Künstliche Intelligenz vom Acker bis auf den Teller

Den idealen Reifegrad einer Mango zu identifizieren, ist schon in der heimischen Küche herausfordernd genug. Keinesfalls einfacher ist es für Lebensmitteleinzelhändler. Sind die Früchte überreif, verderben sie kurz nach dem Kauf. Sind sie jedoch noch sehr unreif, lassen die Kundinnen und Kunden sie im Regal liegen. Die Unzufriedenheit beim Einkauf spiegelt sich negativ im Umsatz der Einzelhändler wider. Ähnlich sieht es auch an weiteren Stellen der Produktions- und Lieferkette aus. Das Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD entwickelt daher Lösungen, von denen insbesondere regionale Lebensmitteleinzelhändler und -produzenten profitieren.
„Ob Obst und Gemüse oder tierische Produkte – mit grafischer Datenverarbeitung können wir die Qualität der Lebensmittel oder der Herstellungsschritte objektiv messbar machen“, erklärt Dr. Philipp Wree, Abteilungsleiter Smart Farming am Fraunhofer IGD Rostock. Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) oder Robotik eigneten sich nicht nur für Großkonzerne, sondern seien für viele kleine und mittelständische Unternehmen interessant. Neben wirtschaftlichen Vorteilen lässt sich beispielsweise die Lebensmittelverschwendung reduzieren und die Attraktivität von Arbeitsplätzen steigern, etwa durch Verringerung des Dokumentationsaufwands. 

Verwertung von Obst und Gemüse intelligent steuern

Im Falle der Mango kann der Reifeprozess automatisiert über Kameras an verschiedenen Stellen innerhalb der Lieferkette detektiert werden, vom Anbaufeld bis zum Supermarktregal. Anhand der Ergebnisse ist es möglich, die weitere Verwendung der Früchte zielgerichtet zu steuern: Bereits reife Chargen werden beispielsweise für die Herstellung von Mangopüree genutzt, statt in den Einzelhandel zu gehen – oder im Preis gesenkt, damit diese zuerst verkauft werden. Ist die KI einmal von Wree und seinem Team angelernt, entdeckt sie Hinweise auf äußerliche Defekte oder Reife zuverlässig. Ein solches System könnte auf unterschiedliche Produkte angepasst werden.
Das Fraunhofer IGD mit Standort in Rostock entwickelt diese anwendungsorientierten Lösungen für Land- und Ernährungswirtschaft in Zusammenarbeit mit dem ebenfalls in Rostock ansässigen Fraunhofer-Institut für Großstrukturen in der Produktionstechnik IGP sowie drei weiteren Fraunhofer-Instituten aus Bayern. Im Rahmen der Fraunhofer-Initiative für Biogene Wertschöpfung und Smart Farming bearbeiten sie technologieübergreifend Projekte von der Pflanzenzüchtung bis zur Qualitätskontrolle beim Endkonsumenten – gefördert von Bund und Ländern mit 80 Millionen Euro über fünf Jahre.

Tierwohl für Verbrauchersiegel messbar machen

Bei tierischen Produkten können die Technologien das Tierwohl – oftmals Grundlage für Verbrauchersiegel – objektivieren und so vergleichbar machen. Bislang differenzieren solche Labels nach Maßnahmen wie etwa Platz pro Tier oder Art des Futters, nicht aber nach den tatsächlichen Auswirkungen auf das Tierwohl. Die Fraunhofer-Forschenden arbeiten indes an einer Lösung, die auch Gesundheit und Wohlbefinden beispielsweise der Milchkühe einbezieht. Lahmt das Tier? Liegt das Tier ungewöhnlich lang? Sind Körpertemperatur und Atemfrequenz normal? Diese und weitere Informationen lassen sich über Kameratechnik erfassen und anschließend visualisieren sowie auswerten. In Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Nutztierbiologie FBN erarbeiteten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Parameter, die auf gesunde und zufriedene Tiere hindeuten.
In der Fleischindustrie ermöglicht der Einsatz von Robotik automatisierte aber dennoch individuelle Produktionsprozesse, beispielsweise in der Verpackung und Etikettierung. In Zeiten des Fachkräftemangels eine wertvolle Perspektive für viele Unternehmen: „Vielerorts ist es schwierig, qualifizierte Arbeitskräfte zu gewinnen. Entsprechende Technologien können den Personalaufwand reduzieren und physisch anspruchsvolle Arbeitsplätze attraktiver gestalten“, erklärt Wree. Aufgaben, die sonst manuell erledigt werden, könnten kosteneffizient übernommen werden – auch im kleinen Maßstab zuverlässig und ohne Ausfallzeiten. „Passgenaue Systeme mit intelligenter Sensortechnik reduzieren die Nebenzeiten im Fleischerhandwerk enorm.“

