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Energieernte auf hoher See
In bestimmten Regionen der Ozeane bläst der Wind ohne Pause. Ein Stuttgarter Startup arbeitet daran, diese Energiequelle für die Produktion von grünem Wasserstoff nutzbar zu machen.

Kite-Surfer sind an den Stränden der ganzen Welt eine Attraktion. Geradezu halsbrecherisch lassen Sie sich von einer Böe viele Meter in die Höhe reißen, um dann im fast freien Fall wieder auf die Wellen zu klatschen. Der Unternehmer und Erfinder Dr. Wolfram Reiners ist Kite-Surfer und begeisterter Segler. Daher kennt er die gewaltige Kraft, die der Wind freisetzt, wenn er in ein Tuch bläst. Was wäre, dachte er sich vor zehn Jahren, wenn man diese Kraft dort nutzbar machen könnte, wo sie praktisch ohne Pause 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag verfügbar ist? Wo Windkraftwerke niemanden stören, weil sie niemand sieht und hört? Wo kein Mensch, kein Tier, kein Baum und kein Ökosystem dadurch Schaden nimmt?
Windenergie grundlastfähig machen
Die Vorstellung von Windkraftanlagen auf hoher See erscheint wie Science Fiction. Aber war die Versorgung einer Industriegesellschaft mit Hilfe der Windkraft nicht überhaupt vor wenigen Jahrzehnten noch blanke Utopie? In den Passatregionen der Ozeane herrscht ein konstanter, mittelkräftiger Wind. Flauten wie an Land oder bei den Offshore-Anlagen an der Küste gibt es dort nicht. Gelingt es, diese Ressource zu erschließen, wird die Windkraft „grundlastfähig“, wie es im Jargon der Energieversorger heißt. Mit der Oceanergy AG, einem Startup aus Stuttgart mit aktuell 24 Mitarbeitern, will Reiners diese Vision verwirklichen.
Wasserstoffproduktion an Bord
Natürlich kann man auf dem Ozean mit tausenden Metern Wassertiefe nicht einfach Windparks bauen. Gedacht ist vielmehr an eine Flotte von Produktionsschiffen, die sich immer dorthin manövrieren lässt, wo der Wind permanent und am gleichmäßigsten weht. Die Energie wird nicht etwa durch einen Rotor erzeugt, sondern durch einen Drachen (engl. Kite), der an langen Seilen im Wind steigt, durch seine Zugkraft Generatoren antreibt und Strom erzeugt. Indem die Lage des Kites im Wind verändert wird, lässt sich dieser kraftlos wieder einholen und der Stromproduktionszyklus kann von neuem beginnen. Zusätzliche Energie kommt von einer Turbine unter Wasser, die die Strömung nutzt. Mit der elektrischen Energie wird in einer Elektrolyseanlage aus entsalztem Meerwasser Sauerstoff und Wasserstoff hergestellt. Der Wasserstoff wird an Bord gespeichert und nach dem Ende einer rund zweimonatigen „Produktionsfahrt“ im Hafen am Wasserstoff-Terminal entladen, in Gaspipelines eingespeist oder direkt in der Industrie genutzt.

„Das Potenzial und die Skalierbarkeit ist nahezu unendlich“, sagt Uli Dobler, COO von Oceanergy. Ein einziges Produktionsschiff werde im Jahr 2030 rund 6000 Tonnen grünen Wasserstoff pro Jahr produzieren, eine Menge, die genügt, um zum Beispiel 143.000 Tonnen Stahl zu produzieren. Eine Flotte von 3000 Schiffen wäre in der Lage, ein Zehntel der Kohlendioxid-Einsparung zu leisten, die nötig ist, um die globale Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Damit nicht genug: Obendrein soll der Hochsee-Wasserstoff ab Hafenterminal nur zwei Euro je Kilogramm kosten - deutlich weniger als es mit Offshore-Windparks oder wüstenbasierten Solarkraftwerken möglich wäre.
Optimierung mit KI
Um eine möglichst gute und gleichmäßige Energieausbeute zu erzielen, müssen der Kurs der Schiffe und die Steuerung des Drachens optimiert werden. Laut Dobler geschieht dies mit Hilfe künstlicher Intelligenz und auf der Grundlage meteorologischer Daten. Jenseits dieser Kernkompetenzen von Oceanergy wird für das Projekt aber auch weitere Expertise aus Bereichen wie Schiffsbau und Wasserstofftechnologie gebraucht. Deshalb arbeitet das Startup mit 22 Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Darunter finden sich ein Energieversorger, eine Reederei, eine Werft, der Autohersteller Audi und zahlreiche Forschungsinstitute wie das Fraunhofer Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik, die Universität Stuttgart, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und das Zentrum für Sonnenenergie-und Wasserstoff-Forschung (ZSW).
Zusammenarbeit mit Staat, Wirtschaft und Wissenschaft
Die Vision von Oceanergy findet durchaus Anerkennung und wurde in Baden-Württemberg als strategisches Projekt im Rahmen des Strategiedialogs für die Automobilwirtschaft identifiziert. Der Unternehmensverband Hydrogen Europe will die Technologie auf EU-Ebene zum Flaggschiff-Projekt machen. Ein Prototyp an Land wird derzeit durch das Wissenschaftsministerium des Landes über die Uni Stuttgart gefördert und vom Wirtschaftsministerium über die Förderprogramme invest-BW und der L-Bank unterstützt.
Produktionsflotte ab 2030 geplant
Im kommenden Jahr soll ein „Demonstratorschiff“ in See stechen und zwei Jahre lang erprobt werden. Hierfür müssen die Stuttgarter aber noch Investorengelder im Umfang von 20 Millionen Euro einwerben. Geht alles nach Plan, soll 2026 das erste Schiff in Produktionsgröße gebaut werden, ab 2030 eine ganze Flotte von Kite-Schiffen auf den Weltmeeren grünen Wasserstoff produzieren.
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