BW 06/2021 – Schwerpunkt

Auf dem Weg zur Fachkraft

Auch wenn in der Corona-Krise die Suche nach qualifiziertem Personal für viele Unternehmen nicht ganz oben auf der Agenda steht, ist eine Zahl trotzdem alarmierend: 377.000 Fachkräfte werden der Berliner Wirtschaft laut aktuellem IHK-Fachkräftemonitor voraussichtlich im Jahr 2035 fehlen. Um diesen dramatischen Mangel zu reduzieren, ist es wichtiger denn je, dass sich Unternehmen um die Ausbildung eigener Fachkräfte kümmern. Eine Investition, die sich mit Sicherheit auszahlen wird.
Das weiß auch das Feinkost-Unternehmen Lindner. Und so wird es, wenn im August und September wieder Tausende Berliner Jugendliche ihre Ausbildung beginnen, trotz Pandemie mehr Auszubildende begrüßen als im Vorjahr. „Schon im Sommer 2020 waren es mehr als im Jahr zuvor“, sagt Julian-Alexander Schieke, Referent Ausbildung bei Lindner, „weil es für uns nur konsequent ist, dass wir in die Ausbildung jetzt noch mehr Engagement und Priorität stecken.“ Derzeit bildet die Firma mit 38 Märkten in Berlin, neun in Hamburg und einem in Potsdam rund 40 Azubis in acht Berufen aus.
„Eine zentrale Stärke sind unsere Ausbilderinnen und Ausbilder, die oft selber schon Lindner- Azubis waren“, erklärt Schieke, „weil sie mit Leidenschaft und Erfahrung die Auszubildenden begleiten, sie unterstützen, fördern und ermutigen, auch Verantwortung zu übernehmen – in den Filialen bekommen Azubis im dritten Lehrjahr beispielsweise Tagesverantwortlichkeiten und vertreten somit die Filialleitung.“
Lindner-Auszubildende gehören regelmäßig zu den besten ihrer Jahrgänge, weil sie in intensiven Seminaren auf ihre Prüfungen vorbereitet werden. „Wir bieten darüber hinaus spannende Stationen in den Umlaufplänen“, so Schieke, „zahlen eine hohe Ausbildungsvergütung, bezuschussen Altersvorsorge und Berufsunfähigkeitsversicherung, gewähren einen Mitarbeiterrabatt sowie einen zusätzlichen Urlaubstag am Geburtstag und garantieren bei überzeugendem Engagement die Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis.“ Für die ambitionierte Ausbildung junger Menschen in seinem Unternehmen erhielt Lindner- Geschäftsführer Michael Lindner 2007 sogar das Bundesverdienstkreuz.
„Nicht nur Auszubildende bewerben sich in Unternehmen, heute müssen sich auch die Unternehmen bei den Auszubildenden bewerben“, weiß Julian-Alexander Schieke. „Unsere freien Ausbildungsplätze schreiben wir auf einer großen Online-Azubi-Stellenbörse aus, nutzen seit Jahren die Lehrstellenbörse der IHK, und wir sind ebenso im Portal ausbildung.berlin vertreten.“ Zudem stelle Lindner sich auf Ausbildungsmessen vor und suche den Kontakt zu Schulen, um sich als Ausbildungsbetrieb zu präsentieren. „Hier streben wir langfristige Kooperationen an, zum Beispiel in Form von Betriebspraktika, Betriebsbesichtigungen oder Veranstaltungen in der Schulküche.“ Und wo immer möglich, würden Azubis ins Recruiting eingebunden, um Bewerbern Informationen aus erster Hand zu vermitteln.

