Gesundheitsbranche während Corona

Offensive in der Krise

Große Teile der Wirtschaft mussten in der Coronakrise eine Zwangspause einlegen. Doch in und rund um Lübeck entwickeln Unternehmen in diesen Tagen Produkte und Lösungen, die weltweit Hilfe und Hoffnung bringen. Einige Firmen machen aus der Not eine Tugend – und überraschen mit ungewöhnlichen Ideen im Kampf gegen das Virus.
Spätestens seit März geht bei der Drägerwerk AG & Co. KGaA alles Schlag auf Schlag. Die Bundesregierung bestellt bei dem Lübecker Medizintechnikhersteller 10.000 Beatmungsgeräte auf einmal – der größte Auftrag in der Unternehmensgeschichte. Laut Medienberichten rufen in den Folgetagen unter anderem der österreichische Bundeskanzler und der niederländische König persönlich an, um Medizintechnik zu ordern. "Wir setzen alles daran, weltweit 'Technik für das Leben' bereitzustellen, wo sie am meisten gebraucht wird. Die Auslieferung des Auftrags der Bundesregierung erstreckt sich über das ganze Jahr 2020. Wir werden jedoch gleichzeitig immer noch mehr Geräte ins Ausland liefern", sagt Dräger-Pressesprecherin Melanie Kamann Anfang April. Dafür habe Dräger die Produktion bereits Anfang 2020 innerhalb von vier Wochen deutlich hochgefahren und schon im Februar eine Rekordmenge von Intensivbeatmungsgeräten für China produziert. Weitere Kapazitätsausweitungen seien in der Planung, allein in Lübeck sollen bis zu 500 neue Mitarbeiter hinzukommen. "Wir haben in den letzten Jahren 70 Millionen Euro in eine hochmoderne Fabrik in Lübeck investiert und haben innovative Arbeitsorganisationsmodelle vereinbart.
Das erlaubt es uns, relativ gut auf die veränderte Nachfrage zu reagieren. Wir werden unsere Produktion von Beatmungsgeräten in diesem Jahr mehr als verdoppeln", so Kamann. Gleichzeitig produziert Dräger auch im Ausland neue Technik mit Hochdruck. So laufe in Schweden und Südafrika die Produktion von Atemschutzmasken rund um die Uhr. Von den USA hat Dräger einen Regierungsauftrag zur Lieferung von Atemschutzmasken erhalten. Die vereinbarte Stückzahl liege im höheren zweistelligen Millionenbereich und die Auslieferung soll innerhalb der nächsten 18 Monate erfolgen. Speziell für diesen Großauftrag soll kurzfristig eine neue Produktionsstätte an der US-Ostküste errichtet werden, schon im September könne der Betrieb losgehen. "Das ist ein pragmatischer Ansatz, der frühzeitig und nachhaltig Hilfe schafft. So ein Modell wäre auch in anderen Ländern, besonders in Europa möglich. Entsprechende Angebote diskutieren wir gerade mit mehreren Ländern", sagt Rainer Klug, Vorstand des Unternehmensbereichs Sicherheitstechnik. 

Tests aus Lübeck

Nur ein paar wenige Kilometer südlich von Dräger wurde Ende März eine wichtige Erfolgsmeldung verkündet. Als einer der ersten europäischen Diagnostikahersteller hat die Euroimmun AG in Lübeck einen Corona- Antikörper-Nachweis mit CE-Kennzeichnung auf den Weg gebracht. Der serologische Test bestimmt neutralisierende Antikörper im Blut. Die Tests kommen zum Einsatz, wenn bereits eine Immunreaktion auf den Erreger erfolgt ist. Auch können Wissenschaftler mithilfe der Tests feststellen, wie schnell Antikörper gegen das Virus gebildet werden. "Die Tests eignen sich für ein großflächig angelegtes Screening, um Personen zu identifizieren, die eventuell sogar unbemerkt bereits mit dem Virus Kontakt hatten, eine Immunantwort und damit jetzt wahrscheinlich auch eine Immunität entwickelt haben", sagt Katja Steinhagen, Leiterin des Euroimmun-Geschäftsbereichs Immunbiochemie Infektionsserologie.
Daneben hat Euroimmun einen Test zum direkten Virusnachweis entwickelt. Auch dieser PCR-basierte Test EuroRealTime hat nach Angaben des Unternehmens die CE-Kennzeichnung erhalten. "Der Test wurde zum spezifischen Nachweis des neuen Coronavirus entwickelt. Da der Test gleichzeitig zwei verschiedene genetische Sequenzen des Virus detektiert, ist er sehr sensitiv", so Dr. Ulf Steller, Leiter des Geschäftsbereichs Molekulargenetische Diagnostik. Die weltweite Nachfrage nach den Tests sei sehr hoch. "Wir tun alles dafür, auf diesen Bedarf effektiv zu reagieren", so der Euroimmun-Vorstandsvorsitzende Dr. Wolfgang Schlumberger.

