlage für wirtschaftlichen Wohlstand.“
Mehr Fragen als Antworten
Schneller raus aus der Kohle, eventuell wieder rein in die Kohle … Es wird Teil der nächsten Bundesregierung sein, das Kohle-Chaos von NRW mit aufzuräumen. Denn aus der aktuellen Lage ergeben sich mehr Fragen als Antworten: Warum wird eigentlich erst 2026 überprüft, ob es einen Reservebetrieb geben soll, wenn man sich heute schon darauf vorbereiten müsste? Sind parteipolitische Interessen etwa relevanter als die Energiesicherheit im Westen? Wer betreibt nach 2030 die Kohlekraftwerke im Rheinischen Revier? Was, wenn dann auch die Reserve bis 2033 nicht reicht und darüber hinaus noch Kohle benötigt wird für die Energiesicherheit im Land? Weil auch acht Jahre nicht reichen, um ausreichend Gaskraftwerke aufzubauen?
Klar ist nur eins: Die Energiepolitik braucht eine klare Kurskorrektur. Sonst besteht die Sorge, dass das MWIKE (Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie) und auch unsere IHK das große „I“ aus ihren Namen streichen müssen, weil kaum noch Industrie da ist … +
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