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Die größte Freihandelszone der Welt
Am 28. Juli 2019 hat sich die Europäische Union mit dem Mercosur nach langjährigen Verhandlungen auf ein Freihandelsabkommen geeinigt. Es soll den Handel zwischen den beiden Regionen erleichtern, indem Zölle und Handelshemmnisse abgebaut werden. Gleichzeitig soll die Zusammenarbeit bei Themen wie Migration, Menschenrechte, Umweltpolitik, Terrorismus und Cyberkriminalität gestärkt werden. Mit insgesamt 780 Millionen Einwohnern wäre es die größte Freihandelszone der Welt. Das Abkommen muss noch von den 27 EU-Mitgliedsstaaten und dem Europaparlament ratifiziert werden. Ende 2023 soll es in Kraft treten.
Wichtiger Handelsmarkt für Europa
Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay sind die vier Gründerstaaten der lateinamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft „Mercosur“ (Mercado Común del Sur). Mercosur ist damit die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt außerhalb der Europäischen Union. Mit über 295 Millionen Menschen auf einer Gesamtfläche von 11,88 Millionen Quadratkilometern erwirtschaftet der Mercosur jährlich 2,2 Billionen US-Dollar. Die Mercosur-Staaten sind ein wichtiger Handelsmarkt für die EU, umgekehrt ist die EU ihr wichtigster Investitions- und Handelspartner. 2021 wurden Waren in Höhe von 44,6 Milliarden Euro aus der EU in die Mercosur-Länder exportiert und 43,5 Milliarden Euro importiert. Die EU ist außerdem der größte Auslandsinvestor in dieser Region Südamerikas mit einem kumulierten Investitionsbestand von 380 Milliarden Euro.
Zölle sparen mit dem Präferenzabkommen EU-Mercosur
Das Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur würde von Tag eins an vielen Unternehmen greifbare Vorteile beim Export und beim Import bringen. Denn das Abkommen sieht vor, die momentan noch sehr hohen Zölle, die in den Staaten des Mercosur zum Beispiel auf Kraftfahrzeuge und Kraftfahrzeugteile (35 Prozent), auf Maschinen (14 bis 20 Prozent) und auf Chemikalien (18 Prozent) anfallen, stufenweise abzusenken. Auch der europäische Agrarsektor würde von der Senkung der bisher hohen Zölle auf Wein, Spirituosen und Milchprodukte profitieren.
Ursprungsregeln und Ursprungsnachweise
Überbordende Bürokratie ist von den Regelungen des Abkommens nicht zu erwarten. Im Gegenteil, die ausgehandelten Ursprungsregeln sind in weiten Teilen einfach und großzügig. Die Nachweise, die zu erbringen sind – Ursprungserklärung auf der Rechnung – entsprechen denen anderer Abkommen. Für eine Übergangszeit akzeptiert die EU beim Import von Mercosur-Ware noch Ursprungszeugnisse als Nachweis. Exporteure, die schon bislang von Zollvorteilen durch Handelsabkommen profitieren, hätten also nur einen geringen zusätzlichen bürokratischen Aufwand, um beim Export in den Mercosur bares Geld zu sparen.
Marktchancen für KMU
Auch für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) aus Deutschland wären Marktbeteiligungen sehr attraktiv. Wir haben uns die Bedeutung für deutsche KMU in vier Branchen näher angesehen:
Erneuerbare Energien
Lateinamerika bietet insgesamt vielversprechende Möglichkeiten für Investitionen in erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff, da es über reichlich natürliche Ressourcen verfügt und eine wachsende Nachfrage nach sauberer Energie besteht. Besonders Brasilien steht hier im Fokus für internationale Kooperationen. Der Nordosten Brasiliens zählt zu den Gebieten mit den weltweit besten Voraussetzungen für Onshore-Windkraft sowie Solarenergie. Zudem können erhebliche Wasserressourcen im Land für die Erzeugung von Strom und grünem Wasserstoff genutzt werden. In einzelnen Bundesstaaten werden bereits Wasserstoffprojekte gefördert. Deutsche Unternehmen können hier mit Technologie und ihrem Know-how punkten. Brasilien hat außerdem großen Bedarf am Aufbau intelligenter Stromnetze, hier bestehen Marktchancen für Zulieferer der Elektrizitätswirtschaft. Auch der Ausbau von Bio-Energie wird in Brasilien vorangetrieben. Unternehmen können sich mit technologischen Lösungen oder direkt mit Investitionen beteiligen.
Ein besonderer Markt im Bereich Energie ist Paraguay. Paraguays Energieproduktion erfolgt bisher zu rund 60 Prozent aus Wasserkraft und zu rund 40 Prozent aus Biomasse. Davon wird allerdings ein großer Teil exportiert und der Eigenenergiebedarf wird teilweise über Importe wie Erdölderivate abgedeckt. Angesicht einer steigenden Energienachfrage bieten sich in Paraguay interessante Möglichkeiten für ausländische Anbieter, um an der Diversifizierung innovativer Energietechnologien mitzuwirken und diese noch nachhaltiger zu gestalten, zum Beispiel in Form von Elektromobilität oder Solarenergie.
