Kiel-Holtenau: Kieler Meeresfarm

Genuss aus der Ostsee

Ist die Muschelzucht in der Kieler Förde möglich? Kann sie die Nährstoffentnahme der übersättigten Ostsee unterstützen? Getrieben von diesen Fragen entstand die Kieler Meeresfarm GmbH & Co. KG direkt in Holtenau.
An lang gespannten Leinen unter der Wasseroberfläche gedeihen dunkel glänzende Miesmuscheln und Zuckertang. Früh am Morgen fahren Dr. Tim Staufenberger, Kristina Hartwig und Nikolai Nissen mit ihrem Arbeitsboot raus auf die Förde, um die Erzeugnisse ihrer Kieler Meeresfarm zu ernten. Sie haben ihre Zucht angepasst, um den Ernteausfall aus dem letzten Jahr zu kompensieren, und hoffen auf Erfolg. Denn die Forschungsfragen, die die Farm ins Leben rief, kann das Team klar beantworten: Ja – Muscheln und auch Algen lassen sich in der deutschen Ostsee kultivieren. Die sogenannte integrierte multitrophe Aquakultur (IMTA) balanciert die Zucht von Muscheln, Algen und Fischen so, dass die durch die Fischzucht eingebrachten Nährstoffe aus der ohnehin schon übersättigten Ostsee durch die Ernte der Muscheln und Algen wieder entnommen werden. Die Meeresfarm arbeitet daher emissionsneutral.
„Wir sind entstanden aus dem Forschungsprojekt Extractive Baltic Sea Aquaculture of Mussels and Algae von Coastal Research & Management, genannt CRM. Gefördert wurde das Projekt durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt“, sagt Gründer Tim Staufenberger, Mikro- und Meeresbiologe. 2014 machte er aus der Farm ein eigenes Unternehmen, gewann sogar den Gründercup der KielRegion. Sein Kollege Nikolai Nissen stieß zwei Jahre später dazu, studiert in marinen Technologien und kaufmännisch ausgebildet, und wenig später fand auch Kristina Hartwig, ehemals Sozialarbeiterin, ihren Weg zur Meeresfarm. 2020 gründet das dreiköpfige Gespann die heutige Kieler Meeresfarm und stellt die Firma neu auf. Wo einst 0,7 Hektar Wasser zur Verfügung standen, können heute 8,4 Hektar genutzt werden. „Wir bewirtschaften bisher etwa die Hälfte“, sagt Kristina Hartwig.
Es gibt klare Regeln: 50 Tonnen Muscheln, 30 Tonnen Algen und 3,7 Tonnen Fisch darf die Farm produzieren. Wo oft erst mit der Fischzucht begonnen wird, arbeitet die Kieler Meeresfarm gemäß behördlicher Vorschriften umgekehrt: „Durch Fischzucht gelangen Futter und Ausscheidungen in die Ostsee. Wir bauen daher zuerst Muscheln und Algen so an, dass diese den Eintrag der Fische kompensieren können“, erklärt Nikolai Nissen. Die Eiderenten, die vor allem im Herbst und Winter in der Ostsee aktiv sind, machten im Winter 2021/2022 einen Großteil des Vorhabens zunichte. Muscheln werden 2023 daher anders angebaut: „Um Miesmuscheln zu schützen, wollen wir dieses Jahr mit in Skandinavien erprobten Netzen arbeiten, die die Enten abhalten. Hierzu arbeiten wir in einem Forschungsprojekt gemeinsam mit der Tierärztlichen Hochschule Hannover und dem MEKUN zusammen, um die Enten nicht zu gefährden, aber unsere Ernte zu schützen“, so Nissen weiter. „Algen wiederum sind keine Nahrung für die Eiderenten, sodass es uns im letzten Winter erstmals gelungen ist, in der Kieler Förde Zuckertang in nennenswerten Mengen anzubauen.“
Zuckertang von der Farm ist für den Verzehr geeignet, allerdings nur in kleinen Mengen, da die Alge viel Jod enthält. Auch für die Kosmetik, Medikamente, Dünger oder für Treibstoff ist Zuckertang nutzbar – wenn die richtige Infrastruktur zur Weiterverarbeitung bestünde, klagt Tim Staufenberger. „In Deutschland sind wir nicht gut aufgestellt. Wir müssten unsere Algen nach Nordamerika oder Asien verschicken, wo angelandet, sortiert, blanchiert, gefroren oder verarbeitet wird“, so der Biologe. „Wir testen den Markt derzeit“, erklärt Kristina Hartwig. „Denkbar ist der Vertrieb der Algen als Inhaltsstoff für Kosmetik, als Zutat für Gewürze wie zum Beispiel Salz oder auch direkt an Endverbraucher und Gastro-Betriebe. Für das kommende Frühjahr hat bereits ein finnisches Unternehmen Interesse an der Algenbiomasse geäußert.“
Die biozertifizierten Miesmuscheln verkauft das Team selbst, vor allem an Gastronomiebetriebe, Privatkunden oder den CITTI-Markt in Kiel. Auch die Fischzucht mit Regenbogenforellen ist auf der Meeresfarm schon genehmigt, doch die Forelle ist nicht heimisch. „Lieber wollen wir Arten wie den Ostseeschnäpel oder den Wittling testen“, sagt Kristina Hartwig. „Uns ist zudem wichtig, keine kommerzielle Fischzucht zu betreiben, da es bis heute kein nachhaltig produziertes Fischfutter gibt.“ Aus den eigenen Muscheln und Algen Futter herstellen, das ist ein Wunsch des Teams, der jedoch vor allem zweierlei braucht: Zeit und Geld. Das ist zwischen der Aufzucht, Ernte, Führungen und Vorträgen eine Herausforderung.
