SH: Slow Tourism

Langsamer Tourismus ist Gemeinschaftsaufgabe

Entschleunigen, runterfahren, ankommen: Langsam und dabei nachhaltig Reisen ist für viele Urlaubsgäste zum großen Wunsch geworden. Destinationen wie Schleswig-Holstein haben die Chance, sich im Zentrum des Trends zu positionieren. Expertin Dr. Sabrina Seeler spricht im Interview darüber, wie es aktuell um das nördlichste Bundesland beim slow tourism steht. 
Slow Tourism ist schon rund 30 Jahre als Begriff in der Tourismuswirtschaft bekannt. Gibt es aber seit dem Start der Bewegung konkrete Merkmale, an denen man „echten“ Slow Tourism erkennt? 
Das Konzept ist älter, aber manche Konzepte verfestigen sich erst nach einigen Jahren. Gleichgeblieben ist der Fokus: Entschleunigung. Es geht darum, dem Höher, Schneller, Weiter entgegenzusteuern, Tempo rauszunehmen. Wir haben eine zunehmende mentale Mehrbelastung in der Bevölkerung und suchen einen Gegenentwurf.Da der Tourismus eine Gegenwelt bilden kann, ist die logische Konsequenz, dass Reisende den Abstand vom schnelllebigen Alltag bei Urlaubsreisen suchen. Die Coronapandemie hat den Trend noch einmal befeuert, seitdem besinnen wir uns noch stärker auf Nachhaltigkeit und Langsamkeit. In Schleswig-Holstein haben wir unterschiedliche Regionen mit einer Vielzahl an touristischen Leistungsträgern – und jeder und jede hat eine andere Definition und Ausrichtung vom Gastgewerbe. Echter Slow Tourism wäre hier beispielsweise daran zu erkennen, dass sich die gesamte Branche des Landes (und darüber hinaus) transformiert und einen starken Haltungswechsel lebt. Aber zur Wahrheit gehört: Wir Deutschen reisen gerne und vor allem kurz. Kurze Reisen sind aber selten slow. Bezogen auf einzelne Betriebe kann man trotzdem schon beobachten, dass Elemente der gesamten Leistungskette entschleunigt werden, beispielsweise bei der Anreise, dem Check-in, den Angeboten vor Ort, der Abreise. 
Gibt es echten langsamen Tourismus dann überhaupt? 
Diverse Studien belegen, dass der Wunsch nach Abstand zum Alltag sehr hoch ist. Die Umsetzung kann, je persönlichen Interessen, aber auch dem Charakter der besuchten Destination, sehr unterschiedlich aussehen. Für einige Gäste ist ein Abend mit drei Bars im Urlaub der gewünschte Alltagsabstand, für andere ist es das Paddeln auf dem Fluss in Stille. Als Bundesland der Küsten und der Fläche haben wir Chancen und Vorteile gegenüber Großstädten, in denen die Dynamik gesucht wird: Es macht einen Unterschied, ob ich in Hamburg oder auf Pellworm Zeit verbringe. Die Kunst liegt darin, unterschiedliche slow-Bedürfnisse in die Balance zu bringen. Schleswig-Holstein möchte eins der nachhaltigsten Reiseziele Deutschlands werden – das heißt im Umkehrschluss auch, dass das Bekenntnis zur Verlangsamung als erstrebenswert angesehen werden muss, und zwar von allen beteiligten Akteuren. Wo wir aber wieder bei der Definition des Konzepts wären. In einer Stadt kann Entschleunigung schon bedeuten, eine verkehrsberuhigte Zone rund um eine Gastwirtschaft zu haben. Zu oft hängt das Bild von Slow Tourism an Pilgerreisen und Wanderungen, dabei geht es hierbei auch um Fragen der Mobilität und der ökologischen Belastung, sowie Bestrebungen zur Aufenthaltsverlängerung oder der konsequenten Integration regionaler Angebote, insbesondere der regionalen und saisonalen Küche. Ziel sollte es sein, die Reisenden davon zu überzeugen, weniger, dafür aber länger und bewusster zu reisen – vor dem Hintergrund der großen Reiselust der Deutschen und dem Bedürfnis möglichst viel zu erleben, ist dies jedoch keine ganz leichte Aufgabe.
In Schleswig-Holstein ist also noch Luft nach oben. Kann unser Bundesland mit Slow Tourism zur nachhaltigsten Urlaubsdestination in Deutschland werden? 
Ich möchte das positiv und optimistisch sehen: Die Akteure sind sich ihrer Herausforderung bewusst. Einige hochfrequentierte Orte wie St. Peter-Ording, Sylt oder Timmendorf haben damit zu kämpfen, dass Einheimische Tourismus weniger akzeptieren als gewünscht. Diese Haltung zwingt auf mittel- und langfristige Sicht, eine Verlangsamung im Tourismus zu etablieren. Wir müssen nicht zwangsläufig weiterwachsen – auch wenn es natürlich auch in Schleswig-Holstein Orte und Regionen gibt, in denen die Auslastung in der Tat noch ausbaufähig ist – sondern uns darauf konzentrieren, wie wir Aufenthalte verlängern, wie Anreize der Regionen noch besser verknüpft und schließlich so vermarktet können, dass Gäste länger im Urlaubsort verweilen und der Tourismus im Einklang der Einheimischen realisiert werden kann. Das dominante Narrativ im Tourismus ist, dass durch die Schaffung und Sicherstellung einer positiven Besuchs- und Erlebnisqualität für die Gäste auch Lebensraum und Lebensqualität für Einheimische geschaffen wird. Eine nachhaltige Destinationsentwicklung im Sinne des slow-Konzepts bedarf hier ein neues Narrativ: Die Schaffung und Sicherstellung eines positiven Lebensraums und einer hohen Lebensqualität für Einheimische schafft auch Besuchs- und Erlebnisqualität für Gäste. Wenn uns diese Transformation gelingt, wir dies als Haltung und nicht Verhalten verstehen, würden wir einen großen Schritt hin zur nachhaltigsten Destination im Deutschlandtourismus erreichen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel? 
Wir können uns auch an Beispielen wie Meldorf orientieren: Meldorf hat sich als Cittàslow zertifizieren lassen, ein Konzept, das aus Italien nach Deutschland gekommen ist. Städte können sich zum Gesamtkonzept Slow verpflichten und werden nach gewissen Kriterien getestet und schließlich zertifiziert. Hier geht es vor allem darum, dass die Lebensqualität der Einheimischen und die Aufenthaltsqualität der Urlaubsreisenden hoch und in Balance bleibt. Hier sind unter anderem Orte in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz fokussierter und setzen sich bereits intensiver mit Slow Tourism auseinander als Schleswig-Holstein. In Weinregionen mag der Druck der Neuorientierung aber auch anders sein als an der Küste – das Konzept Bade- und Strandurlaub funktioniert ja grundsätzlich sehr gut, daher ist der Wunsch und Bedarf eines Umdenkens weniger ausgeprägt. 
