Nearshoring als Exitstrategie

Bulgarien - der Nearshoring-Hotspot?

Immer mehr Unternehmen suchen gezielt Lieferanten aus dem europäischen Ausland, um ihre Lieferstrukturen resilienter zu gestalten und damit den vielschichtigen globalen Herausforderungen besser begegnen zu können. Wie Nearshoring aussehen und in welchen Branchen es besonders gut umsetzbar scheint, lässt sich derzeit in Bulgarien beobachten.

Handel mit Bulgarien auf Rekordniveau

2021 war in der Geschichte der deutsch-bulgarischen Handelsbeziehungen ein Rekordjahr: Der Handel erreichte ein Volumen von 9,8 Milliarden Euro. Das entspricht einem Anstieg von 18,7 Prozent im Vergleich zu 2020. Bulgariens Exporte nach Deutschland beliefen sich auf 5,26 Milliarden Euro und lagen um 14 Prozent über dem Vorjahreswert. Die Einfuhren aus Deutschland nach Bulgarien beliefen sich auf 4,53 Milliarden Euro, was einem Anstieg von 24 Prozent gegenüber 2020 entspricht. Damit überstiegen die bulgarischen Exporte das sechste Mal die Importe aus Deutschland innerhalb der vergangenen 30 Jahre.
Deutschland ist das fünfte Jahr in Folge größtes Lieferland Bulgariens.
Deutsche Unternehmen betrachten das Land am Schwarzen Meer jedoch nicht nur als Absatzmarkt, sondern immer mehr auch als Investitionsstandort. Liebherr Hausgeräte etwa ist seit 1999 in Plovdiv aktiv. Seitdem ist das Unternehmen dreimal expandiert. Die zweitgrößte Stadt Bulgariens hat sich in den letzten 20 Jahren zu einem der wichtigsten Industriezentren Südosteuropas entwickelt, Hunderte internationaler Unternehmen sind vor Ort.

Der Produktionsstandort steht hoch im Kurs

Bulgarien profitiert neben der Mitgliedschaft in der EU und der NATO von einer im EU-Vergleich überdurchschnittlich guten Einbindung seiner Wirtschaft in die internationale Wertschöpfung und punktet mit vergleichsweise günstigen Lohn- und Lohnnebenkosten. Zudem stehen für viele Investitionen EU-Fördermittel bereit. Die von der neuen reformorietierten Regierung angekündigte Einführung von EURO ab 2024 dürfte den Standort Bulgarien noch attraktiver machen. Laut Angaben der Germany Trade & Invest haben deutsche Firmen allein im Jahr 2020 rund 308 Millionen Euro in Bulgarien investiert.
bunte Container in einer Reihe vor einem Containerschiff
© gettyimages/J2R
Der größte Teil des Geldes floss in den Aufbau neuer Produktionsstandorte, zumeist in exportorientierten Branchen wie die IT-Industrie, die Elektroindustrie und die Automobilindustrie. So hat der deutsche Elektroauto-Hersteller Next.e.GO Mobile 2021 den Bau einer neuen Mikrofabrik in Lowetsch mit einer Investition in Höhe von 140 Millionen Euro angekündigt. Die neue Mikrofabrik soll Anfang 2024 fertig sein. Damit wäre das Aachener Unternehmen der erste Autohersteller in Bulgarien. Auch verschiedene Automobilzulieferer beabsichtigen, in neue Produktionsanlagen in Bulgarien zu investieren und auch neue Fertigungen in das Land zu transferieren.

Bedeutung von Forschung und Entwicklung wächst

Bulgarien positioniert sich zunehmend auch als ein Standort für Forschung und Entwicklung. Das Land verfügt über einen dynamischen IT- und IKT-Bereich, der sich innerhalb des für Unternehmen vertrauten Umfeldes der EU befindet. Hier besteht ein großes Potenzial für deutsche Unternehmen auf der Suche nach Nearshoring und –sourcing von Dienstleistungen.
So geschehen bei Lidl. Das Unternehmen hat vor vier Jahren ein IT-Kompetenzzentrum in Sofia eröffnet: Das „Lidl Digital“ konzentriert sich auf die Entwicklung von Plattformen, Systemen und Lösungen für den Onlinehandel. Auch das Bosch Engineering Center im Sofia Tech Park expandiert und erhöht seine Belegschaft auf über 450 Mitarbeiter. Es ist das zweites Engineering Center in der Hauptstad undes soll zu einem Zentrum für die Entwicklung kompletter Produkte werden. In dem neuen Zentrum entwickeln fast 400 Softwareexperten innovative Technologien für die Automobilindustrie in Bereichen wie Fahrassistenz, automatisiertes Fahren und Elektromobilität.
Amir Alizadeh
© Armin Buhl
Das Zusammenspiel vieler Faktoren lässt Bulgarien also als prüfenswerte Option vor allem für jene Unternehmen erscheinen, die im Bereich IT, IKT, aber auch im Bereich Automotive und Elektronik resiliente Produktions- und Lieferstrukturen suchen und die Themen Nearshoring und Sourcing von Dienstleistungen innerhalb der EU auf der außenwirtschaftlichen Agenda haben.
Amir Alizadeh, Leiter Geschäftsfeld International, IHK Ulm, Kompetenzzentrum Südosteuropa