Mit LEDs zu längerer Haltbarkeit

Die eingangs genannte Mango dient den Fraunhofer-Forschenden noch in einem anderen Aspekt als Untersuchungsobjekt. Darin steht die Beleuchtung von Supermärkten im Fokus. Bereits bekannt ist, dass grünliches Licht beispielsweise für Kartoffeln vorteilhaft ist, da es die Bildung von Solanin hemmt. Dass Supermärkte zunehmend die Neonröhren aufgrund der EU-Richtlinie zur Vermeidung gefährlicher Substanzen verbannen und auf energieeffiziente LED-Leuchtmittel umrüsten, eröffnet Chancen für weitere Obst- und Gemüsesorten. „Über LEDs und deren Wellenlängen kann man viel Einfluss auf die Lebensmittelqualität nehmen“, erklärt Wree. Diese haben, im Gegensatz zur Neonröhre, ein wesentlich engeres Lichtspektrum und lassen sich so gezielter einsetzen.
Wie Produzenten und Händler entlang der Lieferkette so positive Effekte erzielen können, untersuchen das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV aus Bayern und das Fraunhofer IGD aus Mecklenburg-Vorpommern gemeinschaftlich. „Möglicherweise haben wir bald im Supermarktregal unterschiedliche farbliche Beleuchtungen entsprechend der Haltbarkeitsansprüche der Lebensmittel – sofern das menschliche Auge das überhaupt ausreichend differenzieren kann“, sagt Wree.
Die Initiative »Biogene Wertschöpfung und Smart Farming« der Fraunhofer-Gesellschaft stellt die anwendungsorientierte Forschung im Bereich der Ernährungs- und Landwirtschaft – vom Pflanzenbau über die Tierhaltung bis hin zur Nutzung von Moorflächen – in den Fokus. Bestehend aus zwei Teilinitiativen organisieren sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der fünf Fraunhofer-Institute IGD, IGP, IIS, IVV und EMFT an mehreren Standorten in Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Die interdisziplinären Teams bringen eine umfassende Expertise aus den Bereichen Robotik und Automatisierung, Sensorik, Analytik und Aktorik, KI und Big Data sowie Konstruktion, Produktion und Verfahrenstechnik ein. Ihr Ziel ist die Entwicklung neuer Technologien für eine nachhaltige Erzeugung und Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Produkte: vom Saatgut bis zum veredelten Produkt. Der Finanzbedarf für die Initiative umfasst insgesamt 80 Millionen Euro, die zu gleichen Teilen von Bund und Ländern aufgebracht werden. Die Finanzierung der beiden Teilinitiativen wird damit mit 20 Millionen Euro vom jeweiligen Bundesland sowie insgesamt mit 40 Millionen Euro aus Bundesmitteln getragen.

Drei Fragen an Dr. Philipp Wree

Abteilungsleiter Smart Farming am Fraunhofer IGD Rostock:
Welche kommenden Innovationen sehen Sie in Verarbeitung, Veredlung und Handel von Lebensmitteln?
Ich denke, dass wir zukünftig die Verwendung und Verfügbarkeit von Lebensmitteln besser steuern können. Dann ließe sich bei jedem Produkt im Supermarkt nachvollziehen, wann und wo es produziert wurde und wie sich die Qualität im Laufe des Prozesses verändert hat. In einem digitalen Zwilling werden über unterschiedliche Sensorik erfasste Daten in einem zentralen Raum zusammengeführt und von einer KI analysiert. Diese hohe Transparenz der Wertschöpfungskette führt dazu, dass die Produktionsprozesse für alle effizienter gestaltet werden können.
Wie kann die Fraunhofer-Gesellschaft Unternehmen in Innovationsprozessen begleiten?
Die Fraunhofer-Institute sind geprägt von einem Transfer-Gedanken. Wir machen Erkenntnisse aus der Wissenschaft der Wirtschaft zugänglich. Durch die Branchenaus-richtung sind wir Expertinnen und Experten im Bereich Biogene Wertschöpfung und Smart Farming. Gleichzeitig können wir Technologien aus anderen unserer Forschungsbereiche auf die Lebensmittelwirtschaft übertragen – ein doppelter Transfer also und eine Konstellation, von der alle Beteiligten profitieren.
Wie finden Unternehmen aus der Region und Forschung dabei zusammen?
Besonders wichtig ist eine gewisse Technologieoffenheit. Ob kleiner regionaler Betrieb oder Konzern, spielt für uns eine untergeordnete Rolle – wir freuen uns auf interessante Forschungsprojekte mit einem starken Praxisbezug. Interessierte Unternehmen können mich gerne direkt kontaktieren.