Johann Desch von Alexander Köhl, Biograf, Mainaschaff

Pionier der Aschaffenburger Bekleidungsindustrie

Für gewöhnlich bietet ein Krieg nicht das ideale Umfeld für Fortschritt und Innovation. Doch im Deutschen Krieg 1866 bestätigte eine Ausnahme die Regel. In jenem Jahr machte der junge Schneidergeselle Johann Desch eine Beobachtung, die die Welt der Herrenoberbekleidung nachhaltig revolutionierte.
Johann Desch erblickte am 27. April 1848 in dem kleinen Dorf Glattbach das Licht der Welt. Nach dem Besuch der Volksschule absolvierte er von 1862 bis 1865 in Aschaffenburg bei dem bekannten Schneidermeister Johann Fischer eine Lehre. Den Gesellenbrief in der Tasche, kehrte er in sein Elternhaus nach Glattbach zurück, um mit seinem Vater – einem Landwirt und Dorfschneider – in der heimischen Werkstatt dem Schneiderhandwerk nachzugehen.
Doch schon im Jahr darauf brach zwischen dem Königreich Preußen und dem Kaiserreich Österreich-Habsburg Krieg aus. In Aschaffenburg rekrutierten die Truppen der preußischen Armee Desch und weitere Schneider, um sie als Arbeitskräfte in der Militärkleiderkammer zu verpflichten. Dort mussten die Männer beschädigte Uniformen ausbessern sowie neue fertigen. Dabei kam Desch zum ersten Mal mit der Massenherstellung von Kleidung in Berührung. Bei der Arbeit an den Uniformen, die es nur in einer Passform und in drei bis vier Größen gab, fiel Desch auf, dass die Körpermaße der Soldaten immer in festen Proportionen zueinander standen. Eine Besonderheit – so Deschs Überlegung – die sich auf die Fertigung von Kleidung für Zivilisten übertragen lassen müsste. Dann könnte man Anzüge, Joppen, Hosen und Saccos nicht nur auf Bestellung, sondern auch auf Vorrat produzieren. Die Vorteile, die das mit sich brächte, lagen auf der Hand: zeitaufwendiges Maßnehmen entfiele und die Werkstatt könnte in den umsatzschwachen Sommer- und Wintermonaten gleichmäßiger ausgelastet werden. Bereits in seiner Lehrzeit hatte Desch festgestellt, dass der Kleiderkauf stark saisonabhängig war.
Nach Kriegsende kehrte Desch in die Werkstatt nach Glattbach zurück. Sich seine Überlegungen in der Militärkleiderkammer zu Nutze machend, begann er ab 1868, nach Einführung der Gewerbefreiheit in Bayern, Herrenbekleidung als Lagerware herzustellen. Er definierte die vier Standardgrößen 44, 46, 48 und 50, die die Herrenkonfektion heute noch bestimmen. Der „Anzug von der Stange“ war erfunden.
„Da passierte es schon mal ...“, erinnern sich Heijo und Hubertus Desch schmunzelnd an eine Anekdote, die man sich über ihren Urgroßvater Johann erzählte, „ ... dass Leute aus dem Dorf ihn ansprachen, dass sie demnächst wegen eines Sonntagsanzugs für die Messe zum Maß nehmen kommen wollten, und er darauf sein Gegenüber verblüffte, indem er antwortete: ‚Kannst jetzt schon kommen, ich hab den Anzug bereits fertig.‘
„Deschs in Konfektion hergestellte Herrenbekleidung kam bei seinen Kunden bestens an. Schon bald stieg die Nachfrage danach, sodass Desch in seiner Werkstatt Mitarbeiter anstellen musste, die vornehmlich die Stoffe zuschnitten. Die Nähaufträge wurden zum Großteil an Schneider in den umliegenden Gemeinden vergeben. So entstanden mit der Zeit in der angrenzenden Umgebung ganze Schneiderdörfer. Besonders im strukturarmen Spessart entwickelten sich die neuen Erwerbsmöglichkeiten durch Deschs Heimarbeiterprinzip zu einem wahren Segen.
