Mit der Kamera gegen die Verzweiflung
Es gibt Momente, in denen Engagement nicht geplant, sondern plötzlich unvermeidbar wird. Wer ein Ehrenamt übernimmt, tut das selten aus Bequemlichkeit. Es ist der Wunsch, etwas zu bewegen. Für den schleswig-holsteinischen Fotografen Fabian Frühling ist dieser Moment seit zehn Jahren immer wieder derselbe: wenn er in den Slums von Nairobi steht und seine Kamera hebt, um sichtbar zu machen, was sonst niemand sieht.
Einmal liegt ein Neugeborenes vor der Tür des Therapiezentrums, in eine dünne Decke gewickelt. Fabian Frühling nimmt das Kind vorsichtig auf den Arm. „Was ist hier los?“, fragt er die Leiterin des Centers. Die Antwort ist nüchtern: „Die Eltern haben festgestellt, dass das Kind eine Behinderung hat. Sie wollen es nicht.“ Betroffenheit ist da, aber Zeit für Emotionen bleibt keine. Vor Ort funktioniert er, hilft, dokumentiert. Seit seinem 18. Lebensjahr reist der heute selbstständige Fotograf für den Verein Kinderhilfe Harambee e.V. regelmäßig nach Kenia, um Kindern in den Slums eine Stimme zu geben.
Fotograf Fabian Frühling macht sichtbar, was sonst keiner sieht.
Eine Freundin, eine Reise, eine Entscheidung
Seinen Anfang nahm alles weit entfernt von Afrika, auf Teneriffa. Dort betreibt seine Freundin Tina Richter ein Reittherapiezentrum für Kinder mit Behinderung. Eine Safari-Reise vor zwanzig Jahren brachte sie erstmals nach Nairobi – und zu der Erkenntnis: „Uns geht es so viel besser. Ich möchte etwas zurückgeben.“ Sie gründete einen Verein, der Kinder mit Behinderung in den Slums unterstützt. Frühling, damals gerade 17, hörte zu, fragte nach und beschloss zu handeln. Kurz nach seinem 18. Geburtstag flog er zum ersten Mal nach Nairobi. Direkt in die Slums. Direkt ins Leben.
Wo Kinder zum Fluch erklärt werden
Die Realität vor Ort ist brutal. Kinder, die mit einer Behinderung leben, gelten als „von Dämonen verflucht“. Väter verlassen die Familien, Mütter bleiben allein. Viele Kinder Verlassen ihr Haus nie – aus Angst vor Gewalt. „Um den Fluch zu brechen, werden sie getreten, geschlagen oder vergewaltigt, sobald die Dämmerung einbricht“, sagt Frühling. Selbst Vitamin-D-Mangel ist verbreitet, obwohl die Sonne brennt – weil die Kinder nicht nach draußen dürfen.
Das Therapiezentrum bietet ihnen einen geschützten Ort: ein Innenhof, Tagesbetreuung, medizinische Begleitung. Mütter können in dieser Zeit arbeiten und Geld verdienen. Hilfe zur Selbsthilfe, Schritt für Schritt. Manche Kinder bleiben zehn Jahre, andere finden über das Netzwerk neue Familien – Frauen, die sich gegen Stigma und Aberglauben stellen.
Über ein Jahrzehnt hat sich der Verein im gesamten Slum Vertrauen erarbeitet. „Die Leute wissen, dass wir bleiben, dass wir Gutes tun“, sagt Frühling.
Rollstühle, Medikamente und die Kraft des Netzwerks
So wichtig wie die Arbeit vor Ort ist das Netzwerk in Deutschland. Geld wird nie direkt ausgezahlt, sondern ausschließlich in Waren und Leistungen umgesetzt.
Hermes Arzneimittel sendet Paletten mit Vitamin-D-Präparaten. Die Firma Assmann aus Kiel stellt ausgemusterte, aber funktionsfähige Rollstühle bereit. Für bewegungseingeschränkte Kinder bedeuten sie Freiheit. Frühling organisiert die Logistik, verhandelt mit Lufthansa für kostenfreie Transporte. Förster I.T. spendet Rechner für die Büroarbeit. Andere helfen mit Hörgeräten, Medikamenten oder ehrenamtlichen Einsätzen.
Es sind die Erfolgsgeschichten, die tragen: Anne und ihr Zwillingsbruder, beide taubstumm. Vier gespendete Hörgeräte. Heute studiert Anne als Klassenbeste. Oder Susan, die nach einer Fehlbehandlung fast nicht mehr gehen konnte. Eine gesponserte Operation gab ihr das Leben zurück.
Auch Michel Bahr und sein Team von AOR Gartenservice GmbH aus dem Netzwerk der Wirtschaftsjunioren Kiel engagieren sich und spendeten statt Jubiläumsgeschenken mehr als 10.000 Euro. Bauleiterin Svea Bruns reiste sogar persönlich nach Nairobi, reparierte Dächer, bepflanzte Gärten. „Sie hat gesagt: Da kann ich nicht nur Geld hinschicken. Da muss ich mit anpacken.“
Sichtbar machen, was keine Stimme hat
Zu Hause verarbeitet Frühling die Eindrücke erst mit Abstand. „Ich funktioniere unter Stress“, sagt er. Erst später spürt er, wie groß die Unterschiede sind. „Man vergisst viel zu oft, dass wir unfassbar privilegiert sind.“
Sein Ehrenamt fügt sich nahtlos in seinen Beruf ein. „Als Fotograf mache ich Dinge sichtbar. In Afrika geht es um etwas, das viel wichtiger ist – aber keinerlei Sprachrohr hat.“ Genau das treibt ihn an. Was würde ihm fehlen, wenn er nicht mehr hinfliegen könnte? Er schweigt kurz. „Die Chance, etwas zurückzugeben. Mit ganz wenig, ganz viel zu erreichen. Das gibt Sinn.“
Im Februar will er wieder fliegen. Die Kamera kommt mit. Zehn Rollstühle. Medikamente. Und die Gewissheit, dass jede Reise Leben verändert – in Nairobi und in Schleswig-Holstein.
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Sophie Blady