Gibt es weitere gelungene Praxisbeispiele? 
Viele Betriebe in Schleswig-Holstein setzen bereits auf Digital Detox, Yoga- und Wellness-Retreats oder CO2-neutrale Urlaube, hier könnte eine Vielzahl an Betrieben an den Küsten, auf den nordfriesischen Inseln aber auch im Binnenland genannt werden. Das sind wieder Teilbereiche aus dem Slow Tourism, die sehr guten Anklang bei den Gästen finden, zu den Zielen der Orte passen und damit auf die Gesamtstrategie der Verlangsamung einzahlen. Auf den Inseln und in kleineren tourismusstarken Orten sehen wir oft eine sehr hohe Identifikation und eine hohe Verbundenheit mit dem Wohnort, der Insel bzw. der Region; dort haben wir dann oft auch einen gewissen Heimvorteil, da Einheimische direkt oder indirekt im Tourismus involviert sind und entsprechend in der Entwicklung von touristischen Konzepten einbezogen werden wollen. Dies steigert zumeist  die Akzeptanz und der Tourismus kann im Einklang der Einheimischen authentisch und regional verwurzelt gestaltet und realisiert werden.  
Wie betrachten Sie die Entwicklung für den Tourismus im Binnenland in Anbetracht des langsamen, nachhaltigen Tourismus? 
Wenn es uns gelingt das Binnenland mehr zu beleben, können wir hier langfristig sehr positiv wirken – das Binnenland bietet extrem viel Potential zur Entschleunigung. Aber wir brauchen auch die entsprechende Infrastruktur, denn Entschleunigung im ländlichen Raum bedeutet nicht, dass Abstriche bzgl. der Angebotsqualität gemacht werden – wir brauchen besser ausgebaute Radwege, nachhaltig ausgerichtete Unterkünfte entlang der Radwege, regionale Angebote an den Wanderrouten. Zum Vergleich: An den Küsten ist in den letzten Jahren zum Teil viel investiert worden, und das ist toll, denn es gab einen großen Erfolgsrutsch, viele Orte sind heute aufgrund der hohen Nachfrage überbucht und temporäre und lokalisierte Ballungsräume sind nicht zu verstecken. Das Image Küste wird immer mit unserem Bundesland verbunden sein. Aber das Binnenland hat mindestens genauso viel zu bieten, und hier sind die Investitionen nicht im selben Maße umgesetzt worden. Andere Flächenbundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg haben ähnliche Probleme, sie sind wie unser Binnenland geprägt von Seen, flachem Land und Feldern. Doch im Gegensatz zu uns haben sie den Fokus auf das Image Nichtstun gelegt, Langeweile wird hier positiv konnotiert. Es geht darum, dass wir aufzeigen, dass es einen Ort des Rückzugs in der Natur gibt. Selbst viele Einheimische Schleswig-Holsteins kennen unser Binnenland nicht ausreichend, bei Binnenland wird dann oft an küstennahe Orte wie Plön, Malente oder Eutin gedacht, aber das Binnenland hat so viel mehr zu bieten.
Was könnte man tun, um hier noch mehr zu wirken?
Schleswig-Holstein wirbt schon seit langem nur noch für die Nebensaison, denn die Sommersaison lockt so oder so eine Vielzahl an Gästen ins Bundesland. Der Verzicht auf aktiver Bewerbung der Sommersaison war bereits mutig, man könnte aber neben saisonalen Entzerrung auch noch konkreter die räumliche Entzerrung im Marketing verfolgen – darauf vertrauen, dass die Küste stark in den Köpfen der Gäste verankert ist und vielmehr auf Leuchttürme des Binnenlandes setzen. Natürlich bedeutet dies auch,  dass hier ein großes Spannungsfeld der Akteure entstehen kann, nur wenn gemeinsam an einem Strang gezogen wird und das gemeinsame Ziel der Nachhaltigkeitstransformation verfolgt wird, können hier auch alle Akteure zufriedengestellt werden. Am Ende müssen die Betriebe der Kommunen die Konzepte der Entschleunigung umsetzen – das erfordert immer Mut und Willen zur Veränderung aber auch entsprechende politische Rahmenbedingungen. Ich denke aber auch, dass wir unsere zum Teil starren Denkweisen hier ablegen müssen, manchmal noch mutiger sein können, Veränderungsbereitschaft leben und Schritte gehen sollten, die im ersten Moment nicht allen gefallen werden, aber sonst stoßen wir an zu viele Grenzen und enden im Stillstand. Transformation bedeutet Einsicht, Umsicht und Voraussicht – wir haben die Chance, unsere Zukunft aktiv mitzugestalten, diese Chance sollten wir nicht ungenutzt lassen und vorausgehen!
Haben Sie einen Rat an Unternehmen, die ihren Betrieb nachhaltiger, langsamer, mehr slow ausrichten wollen? 
Regionale, kurze Lieferketten und Kooperationen sind ein wichtiger Aspekt und stärken das Miteinander zwischen Einheimischen und Betrieben. Über das Netzwerk in der Nachbarschaft eines Unternehmens können kreative Ideen und Projekte ins Leben gerufen und zusammen umgesetzt werden. Seien Sie mutig, lassen Sie zu, dass es hakt, akzeptieren Sie, dass auch die Umstellungsphase an sich schon langsam sein wird, und bleiben Sie dran. Machen Sie sich bewusst, dass die Nachfrage nach klimafreundlichen touristischen Angeboten steigen wird und bereiten Sie sich schon jetzt darauf vor. Ja, das heißt wahrscheinlich auch, Preise anzupassen. Nachhaltigkeit soll kein Luxusgut werden, aber wenn Sie damit werben, dass der eine Urlaub im Jahr bei Ihnen entschleunigend sein wird, dann können Sie Verantwortung dafür übernehmen, das Bewusstsein Ihrer Gäste zu schulen und Nachhaltigkeit als das neue Normal in den Köpfen zu verankern. Entscheidend ist: Wenn Unternehmen auf ein Slow-Konzept umsetzen, muss das wirtschaftlich verträglich geschehen. Daher empfehle ich kleine Schritte, niederschwellige Prozesse, die dann zu langfristigen Meilensteinen führen.  