Anfangs stammten die Kunden aus der Region und den sich industriell entwickelnden Nachbarstädten Hanau, Offenbach und Frankfurt. Für jenen Personenkreis bedeutete es enormen Aufwand, erst mit der Bahn nach Aschaffenburg zu reisen und dann den Rest des Weges nach Glattbach auf Schusters Rappen zurückzulegen. Dass viele Kunden die Mühe nicht scheuten, ist Indikator dafür, wie erfolgreich Desch damals schon gewesen war.
Schon bald stieß Desch mit den Kapazitäten seiner kleinen Werkstatt an eine Grenze, an der er die hohe Nachfrage seiner Kundschaft nicht länger bedienen konnte. Zudem benötigte er in immer größerem Umfang Finanzmittel für den Einkauf der Rohware. Da erwies es sich als Glücksfall, dass ihm der befreundete Stofflieferant und Tuchhändler Daniel Hamburger die Aschaffenburger Bankiers Oskar Dielsheimer und Raphael Wolfsthal vorstellte. Die beiden Herren waren sofort überzeugt von Deschs Geschäftsmodell und boten ihm einen „Blanko-Kredit“ in Höhe von 20.000 Goldmark an.
Mit dem Kapital erstand Desch in Aschaffenburg ein Anwesen in der Sandgasse Nr. 42. Am 15. Dezember 1874 siedelte er mit Familie und Werkstatt dorthin um. Im Vordergebäude eröffnete er eines der ersten Bekleidungseinzelhandelsgeschäfte Deutschlands. Bereits im März desselben Jahres hatte Desch sein Unternehmen „J. Desch“ als erstes seiner Art beim Aschaffenburger Amtsgericht ins Handelsregister eintragen lassen. Somit war er Pionier und Gründer der Aschaffenburger Kleiderindustrie.
Aufgrund des stetig wachsenden Bedarfs an Rohmaterial war es für Desch bald ein lohnendes Geschäft, die Stoffe direkt von den Tuchfabriken im Rheinland, der Lausitz und in Elsass-Lothringen zu beziehen. Durch die günstigeren Einkaufskonditionen, die er dort geboten bekam, vermochte er seinen Gewinn weiter zu steigern. In jener Zeit wirtschaftete Desch so erfolgreich, dass er bereits 1890 den Kredit an die Bankiers zurückzahlen konnte.
Zu Beginn der 1880er Jahre wurde es Desch auch in den Räumlichkeiten seiner Produktionsstätte in der Sandgasse zu eng. Deshalb begab er sich auf die Suche nach einem neuen Betriebsgelände. 1882 erwarb er gegenüber dem Aschaffenburger Hauptbahnhof das Grundstück, auf dem das Hotel Diana stand, zu dem auch das Hotel Georgi gehörte. Das Hotel Diana ließ er abreißen und auf dem Gelände einen für damalige Zeiten hochmodernen Fabrikneubau errichten. Das Hotel Georgi verkaufte er an die Bierbrauereheleute Kreß.
1884 verlegte Desch Betrieb und Wohnräume in die Ludwigstraße. Neben ausreichend Produktionsfläche bot der neue Standort einen weiteren Vorteil: Sowohl Heimarbeiter als auch Kunden hatten es nun nicht mehr weit vom Bahnhofsgebäude bis zu Deschs Fabrik. Sie mussten nur noch die Straße überqueren. In jenem Umzugsjahr trat auch Deschs ältester Sohn Jakob in die Firma ein, der zweitälteste Sohn Heinrich folgte 1886.
In der folgenden Zeit schrieb Desch mit seinen Söhnen die Erfolgsgeschichte der von ihm gegründeten Kleiderfabrik fort. 1894 beschäftigte das Werk bereits 60 Mitarbeiter und weitere 150 Heimarbeiter, die gemeinsam einen Umsatz von 100.000 Goldmark erwirtschafteten. Ein Erfolg, der Nachahmer auf den Plan rief. Weitere Schneider siedelten sich im Aschaffenburger Bahnhofsviertel an, um Herrenoberbekleidung in Konfektion zu produzieren. Somit besaß Desch mit seiner Vorreiterrolle auch maßgeblichen Anteil am Erstarken der Aschaffenburger Bekleidungsindustrie, was der Region zahlreiche Arbeitsplätze und Wohlstand bescherte.
