Aufhören nur Jahreszahlen in die Welt zu setzen
Am 8. März 2026 sind Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Für die Grünen will Cem Özdemir die Nachfolge seines Parteifreundes Winfried Kretschmann antreten. Als Gast des IHK-Talkformats "Im Gespräch mit..." erklärte der 59-jährige ehemalige Bundesminister, welche Ziele er verfolgt. Das strikte Festhalten am Verbrennerausstieg 2035 sieht er kritisch. Vor etwa einem Jahr hatte der CDU-Spitzenkandidat Manuel Hagel bei der Veranstaltungsreihe Rede und Antwort gestanden.
"Unser Land besteht aus Württemberg UND Baden", witzelte Cem Özdemir zum Auftakt der Diskussion mit IHK-Präsident Claus Paal. Schon deshalb würde er als Spitzenkandidat der Grünen nicht unter seinem alten Slogan "Ein Schwabe für Stuttgart" antreten. Moderiert von IHK-Hauptgeschäftsführerin Dr. Susanne Herre, erlebten die rund 400 Gäste aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung im Stuttgarter IHK-Haus ein spannendes, humorvoll und schlagfertig geführtes Gespräch.
Risiko Wirtschaftspolitik: Unternehmen geben schlechte Noten
Doch die Lage ist ernst, das hat die letzte Konjunkturumfrage der IHK deutlich gezeigt. Allein ein Viertel der Betriebe in Baden-Württemberg gab dabei an, die eigene Situation sei schlecht, 38 Prozent bezeichneten die Wirtschaftspolitik als eines der größten Risiken. Ein Befund, mit dem sich niemand, der im Autoland Baden-Württemberg Ministerpräsident werden will, abfinden darf. Susanne Herre legte deshalb den Finger in die Wunde und sprach den Gast auf das EU-Verbot von Verbrennungsmotoren ab 2035 an. Was er denn mit seiner jüngst erhobenen Forderung nach "mehr Flexibilität" in dieser Frage konkret meine?
Frist für Verbrennerausstieg nicht zu halten
Özdemirs Antwort dürfte nicht allen seiner Parteifreunde gefallen. "Wir müssen damit aufhören, Jahreszahlen in die Welt zu setzen, und dann nichts zu tun, um die Ziele auch zu erreichen." Defizite gebe es zum Beispiel beim Aufbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge. Das Ziel, 2035 aus dem Verbrenner auszusteigen, sei mittlerweile nicht mehr erreichbar, sagte der grüne Spitzenkandidat. "Das ist mathematisch gar nicht möglich." Flexibilität bedeute für ihn, zum Beispiel Hybridfahrzeuge und Autos mit Range Extender auch nach 2035 noch zuzulassen. Aber: "Man darf auch nicht so tun, als ob Verbrenner noch in hundert Jahren fahren werden."
Paal: Wirtschaft steht zum Klimaschutz
Dem pflichtete IHK-Präsident Claus Paal bei: "Wir stellen den Klimaschutz nicht in Frage, ich kenne in der Wirtschaft niemanden, der das tut." Klimapolitische Ziele würden aber nicht durch Verbote erreicht, sondern durch neue Technologien und die Politik tue gut daran, den Unternehmen hierbei möglichst viel Spielraum zu lassen, anstatt sie mit zu engen Vorgaben und Bürokratie einzuengen. "Dann werden wir auch in der Transformation Arbeitsplätze erhalten und schaffen können", so Paal.
Zukunftsthema Mobilität nicht im Wahlkampf kaputtmachen
Die deutsche Autoindustrie habe ihren Rückstand bei der Elektromobilität aufgeholt und sei nun im hohen Maße konkurrenzfähig und innovativ, bestätigte Özdemir. Davon habe er sich bei der letzten Internationalen Automobilausstellung (IAA) selbst überzeugen können. "Wir bauen jetzt die Produkte, mit denen wir wieder vorausfahren können. „Eines aber unterstrich der Kandidat ganz besonders: “Lasst und das Thema nicht im Wahlkampf kaputt machen aus Angst vor der AFD." Zukunftsfragen dürfe man nicht “mit 51 zu 49 Prozent“ entscheiden. Als Ministerpräsident werde er an einer breiten Basis für wichtige Entscheidungen arbeiten und dafür sorgen, "dass Lösungsvorschläge danach beurteilt werden, ob sie gut sind, und nicht danach, aus welcher politischen Richtung sie kommen."
"Wir brauchen Leuchtturmprojekte"
Erfordern solche Entscheidungen nicht manchmal auch Mut, zentralen Leuchtturmprojekte den Vorrang zu geben, anstatt viele Regionen zu beglücken, um niemandem wehzutun, wollte Susanne Herre wissen und führte als Beispiel den Heilbronner IPAI-Campus als größtes europäisches KI-Zentrum an. "Wir brauchen Leuchttürme", stimmte Özdemir zu. "Und wir müssen lernen, dass Konkurrenz nicht zwischen Heilbronn, Stuttgart und Tübingen besteht, sondern dass wir uns gemeinsam mit Indien oder China messen müssen."
Sonderhaushalt für die Bildung ausgeben
Als "extrem besorgniserregend" bewertet der Kandidat vor diesem Hintergrund das schlechte Abschneiden baden-württembergischer Schüler bei den jüngsten Bildungstests. Dies könne sich ein Spitzentechnologieland im internationalen Wettbewerb nicht leisten. Entscheidend sei es unter anderem, dass Mittel aus dem "Sondervermögen" des Bundes nicht verkonsumiert, sondern für Investitionen eingesetzt werden - vor allem in Bildung und Ausbildung. Gerne dürfte ein Großteil der Gäste gehört haben, dass Özdemir die Forderung vieler in seiner Partei nach der Wiedereinführung der Vermögenssteuer und einer starken Erhöhung der Erbschaftssteuer ablehnt: "Substanzbesteuerung und investitionshemmende Steuererhöhungen sind mit Baden-Württemberg nicht zu machen."
Nachdem der Gast Fragen aus dem Publikum unter anderem zu Wohnungsbau und Mindestlohn beantwortet hatte, nutzten die Zuhörerinnen und Zuhörer die Gelegenheit, bei einem Get-together miteinander ins Gespräch zu kommen.