Azubis in Kurzarbeit

Lindner konnte seine Geschäfte – unter erschwerten Corona-Bedingungen – öffnen und musste nur in der Catering-Abteilung anteilig Kurzarbeit anmelden. So ist das Familienunternehmen noch relativ glimpflich durch die Krise gekommen. Vielerorts sieht das ganz anders aus: Ausbildungsbetriebe mussten ihre Azubis in Kurzarbeit schicken und stellten erst gar keine neuen ein. Im Pandemie-Jahr 2020 haben so wenige Menschen in Deutschland eine Ausbildung begonnen wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge brach laut Statistischem Bundesamt im Vergleich zum Vorjahr um 9,4 Prozent auf 465.200 ein – in Berlin sogar um 12,1 Prozent auf 13.700. Für dieses Jahr wird ein Rückgang bei den Neuverträgen in der Hauptstadt um 15 Prozent prognostiziert, weil wegen der Corona-Krise sowohl die Berufsberatung an den Schulen als auch die Ausbildungsmessen ausfallen mussten.
Bereits im vergangenen Jahr haben IHK und Handwerkskammer mit der Kampagne #Zukunft- Berlin begonnen, die Jugendliche und Unternehmen mit einer Reihe von Maßnahmen sowohl bei der Berufsorientierung als auch beim Matching unterstützen soll – zum Beispiel mit einer Berufsorientierungshotline für Jugendliche oder einer virtuellen Ausbildungsmesse. Seit diesem Jahr gibt es mit der Metasuchmaschine ausbildung.berlin nun erstmals ein Portal, auf dem tatsächlich alle freien Ausbildungsplätze in der Hauptstadt zentral zu finden sind – derzeit mehr als 6.500. Und mit diversen Beratungs- und Informationsangeboten unterstützt die IHK Berlin Unternehmen, die ausbilden wollen, und Jugendliche, die Ausbildungsplätze suchen.
„Der erwartete Fachkräftemangel in Berlin ist auch darauf zurückzuführen, dass in den kommenden Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen werden“, sagt Gunda Schnock, Ausbildungsberaterin bei der IHK Berlin. „Die duale Ausbildung sichert der Wirtschaft den dringend benötigten beruflichen Nachwuchs und bietet jungen Menschen eine verlässliche Zukunftsperspektive.“ Die IHK Berlin berät lokale Unternehmen beispielsweise über Voraussetzungen der Berufsausbildung, Ausbildungspflichten und -pläne, die Bestellung von Ausbildern, zur Eignung der Ausbildungsstätte oder zur Durchführung der Ausbildung wie etwa die Freistellung Auszubildender für den Berufsschulunterricht. Dafür halten die IHK-Berater regelmäßig Kontakt zu Ausbildungsbetrieben und Ausbildern, besuchen normalerweise Unternehmen, um vor Ort mit Rat und Tat zu unterstützen.
In der Pandemie mussten persönliche Besuche zwar drastisch zurückgefahren werden, beraten wird aber genauso intensiv per Telefon, über Hotlines oder digitale Formate. Zudem wurde in Umfragen ermittelt, welchen Beratungsbedarf Unternehmen haben, um gezielt zu reagieren und Ausbildungsbetriebe bei allen Anliegen und Corona- Fragen behilflich zu sein. So wird es Firmen auch ermöglicht, neu in die Ausbildung zu starten.
„Wer in seinem Betrieb erstmals ausbilden möchte, wendet sich an die zuständige Kammer, deren Ausbildungsberater dann zunächst die Eignung der Ausbildungsstätte für den angestrebten Ausbildungsberuf prüfen und die erforderliche Qualifikation der Ausbilder feststellen“, erläutert IHK-Beraterin Schnock. „Wir besprechen mit den Betrieben auch, ob die zu vermittelnden Inhalte für den Ausbildungsberuf umfassend abgebildet werden können oder ob gegebenenfalls eine Verbundausbildung infrage kommt – ein Teil der betrieblichen Ausbildung also an einem zweiten Ausbildungsort stattfindet, bei einem zweiten Unternehmen oder einer Ausbildungseinrichtung.“ Sind die Voraussetzungen erfolgreich geprüft, werde der Betrieb als Ausbildungsstätte eingetragen und der Ausbilder registriert. „Nach der Eintragung kann dann bereits viel über unser Online-Portal erfolgen“, so Schnock, „zum Beispiel die Erstellung eines Ausbildungsvertrages oder die Anmeldung zur Abschlussprüfung.“