„Wir sind eine nearshore-site, mit den 50 Metern Uferentfernung also eine sehr küstennahe Anlage“, erklärt Tim Staufenberger. „Für nationale und internationale Forschungsprojekte und -aufträge ist das attraktiv. Zum Beispiel testen wir in Forschungsprojekten, ob man zwischen den Pylonen von Offshore-Windkraftanlagen in Nord- und Ostsee Muscheln und Algen züchten kann. Sensoren und Kameras können bei uns auf der Farm getestet werden, ehe man das Equipment zum Windpark bringt.“ Für ein Projekt von UKSH und CAU produziert das Team Algen, die in der Augenheilkunde der altersbedingten Makuladegeneration entgegenwirken sollen; und für ein EU-Projekt mit Produktionsschwerpunkt in Dänemark und Schweden sollen ausgewachsene, nährstoffreiche Miesmuscheln, die für den Verzehr zu klein sind, zu Hunde- oder Katzenfutter verarbeitet werden. „Zu dritt ist das alles manchmal kaum zu bewältigen“, sagt Kristina Hartwig. „Unser Team muss wachsen. Nach langem bürokratischem Aufwand dürfen wir ab der nächsten Ernte Helfer beschäftigten. In der deutschen Ostsee hat vor uns noch nie ein Team das gemacht, was wir tun – deswegen dauern viele Verfahren und Genehmigungen länger.
Wir müssen miteinander lernen und sorgfältig prüfen – trotzdem wünschen wir uns, dass wir mehr Planungssicherheit erhalten. Vor allem die für 2024 geplanten Baumaßnahmen rund um das MfG-5-Gelände und den Plüschowhafen bereiten der Kieler Meeresfarm Sorge. Hier ist das Team auf eine gelingende Zusammenarbeit und rege Kommunikation mit den örtlichen Behörden angewiesen, zumal sich die Umsetzung der Planung von Promenade, Wohn- und Industriegebiet durchaus negativ auf die Wasserqualität auswirken könnte. „Falls die Baumaßnahmen unsere Ernte gefährden oder im schlimmsten Fall sogar vernichten, entschädigt uns dafür wahrscheinlich niemand“ sagt Tim Staufenberger.
Trotz vieler Herausforderungen gedeihen viele Ideen. Dazu gehört auch der Ansatz des Multi-Use-Fischgeheges, das oberhalb bepflanzt und mit Muschelsträngen behängt Unterschlupf für Fische bietet. Das Team, das an der Umsetzung dieser Idee arbeitete, belegte bei der Ocean Re-Creation Challenge den zweiten Platz. Mit „Adopt-a-Loop“, dem Patenprogramm der Kieler Meeresfarm, können Interessierte einen Loop, also eine Leine der Farm, adoptieren. Der Betrag von nur 27 Euro im Jahr unterstützt, damit die Meeresfarm weiter Muscheln und Algen züchten kann. „Und es gibt auch noch einen Euro Rabatt auf den Einkauf pro Kilo bei uns“, sagt Nikolai Nissen. Auch das Vorhaben, die im Winter freien Wasserflächen der Sportboothäfen zu nutzen und gemeinsam mit Seglerinnen und Seglern und anderen Interessierten Zuckertang anzubauen, verdeutlicht: Die Kieler Meeresfarm hat statt finanziellem Gewinn den Schutz der Ostsee im Fokus.
Oktober 2023