Zur Person 

Dr. Sabrina Seeler ist promovierte Sozialwissenschaftlerin und lehrt an der Fachhochschule Westküste im Studiengang International Tourism Management im Bachelor- und Master. Ihr Fokus liegt dabei auf sozialen Nachhaltigkeitskomponenten des Tourismus: dem Zusammenspiel zwischen dem Wohlbefinden der touristischen Gäste und den Einheimischen. Auch ihre eigene Forschung ist diesem Schwerpunkt gewidmet, vor allem der Wahrnehmung von Tourismus am Wohnort und den Faktoren, die die Lebensqualität hierdurch steigern oder hemmen können. Als Referentin und Vorstandsmitglied im Deutschen Institut für Tourismusforschung ist sie in der Branche als Expertin fest verankert.  

Wissenswert

Unter dem Begriff Slow Tourism (langsamer Tourismus) werden Themen und Trends rund um Entschleunigung, Nachhaltigkeit und Authentizität in touristischen Kontexten zusammengefasst. Neben der Fokussierung auf konkrete Ansätze im Hotel- und Gastronomiegewerbe, hat sich Slow Tourism, ähnlich zur Slow Food Bewegung, in Teilen zu einer Lebensstil-orientierten Bewegung entwickelt. Slow Tourism kann als Gegenentwurf zum Globalisierungs- und Fortschrittsstreben in der weltweiten Tourismusindustrie betrachtet werden.