Agrar
Über die Produktion von Soja, Rindfleisch und weiteren Agrarprodukten wie Zuckerrohr, Mais, Kaffee und Orangen liefert Südamerika einen wesentlichen Beitrag zur Ernährung der Weltbevölkerung. Gleichzeitig erfordern die erhöhte Nachfrage nach Nahrungsmitteln und die aktuellen klimatischen Veränderungen neue Technologien, um die Produktivität in der Landwirtschaft zu steigern und die Umweltbelastung zu reduzieren. Hier sind auch deutsche Anbieter gefragt. Bedarf gibt es beispielsweise bei Maschinen, die eine erhöhte Mechanisierung ermöglichen und dazu beitragen, die Erntekosten zu senken, zum Beispiel beim Anbau, bei der Bodennutzung oder der Ernte. Im Bereich der Precision-Farming-Technologie können Anbauverfahren optimiert werden, unter anderem mit Hilfe von GPS-Technik, Feldrobotern oder autonomen Agrarfahrzeugen.
In Brasilien wächst die Landwirtschaft konstant und es sind bereits zahlreiche internationale Großunternehmen auf dem Markt aktiv. Die heterogene Unternehmenslandschaft bietet jedoch auch mittleren und kleinen Unternehmen aus Europa gute Beteiligungschancen in der Landwirtschaft. Die Digitalisierung der Landwirtschaft wird durch verschiedene Programme staatlich gefördert. Auch in Argentinien wird die Entwicklung neuer Technologien stark vorangetrieben. Ein hoher Bedarf besteht dort an digitalen Plattformen zum Beispiel zur Vernetzung oder zur Steuerung und Überwachung von Prozessen und Technologien. Deutsche Anbieter sind hier bereits teilweise beteiligt. In Paraguay und Uruguay ist der Landwirtschaftssektor zwar wesentlich kleiner, doch auch hier nimmt der Trend zur Digitalisierung zu.
Bau und Infrastruktur
Vor allem in Brasilien und in Argentinien besteht in der Bauwirtschaft ein großer Nachholbedarf im Wohnungsbau. Das Potenzial ist jedoch durch hohe Zinsen und hohe Baustoffpreise bisher gebremst. Deutsche Unternehmen haben gute Chancen, sich an Bauprojekten zu beteiligen. Gute Marktchancen bestehen außerdem bei der Zulieferung von Bau- und Bergbaumaschinen. Beide Länder unternehmen Anstrengungen, um ihre Infrastruktur zu modernisieren. Dabei besteht eine starke Nachfrage nach Technologie und Know-how in den Bereichen Abfallwirtschaft, Wasser- und Verkehrsinfrastruktur.
Digitalisierung
Die Mercosur-Staaten haben bei der Digitalisierung der Industrie Aufrüstungsbedarf. Beispiele sind die intelligente Maschinenkommunikation, Maschinenüberwachung und -wartung oder automatisch gesteuerte Produktionsvorgänge. In Brasilien und Argentinien sind zum Beispiel nur rund 30 Prozent der Unternehmen digitalisiert und automatisiert. Vielversprechende Geschäftsbereiche, in denen auch schon deutsche Unternehmen aktiv sind, sind die Automobilindustrie, der Logistikbereich, der Bergbau, die Nahrungsmittelindustrie und der Pharmasektor.
EU – Mercosur: ein Abkommen mit viel Potenzial, kontrovers diskutiert
Der Verhandlungsprozess des Abkommens gestaltet sich als komplex. Von einigen internationalen Umweltorganisationen wird eine Intensivierung des Handels zwischen der EU und dem Mercosur als kritisch angesehen. Als große Bedrohung wird die Abholzung der tropischen Regenwälder zur Vergrößerung von Viehweiden und Sojafeldern bewertet. Auch die mögliche Zunahme der europäischen Ausfuhren von Agrochemikalien wird von Organisationen wie GreenPeace als Gefahr für die Ökosysteme in Mercosur angesehen. Länder wie Frankreich dagegen befürchten unter anderem auch Auswirkungen auf die heimische Wirtschaft und Arbeitsplätze in der EU.
Zu den Vereinbarungen im Nachhaltigkeitskapitel des Abkommens gibt es zwar Bestimmungen zu Biodiversität, zur nachhaltigen Waldbewirtschaftung, zur Bekämpfung von illegalem Holzeinschlag und die Verpflichtung zum Pariser Abkommen. Diese müssten jedoch auch wirksam umgesetzt werden können. Daher werden aktuell Nachverhandlungen seitens der Bundesregierung mit den Mercosur- Staaten angestrebt.
Ulrike Modery, Fulvia Scarioni, Andrea Schubode, Region Stuttgart
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