Internationale Lieferketten

Globale Arbeitsteilung auf dem Prüfstand

Von der Randnotiz ins Licht der breiten Öffentlichkeit gerückt ist das Schlagwort der globalen Arbeitsteilung - nicht zuletzt durch das Sorgfaltspflichtengesetz. Welche wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Hintergründe und Entwicklungen bedingen dieses komplexe Thema und wo stehen wir gerade – diese Fragen haben wir Caspar Dohmen gestellt, freier Wirtschaftsjournalist und Autor, der die Zusammenhänge der globalen Arbeitsteilung erforscht und aus zahreichen persönlichen Begegnungen kennt.

Globaler Handel, Lieferketten und Menschenrechte

Herr Dohmen, auf Ihren Reisen durch Asien, Afrika und Lateinamerika recherchieren Sie zu den Themen globaler Handel, Lieferketten und Menschenrechte. Auch ihr jüngst erschienenes Buch „Lieferketten. Risiken globaler Arbeitsteilung für Mensch und Natur“, zeigt die vielfältigen Facetten der Lieferkettenökonomie sowie Probleme, Lösungsansätze und Perspektiven. Warum dieses Thema?
Caspar Dohmen: Ich habe mich schon mit globaler Arbeitsteilung beschäftigt, als ich als Redakteur beim Handelsblatt zu Banken und Finanzmärkten gearbeitet habe. Damals war das ein Randthema. Menschenrechte haben mich schon immer interessiert, ich war auch bei Amnesty International engagiert. Anfang der 2000er konnte ich dann mit einem Stipendium mehrere Monate in Guatemala verbringen und mir die Anfänge der fairen Kaffeeproduktion anschauen. Nach dem Zusammensturz des Gebäudes Rana Plaza in Bangladesch 2013 habe ich das Thema Lieferketten noch stärker in den Blick genommen. Im Sommer 2019 bin ich hingereist, um zu sehen, was sich seit dem Einsturz und der öffentlichen Aufmerksamkeit verändert hat. Und es hat sich Einiges getan:  In der Vergangenheit waren zum Beispiel viele Nähereien in Gebäuden untergebracht, die gar nicht als Fabriken geeignet waren, das war ja auch eine der Ursachen für die Katastrophe von Rana Plaza. Seit damals sind viele Gefährdungen aufgedeckt worden und viele Fabriken, die für den Export produzieren, sind sicherer geworden. Aber andere Themen wie die viel zu niedrigen Löhne haben sich kaum verändert. Und es gibt immer noch Fabriken, bei denen die Situation katastrophal ist.

Von der Randnotiz ins Licht der öffentlichen Wahrnehmung

Wie hat sich das Thema in der öffentlichen Wahrnehmung verändert und wo stehen wir gerade?
Was sich auf jeden Fall in den letzten Jahren verändert hat, ist unser Blick auf die globale Arbeitsteilung und die Lieferketten, neuerdings durch die Pandemie auch noch aus ganz anderen Blickwinkeln. Da geht es ja nicht nur um Umwelt und Menschenrechte, sondern darum, wie man die Verfügbarkeit von Zulieferteilen gewährleisten kann, das Thema ist also noch viel präsenter geworden.
Zum Zweiten sind heute der sogenannte globale Süden und der globale Norden überall. Die klassische Teilung in Industrieländer einerseits und Entwicklungs- und Schwellenländer andererseits hat natürlich noch ihre Berechtigung, aber die Grenzen sind längst nicht mehr so scharf. Wenn man sich die Entlohnung der Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter in osteuropäischen Ländern anschaut, dann sind diese verglichen mit den Lebenshaltungskosten regelmäßig schlechter als in China. Man muss da sehr genau hinschauen. Bekannt sind ja auch die Sweatshops in Italien oder Großbritannien, wo Waren nach Bedarf ganz kurzfristig produziert werden müssen. Hier wird zwar in Industrieländern produziert, aber die Löhne liegen weit unter dem britischen Mindestlohn.