Prämien für KMU vom Bund

Um die Pandemie-Folgen abzufedern, hat die Bundesregierung das Programm „Ausbildungsplätze sichern“ aufgelegt. Kleine und mittlere Unternehmen können Ausbildungsprämien beantragen, wenn sie in der Krise ihr Ausbildungsniveau halten (bislang 2.000 Euro pro Ausbildungsvertrag, für das kommende Ausbildungsjahr 4.000) oder mehr Ausbildungsplätze einrichten (bislang 3.000 Euro, für das kommende Ausbildungsjahr 6.000). Werden derzeit nur Unternehmen mit bis zu 249 Beschäftigten bezuschusst, kommen fürs nächste Ausbildungsjahr auch Betriebe mit bis zu 499 Mitarbeitern dazu. Das Feinkost-Unternehmen Lindner mit rund 750 Beschäftigten konnte diese Prämien nicht abrufen. „Sie wären ein wichtiger Beitrag für die Weiterentwicklung der digitalen Ausbildung, gerade um Lücken zu schließen, die sich aufgrund der notwendigen Distanz zur Schule ergeben“, bedauert Lindner-Ausbildungsreferent Julian-Alexander Schieke.
Von der Corona-Krise besonders gebeutelt ist – neben Gastronomie oder Hotellerie – die MICE-Branche, die in Berlin mit über 44.000 Vollzeit-Arbeitsplätzen vor der Pandemie Tagungen, von Unternehmen veranstaltete Anreiz- und Belohnungsreisen, Kongresse und Messen sowie Firmenjubiläen und andere Veranstaltungen organisierte und belieferte. Eine dieser MICE-Firmen ist die Reinickendorfer Edelmat Veranstaltungstechnik, die nicht nur Kongresse und Business Events konzipiert, sondern dafür auch Veranstaltungstechnik vermietet und vertreibt. Im vergangenen Jahr realisierte der Betrieb mit aktuell acht Vollzeitkräften, zwei Azubis und einer Praktikantin gerade noch etwas mehr als 400 Projekte, vor Corona waren es dagegen mehr als 2.000 jährlich. „Da die Ausbildung bei uns einen sehr hohen Stellenwert hat, haben wir trotz des massiven Einbruchs keine Kurzarbeit für Azubis und Ausbilder angemeldet“, sagt Edelmat-Prokurist Ayke Bröcker, der auch selbst ausbildet.
„Wir arbeiten gemeinsam mit den Auszubildenden am Ausbildungsziel und lehren die Inhalte des Rahmenplans in individueller Anpassung auf den Azubi, da jeder Mensch in einer anderen Geschwindigkeit lernt.“ Außerdem, so Bröcker, werde bei Edelmat, mehrfach ausgezeichnet für exzellente Ausbildungsqualität, nach besonderen Interessen oder Stärken der Azubis geschaut. „Interessiert sich einer zum Beispiel sehr für Lichttechnik, suchen wir nach geeigneten Schulungen oder Fortbildungen.“ Zudem könnten Azubis in der flachen Hierarchie aktiv mitgestalten und sich entwickeln. „Wir haben eine Kooperation mit einem Radiosender, der regelmäßig Konzerte veranstaltet – und diese Konzerte planen die Auszubildenden und führen sie auch durch, anfangs mit der nötigen Unterstützung und später fast eigenständig.“
Geeignete Kandidaten werden bei Edelmat in Praktika getestet. „Das ist nicht nur für uns als Betrieb wichtig, sondern auch für den jungen Menschen, der sich das erste Mal in seinem Leben eine Firma aussucht, in der er mindestens drei Jahre arbeiten möchte.“ Natürlich, sagt Bröcker, bilde Edelmat vor allem aus, um die Azubis hinterher auch zu übernehmen. Sein Ratschlag an Betriebe, die noch nicht ausbilden und denen mittelfristig wieder der Fachkräftemangel droht: „Wer die besten Mitarbeiter haben will, sollte mit der eigenen Ausbildung beginnen.“ Ayke Bröcker hofft, dass sich der noch im Nebel liegende Planungshorizont schnell lichtet und seine Firma wieder wie vor der Pandemie loslegen kann – auch mit neuen Azubis.

