Bis zu 170 Milliarden Euro Wertschöpfung in Gefahr: Fachkräftemangel bedroht wirtschaftliche Stärke Baden-Württembergs
Susanne Herre: Wir müssen entschlossen gegensteuern
Der wirtschaftliche Schaden eines ungelösten Fachkräftemangels ist immens: Bis zu 170 Milliarden Euro an Wertschöpfung könnten Baden-Württembergs Betrieben bis 2035 entgehen - weil Aufträge nicht umgesetzt oder Dienstleistungen nicht erbracht werden können. „Es geht nicht nur um einzelne Stellen, sondern um unsere gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit“, sagt Susanne Herre, Hauptgeschäftsführerin der IHK Region Stuttgart. „Wir müssen jetzt die richtigen Weichen stellen, sonst gefährden wir den Wohlstand im Land.“
Die Wirtschaft in Baden-Württemberg steht vor einer doppelten Herausforderung: Bis 2035 werden rund 1,64 Millionen Erwerbstätige in den Ruhestand gehen – gleichzeitig müssten laut aktuellem IHK-Fachkräftemonitor rund 1,7 Millionen Arbeitsplätze neu besetzt werden, um das volle Wachstumspotenzial des Standorts ausschöpfen zu können. Schon heute bleiben rund 175.000 Stellen unbesetzt – bis 2035 könnte sich diese Zahl auf bis zu 379.000 fast verdoppeln.
Die IHK Region Stuttgart ist innerhalb des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertages (BWIHK) für das Thema Fachkräfte zuständig. Hauptgeschäftsführerin Susanne Herre warnt: „Der Fachkräftemangel ist keine Zukunftsprognose – er ist längst Realität. Und wenn wir nicht entschieden gegensteuern, wird sich die Lage dramatisch zuspitzen.“ Besonders betroffen sind laut Monitor gewerblich-technische Berufe – etwa im Maschinen- und Fahrzeugbau –, aber auch Tätigkeiten in Logistik, Verkauf, Gesundheitswesen sowie in der Unternehmensorganisation. Besonders kritisch ist die Lage bei qualifizierten Fachkräften mit abgeschlossener Berufsausbildung – hier ist der Engpass gravierend. „Aber auch spezialisierte Fachkräfte und akademische Expertinnen und Experten sind weiterhin stark gefragt.
Standort mit Potenzial – unter einer Bedingung
Gleichzeitig bietet der Standort nach wie vor großes wirtschaftliches Potenzial: Trotz geopolitischer Unsicherheiten, hoher Energiepreise und strukturellem Wandel entwickeln sich viele Branchen positiv. Das Modell zeigt: Mit ausreichend verfügbaren Fachkräften könnten in Baden-Württemberg bis 2035 rund 57.500 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
Ältere Erwerbstätige länger im Arbeitsleben halten
Für die IHK-Chefin ist es daher wichtig, an mehreren zentralen Stellschrauben zu drehen – etwa daran, Ältere länger in der Beschäftigung zu halten. „Wer länger arbeiten kann und will, sollte auch dürfen – ohne Abschläge und mit Anreizen statt Hürden.“ Unternehmen müssten verstärkt altersgerechte Arbeitsplätze schaffen, Weiterbildungsangebote machen und ein effektives Gesundheitsmanagement umsetzen. Die Politik wiederum sei gefragt, das Rentensystem zu überdenken – insbesondere mit Blick auf die derzeitige Förderung eines vorzeitigen Renteneintritts.
Künstliche Intelligenz gezielter nutzen
Baden-Württemberg verfügt über ein starkes KI-Ökosystem, dessen Potenzial noch konsequenter ausgeschöpft werden müsse. „Digitale Wissenszwillinge oder automatisierte Prozesse können dazu beitragen, Personalengpässe zu kompensieren“, so Herre. Zugleich warnt sie vor übermäßiger Regulierung: „Die Politik muss Innovation ermöglichen und darf sie nicht ausbremsen.“
Teilzeitpotenziale besser erschließen
Viele Menschen – insbesondere Frauen – arbeiten aufgrund familiärer Pflegeverantwortung in Teilzeit, oft unfreiwillig. „Wir brauchen bessere Rahmenbedingungen wie den Ausbau der Pflegeinfrastruktur und flexiblere Arbeitszeitmodelle“, fordert Herre. So könne ein stärkerer Wiedereinstieg ins Berufsleben gelingen. „Es braucht ein breites Bündel an Maßnahmen – von der beruflichen Ausbildung über gezielte Weiterbildung bis hin zur gesteuerten Fachkräfteeinwanderung“, betont Herre. „Ohne entschlossenes Handeln wird es nicht gelingen, die wirtschaftliche Stärke des Standorts langfristig zu sichern.“
Hintergrund:
Der IHK-Fachkräftemonitor BW ist seit dem 30. Juni 2025 unter www.ihk-fachkraeftemonitor.de/bw öffentlich zugänglich. Das Modell wird jährlich aktualisiert, sodass aktuelle Trends und politische Maßnahmen zeitnah einfließen können.