Fair Trade: Regeln für faire Arbeitsbedingungen

Seit wann gibt es Ansätze, faire Arbeitsbedingungen durch Regeln oder Gesetze zu sichern und was haben sie bewirkt?
Es gibt seit Langem Anläufe, die Unternehmen stärker für die Einhaltung der Menschenrechte in die Verantwortung zu nehmen, die ersten Ende der Sechzigerjahre. Es hat also lange gedauert, bis das Thema im öffentlichen Bewusstsein angekommen ist, aber jetzt ist es da. Wichtig dafür sind etwa die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte von 2011. Sie beruhten noch auf Freiwilligkeit, hatten aber schon gewisse verpflichtende Elemente. Die Umsetzung in Deutschland durch den Nationalen Aktionsplan war ebenfalls noch freiwillig, stellte aber die Frage, inwieweit Unternehmen die Einhaltung von Menschenrechten entlang ihrer Lieferketten gewährleisten können. Als weniger als ein Fünftel dies gewährleisten konnten, kam der Vorstoß für das deutsche Lieferkettengesetz.
In anderen Ländern gibt es schon Gesetze zu verschiedenen Aspekten, etwa in den Niederlanden zur Kinderarbeit. Das bisher weitestgehende Gesetz gibt es in Frankreich, es schließt eine zivilrechtliche Haftung der Unternehmen ein, allerdings gilt es nur für sehr große Unternehmen. In Deutschland liegt der Gesetzentwurf vor. Wir sind insgesamt in einem sehr spannenden Prozess, weil auch auf EU-Ebene ein Lieferkettengesetz geschaffen werden soll, das Parlament hat schon sehr weitreichende Vorstellungen geäußert. Spannend ist das Thema auch deshalb, weil wir über soziale und vor allem ökologische Standards heute aus einer anderen Perspektive reden müssen – und das auch tun. Wenn man zum Beispiel die Initiative zum Green Deal anschaut, der im ersten Moment gar nichts mit Lieferketten zu tun hat, dann sieht man, dass es auf einmal wieder um die Einführung von Schutzmechanismen geht. Zum Beispiel, um die europäische Stahlindustrie vor Dumpinganbietern zu schützen, wenn sie mit Wasserstoff kohlenstoffneutralen Stahl produziert. In dem Freihandelssystem, wie wir es haben, spielt so etwas an sich keine Rolle. Das verändert gerade den Blick auf alle wirtschaftlichen Beziehungen.

Freihandel und Protektionismus

Sie meinen also ökologischen Protektionismus?
Genau – und dieser ökologische Protektionismus ist auch WTO-konform, solange keine Unternehmen benachteiligt werden, wenn sie denselben Weg gehen. Wenn ein Stahlkonzern aus Japan also genauso umweltfreundlich ist wie der deutsche, darf er nicht diskriminiert werden. Aber es gibt jetzt immerhin die Chance, dass Unternehmen, die an bestimmten Stellen Dinge besser machen, auch bessergestellt werden. Und ich denke, das ist ein ganz wichtiger Ansatz, denn wenn man etwas lernen kann aus dieser Geschichte, aus den letzten 20 Jahren, dann ist es nicht, dass es keine Unternehmen gäbe, die ihren Sorgfaltspflichten nachkommen wollen. Aber es sind bisher fast immer Unternehmen, deren Geschäftsmodell darauf beruht, dass ihre Kunden bereit sind, mehr zu zahlen. Das sind Vorreiterunternehmen und das ist gut. Aber das Problem haben die Unternehmen, die im Mainstreammarkt unterwegs sind und nicht diese Kundschaft haben. Wie schaffen sie diesen Wandel? An dieser Stelle können solche Schutzmechanismen ins Spiel kommen.
Es handelt sich im Grund genommen hierbei um eine urdeutsche Idee. Der deutsche Ökonom Friedrich List erkannte Mitte des 19. Jahrhunderts, dass der Freihandel nur für solche Staaten funktioniert, die schon konkurrenzfähig sind, und forderte Schutzzölle für Deutschland, das damals mit Großbritannien konkurrierte. Das haben übrigens fast alle Industrieländer gemacht und sie sind nur erfolgreich gewesen, weil sie diese Phase durchlaufen haben. Jetzt käme ein solcher Mechanismus dazu, um auch ökologisch und sozial voranzuschreiten, bis wieder Konkurrenzfähigkeit erreicht ist.