1899 wurde Desch der Ehrentitel königlich-bayerischer Kommerzienrat verliehen. Zwei Jahre darauf überschritt der Umsatz seiner Kleiderfabrik die damals schwindelerregende Grenze von 1 Million Goldmark. In der Folgezeit investierte Desch zunehmend in Modernisierung. 1902 setzte er in seinem Betrieb die ersten Zuschneidemaschinen ein, vier Jahre später erstand er mit einem „Adler“ das erste Automobil. 1907 gründete Desch den Verband der Aschaffenburger Kleiderfabriken e.V. Erst 1909 wurde es ruhiger um den weitsichtigen Kleiderfabrikant. Er zog sich aus dem Geschäftsleben zurück und übergab die Leitung seines Betriebs an seine Söhne Jakob und Heinrich.Sein großer unternehmerischer Erfolg stieg Desch niemals zu Kopf. Seine Mitarbeiter schilderten ihn als stets freundlichen, hilfsbereiten, sparsamen und einfachen Mann. In seinem Heimatdorf erinnert man sich gern an ihn als Wohltäter, der die Bürger des Orts in Lohn und Brot brachte. Zudem stiftete er Glattbach eine Glocke für den Kirchturm, die allerdings im Ersten Weltkrieg konfisziert und in einem Kanonengussbetrieb eingeschmolzen worden war.
Gewürdigt wurde Deschs außergewöhnliches Wirken, indem die Gemeinde Glattbach postum eine Straße und einen Platz mit einem Motivbrunnen nach ihm benannte sowie ihm zu Ehren drei Garnrollen in ihr Gemeindewappen aufnahm. Auch in Aschaffenburg erinnert am Park Großmutterwiese ein Straßenname an den Erfinder der Herrenkonfektion. An den ehemaligen Produktionsstätten in der Sandgasse und der Ludwigstraße sind zudem Gedenktafeln angebracht.
Im Laufe seines Lebens heiratete Desch zweimal. Die erste Ehe schloss er im Alter von 25 Jahren mit Eva-Maria Philipp aus Glattbach. Aus dem Bündnis gingen zwei Töchter und fünf Söhne hervor. Nachdem Eva-Maria am 24. März 1888 verstarb, heiratete Desch im Jahr darauf die Tochter eines angesehenen Möbelfabrikanten aus Darmstadt. Der Ehe mit Mathilde, geborene Pfeiffer, entstammten eine weitere Tochter und zwei weitere Söhne
.Johann Desch verstarb am 29. Januar 1920. Mit seinem Tod nahmen nicht nur seine Nachkommen Abschied von einem fürsorglichen Familienvater, sondern auch die Weltgemeinschaft von einem Mann, dessen Erfindergeist die Industrie der Herrenoberbekleidung bis in die heutige Zeit prägt.
Kleiderfabrik J. Desch
  • Gründung 1874 durch den  Glattbacher Schneider Johann Desch
  • Pionierin in der Herstellung von  Herrenoberbekleidung in Konfektion
  • Die erste Kleiderfabrik Aschaffenburgs übernimmt wichtige Vorreiterrolle für die expansive Entwicklung der Textil-industrie am Bayerischen Untermain
  • 130-jährige Unternehmensgeschichte, inhabergeführt über 4 Generationen
  • Initiatorin des branchentypischen Heimarbeiterprinzips
  • 1951: Eröffnung des Zweitwerks  in Lohr am Main
  • 1953: Einweihung des neuen  Fabrikgebäudes in Goldbach
  • In 70er und 80er Jahren Ausweitung des Exportgeschäfts ins  europäische und außereuropäische Ausland
  • In Glanzzeiten erwirtschaften 900 Beschäftigte einen Jahresumsatz von 40 Millionen Mark
  • 1998: Umwandlung in DESCH.  for men. GmbH