Projekt Ausbildungshotel

Neue Auszubildende haben die Albrechtshof Hotels bereits bekommen, ohne dafür Plätze ausgeschrieben oder Bewerber rekrutiert zu haben. „Seit Anfang Februar sind wir nämlich Partner des Projekts ,Ausbildungshotel‘“, erklärt Ausbildungsleiterin Anne Kahlich, „und fangen gemeinsam mit der Kiezküchen GmbH vom Verein Bildungsmarkt Azubis auf, die ihre Ausbildung in ihren pandemiebedingt geschlossenen Betrieben nicht weiterführen können.“ Elf junge Menschen bilde man derzeit über dieses Projekt weiter aus, und noch mehr würden sicherlich folgen. „Geplant sind bis zu 48 zusätzliche Auszubildende.“ Wie lange sie in den Albrechtshof Hotels bleiben, ist angesichts der derzeitigen Situation noch unklar. „Wenn sich die Gesamtlage verbessert und die Auszubildenden in ihre Betriebe zurückkehren, werden wir kurzfristig reagieren und wieder Ausbildungsplätze ausschreiben.“ Über das vom Berliner Senat geförderte und von der IHK angestoßene Projekt „Ausbildungshotel“ vermitteln die Bildungsträger Inab und Kiezküchen GmbH Auszubildende aus dem Hotel- und Gastgewerbe, die wegen Corona sonst ihre Ausbildung unterbrechen müssten, an das Abacus Tierpark Hotel oder die Albrechtshof Hotels, weil die auch in der Corona-Krise als wirtschaftlich abgesichert gelten.
Die Albrechtshof Hotels seien ganz normale Hotels mit Komfort, Tradition, Individualität und Qualität, sagt Direktor Matthias Zwielong – und doch mit ein bisschen mehr an Atmosphäre, Herzlichkeit und Menschlichkeit. Albrechtshof, Allegra und Augustinenhof in Berlin sowie das Luther-Hotel in Wittenberg werden, neben anderen Beherbergungsbetrieben, von Unternehmen der Berliner Stadtmission betrieben. Deshalb bekommen die Auszubildenden – aktuell sind es insgesamt 27 für sechs Berufe – nicht nur eine fundierte Ausbildung und dürfen auf quartalsweise stattfindenden Azubi-Tagen einzelne Teilbereiche des Hotelbetriebs leiten. Auch ihre Sozialkompetenz wird besonders gefördert: durch Einsatztätigkeiten in der sozialen Arbeit der Stadtmission, beispielsweise in der Notübernachtung für Obdachlose. „Als Unternehmen der Berliner Stadtmission fühlen wir uns unserer Stadt verpflichtet“, sagt Direktor Zwielong, „wir erwirtschaften Gewinne für die Berliner Stadtmission, die wiederum unterschiedliche soziale Projekte und Einrichtungen in Berlin und Umgebung fördert – damit leisten Mitarbeitende und Auszubildende durch ihren täglichen Einsatz einen Beitrag für eine bessere und lebenswerte Stadt.“
Der Albrechtshof und das Luther-Hotel seien weiterhin für Geschäftsreisende und Tagungsgäste geöffnet, „und in den anderen Häusern versuchen wir, durch Alternativnutzungen und temporäre Projekte die Pandemie-Zeit sinnvoll zu überbrücken“, so Zwielong. Zudem gebe es eine hohe Nachfrage nach Take-away-Mahlzeiten im Albrechtshof- Restaurant Alvis. „Dadurch sind wir in der Lage, auch weiterhin eine geregelte und fachlich hochwertige Ausbildung zu gewährleisten.“ Auch außerhalb des Betriebs kümmert sich das Unternehmen um seine Auszubildenden: „Wir haben beispielsweise auf den angespannten Wohnungsmarkt in Berlin reagiert und eine erste Albrechtshof- Azubi-WG gegründet.“

Eigenständigkeit in der Ausbildung

Trotz Corona bildet auch das Tempelhofer Unternehmen Artwizz, das Zubehör für Smartphones, Notebooks, Tablets und Smartwatches entwickelt und produziert, weiterhin Kaufleute für E-Commerce aus. Nach einem betrieblichen Ausbildungsplan, der sich am Rahmenlehrplan orientiert, aber auf die spezifischen Belange der Firma zugeschnitten ist, durchlaufen Artwizz-Azubis sämtliche Abteilungen des Betriebs, dürfen allerdings auch an eigenen Projekten arbeiten. „Sie werden dabei“, sagt Manuel Funk, Abteilungsleiter B2C und Ausbilder bei Artwizz, „von einem Ausbilder unterstützt, sind aber ansonsten eigenständig tätig.“ Junge Leute wachsen damit in Verantwortung, werden selbstbewusst und identifizieren sich immer mehr mit ihrem Betrieb.
Weil Artwizz seine Produkte zum Großteil über den stationären Handel vertreibt, der aber im Lockdown weitgehend geschlossen blieb, entschloss man sich im vergangenen Jahr, unter der Marke ArtwizzCare Masken, Einweg-Handschuhe und Desinfektionsmittel zu beschaffen und zu produzieren. „Mit diesen Coronaschutz- Produkten konnten wir einen Beitrag zur Versorgung leisten und teilweise unseren Umsatzeinbruch ausgleichen“, sagt Funk. Der Ausbilder geht davon aus, dass auch in diesem Jahr wieder Ausbildungsplätze vergeben werden.
„Trotz Corona ist die Ausbildungsbereitschaft vieler Unternehmen ungebrochen hoch“, sagt Gerd Woweries, Geschäftsführer des ABB Ausbildungszentrums, das als Verbundpartner Teile der praktischen Ausbildung in 18 Metall- und Elektroberufen für rund 200 Firmen der Region übernimmt. „Für das kommende Lehrjahr sind noch viele Ausbildungsplätze offen – bei der Besetzung dieser Stellen helfen wir unseren Verbundpartnern.“ Junge Menschen, so Woweries, sollten wissen, „dass es für Fachkräfte ausgezeichnete Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt gibt“. Denn irgendwann wird die Corona-Pandemie so weit eingedämmt sein, dass wieder normal gelebt und gewirtschaftet werden kann. Und dann müssen sich vor allem jene Unternehmen, die engagiert und kreativ ausgebildet haben, keine Sorgen um ihren qualifizierten Nachwuchs machen.
von Almut Kaspar