Schwellen- und Entwicklungsländer

Besteht nicht die Gefahr bei solchen Schutzmechanismen, dass bestimmte Länder die Entwicklungen nicht oder nur verzögert mitmachen können?
Davon muss man sogar ausgehen. Aber als die WTO 1995 geschaffen wurde, wurde diskutiert, ob man nicht grundlegende Sozialstandards einführen solle. Damals haben gerade die Entwicklungsländer sich dagegen ausgesprochen, weil das Einzige, womit sie punkten konnten, ihre billigen Arbeitskräfte waren. Ohne diese Standards hat es eine Aufwärtsentwicklung gegeben für einige Hundert Millionen Menschen, in Indien und China etwa sind ja Mittelschichten entstanden. Aber gleichzeitig gibt es noch immer einen großen Teil Menschen, die ausgebeutet werden. Dort wo es eine Aufwärtsentwicklung gab und die Menschen daraufhin höhere Löhne gefordert haben, sind die Unternehmen oft einfach auf andere Standorte ausgewichen. Und es ist einfach immer noch so, dass ein Großteil der Gewinne, die Unternehmen aus Industrieländern durch die Lieferkettenökonomie machen, darauf beruhen, dass Menschen und Umwelt andernorts ausgebeutet werden.
Es gibt aber auch einen anderen Trend, der dazu führen wird, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer wiederum profitieren, denn über die Automatisierung und Digitalisierung wird viel mehr Wertschöpfung in diese Länder abwandern. Wir werden unterschiedliche Kräfte erleben: ein Teil der Produktion wird wieder in die Industrieländer kommen, andererseits wird ein größerer Teil der Dienstleistungen in die Entwicklungsländer gehen. Aber auch hier muss man differenziert hinschauen. Ich habe Näherinnen in Indien getroffen, deren größter Wunsch es war, dass es ihren Kindern einmal besser geht. Manche studieren auch, aber nicht immer haben sie dadurch auch bessere Jobs. Die Kinder arbeiten nicht mehr in der Näherei, sondern beispielsweise im Callcenter, wo sie den Social-Media-Müll für westliche Firmen entsorgen. Sie verdienen vielleicht etwas besser, aber die Arbeitsbedingungen sind immer noch katastrophal. An der Stelle ist die Rechnung mit dem besseren Leben dann nicht aufgegangen.

Die Rolle der EU

Das geplante EU-Lieferkettengesetz wird gegenüber den nationalen Einzelmaßnahmen von vielen begrüßt, andererseits zeichnet sich ab, dass Europa international an Bedeutung verlieren wird. Welche Rolle hat die EU?
Wir haben uns dran gewöhnt, dass wir als Europa einen gewissen Einfluss nehmen können auf die Produzentenländer, weil bei uns viel verkauft wird. Doch der Konsum sinkt in Europa relativ gesehen, weil der Wohlstand gerade in Asien, aber auch in anderen Ländern, wächst. Ich habe schon Fabrikanten getroffen, die gesagt haben: In ein paar Jahren braucht ihr mit euren ökologischen Standards gar nicht mehr zu kommen, dann produzieren wir nur noch für Asien und dann zählen nur noch unsere Vorstellungen. Europas Einfluss wird abnehmen - darüber wird ja schon lange gesprochen, etwa mit dem Begriff des „chinesischen Jahrhunderts“ und dabei steht China nur an der Spitze der Entwicklung. Aber das muss auch so sein, finde ich, vor allem, wenn man betrachtet, dass vergleichsweise wenige Menschen in industrialisierten Ländern den größten Anteil am Wohlstand der Welt haben – und wenn man demgegenüber sieht, wie wenig davon für den Rest der Welt bleibt. Hier muss es eine neue Balance geben, damit es den Menschen global im Schnitt besser geht. Ich finde das nur folgerichtig so.
Umso mehr sollten wir die Zeit nutzen, denn wir haben ganz elementare Vorgaben: Wenn es uns nicht gelingt, die Klimaneutralität zu erreichen, dann wird das gravierende Konsequenzen für Menschen auf der ganzen Welt haben. Ich denke, die Aufgabe von Europa ist es, vorneweg zu gehen und höhere soziale und ökologische Standards zu etablieren und eine Wirtschaft aufzubauen, die zukunftsorientiert ist. Mit diesem Beispiel kann man andere inspirieren - so wie Deutschland zum Beispiel mit der Energiewende andere Länder inspiriert hat, das Gesetz wurde ja von mehreren Ländern übernommen. Hier sehe ich auch die Rolle von Europa: durch das richtige Vorangehen überzeugen und auch die Verhältnisse in Europa verändern. Und dann kann man nur hoffen, dass sich möglichst viele Länder auf diesen Weg mit einlassen.

Kürzere Lieferketten oder Risikodiversifizierung?

Lieferketten sollen künftig transparenter werden, es ist zu erwarten, dass sie dadurch auch kürzer werden. Andererseits planen laut DIHK-Umfragen viele Unternehmen, ihre Lieferketten zu diversifizieren. Was erwarten Sie?
Ich denke, das wird es beides geben: Aus Risikodiversifizierungsgründen setzen Unternehmen nicht mehr auf einzelne Zulieferer, weil diese, das lehrt Corona, ausfallen können. Andererseits kann man ja auch mehrere Schritte der Lieferkette zusammennehmen. Produzenten haben mir in Indien erzählt, dass sie vermehrt gebeten werden, gleich mehrere Produktionsschritte zusammen abzudecken. Vielleicht gibt es also künftig auf diese Weise überschaubarere Lieferketten? Für kleinere Unternehmen könnte es sich lohnen, sich zusammenzuschließen, wie bei Einkaufsgenossenschaften, um ihre Macht zu bündeln. Außerdem gibt es einen steigenden Bedarf an Unternehmen, die Dienstleistungen in der Risikokontrolle anbieten. Hier entsteht ein neuer Markt, denn viele große Unternehmen werden das nicht selbst machen, sondern an Dienstleister geben.

Menschen und Schicksale

Ihre persönlichen Begegnungen mit Entscheidern, aber auch mit den Menschen in den Fabriken vor Ort prägen Ihre Berichte und bilden den lebendigen Hintergrund in Ihrem Buch. Welche Begegnung hat Sie am meisten berührt?
Ich war in Indien in einer Kooperative, die gerade begonnen hatte, faire Biobaumwolle herzustellen, um sie nach Europa zu exportieren. Die Hoffnungen der Bäuerinnen dort in der Fabrik waren hoch gewesen, mit dieser Baumwolle endlich etwas mehr zu verdienen. Sie hatten sehr hart für diesen Schritt gearbeitet. Um über die Runden zu kommen, mussten sie jeden Abend noch Zigarren für eine Fabrik rollen. Dann war die Zertifizierung da, aber es gab nicht genug Abnehmende für die Bio-Baumwolle – obwohl ihnen immer gesagt worden war, dass alle in Europa nur darauf warten würden. Sie konnten sie letztlich nur als normale Baumwolle zum billigen Preis verkaufen. Ich sehe diese Frauen heute noch vor mir, wie sie in diesem Haus auf dem Boden sitzen, voller Wut, die enttäuschte Hoffnung stand in ihren Gesichtern. Dieses Bild hat sich mir eingebrannt. Als ich ein paar Jahre später noch einmal dorthin wollte, waren sie aus dem Fair-Trade-System wieder ausgestiegen.
Caspar Dohmen, freier Wirtschaftsjournlist, Feature-Autor und Kritiker für Süddeutsche Zeitung, Deutschlandfunk, SWR und WDR sowie Buchautor. „Lieferketten. Risiken globaler Arbeitsteilung für Mensch und Natur“ ist 2021 im Wagenbach Verlag erschienen. Mehr zu Caspar Dohmen finden Sie unter www.caspar-dohmen.de. Das Interview führten Thirza Albert und Thomas Bittner, IHK Region Stuttgart.
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