Zusätzliche Arbeitskräfte

Wie Dräger auf Beatmungsgeräte spezialisiert ist die Weinmann Emergency Medical Technology GmbH + Co. KG mit Sitz in Hamburg und einem Zentrum für Produktion, Logistik und Service in Henstedt- Ulzburg (Kreis Segeberg). "Aktuell erreichen uns Aufträge aus aller Welt aus den Bereichen Rettungsdienst, Kliniken und Katastrophenschutz", sagt Geschäftsführer André Schulte. Durch die Coronakrise sei der Auftragseingang im März stark angewachsen. Bereits seit mehreren Jahrzehnten entwickelt das Unternehmen medizintechnische Geräte wie Beatmungsgeräte, Defibrillatoren und Monitoring.
"Unsere Geräte haben die richtigen Funktionalitäten für die aktuelle Situation; sie sind leicht, handlich und für den transportablen Einsatz im präklinischen Umfeld konzipiert", so Schulte weiter. Neben der Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte fängt das Unternehmen den erhöhten Bedarf durch ein Zwei- Schicht-System auf, zudem werde im Werk seit Januar auch samstags gearbeitet. Da Außendienstmitarbeiter derzeit nur in begrenztem Umfang Kunden besuchen können, berate und schule Weinmann vorrangig online. Dabei setze man auch auf Erklärvideos: "Die Videos helfen dabei, die Nutzer zu unterstützen, die bisher noch nicht mit unseren Geräten gearbeitet haben", so Schulte.

Masken lokal produzieren

Normalerweise bearbeiten die Laser und Stanzen in den Produktionshallen der F&F Lasertechnik GmbH in Neustadt in Holstein industrielle Blechund Metallkomponenten. Seit April stellt das Technologieunternehmen Schutzmasken her. "Wir produzieren FFP2- und FFP3-Masken als vorgeformte Gesichtshalbmasken mit vergrößerter Oberfläche, sehr geringen Atemwiderständen und ohne Ausatemventil. Diese Technik wenden wir an, da heutige Ausatemventile nicht filtern und im Falle einer Erkrankung des Maskenträgers die Viren ungefiltert ausgeatmet werden", sagt Geschäftsführer Jens Sager. Zuvor musste sich das gesamte Team mehrere Wochen in das neue Fertigungsverfahren einarbeiten: "Wir stellen zudem die Tiefziehformen selbst her und widmen Teile unserer Produktionsmaschinen um", so Sager. Rund 100.000 Masken pro Monat fertigt die halbautomatische Anlage an, die automatische 250.000 Masken pro Linie.
“Aktuell erreichen uns Aufträge aus aller Welt.”
Die Masken sollen dann über den Großhandel und über Zentraleinkaufstellen der Krankenhäuser und Rettungsdienste vertrieben werden. Jetzt (Ende März) sei es erstmal wichtig, dass die zertifizierenden Stellen das Produkt zügig abnehmen, betont Sager, und ergänzt mit Blick auf die Zukunft: "Die Politik und Großabnehmer müssen jetzt gelernt haben, dass Basisausrüstung lokal produziert werden muss, damit im Krisenfall eine Produktion vorhanden ist. Darum haben wir uns einer Selbstverpflichtung unterworfen, künftig unsere Maskenproduktion einschichtig an fünf Tagen zu fahren, damit wir im Krisenfall den Output rund um die Uhr vervierfachen können."

Kostenfreie Tracking-App

Es begann nach einem Skiurlaub in Tirol. Dominik Burziwoda bekam am dritten Tag nach seiner Rückkehr aus dem Risikogebiet Halsschmerzen, später auch Fieber und Gliederschmerzen. Nach einem positiv durchgeführten Test auf SARS-CoV-2 befand sich der Geschäftsführer des Lübecker E-Health-Start-ups MillionFriends in Quarantäne – und führte das Symptom- und Fiebertagebuch mithilfe der MillionFriends-App, die eigentlich für ein Ernährungsprogramm ausgelegt war. Kurzerhand entwickelte er mit Kollegen eine kostenfreie Tracking-App für Corona- Symptome, dabei stand ihm auch die Universitätsklinik in Lübeck mit Know-how zur Seite.
“Wir sehen uns als Team von Ärzten und Technologieexperten in der Pflicht.”
Burziwoda: "In dieser Notsituation ist es für Behörden unmöglich, schnell neue Technologien zu entwickeln. Hier sehen wir uns als Team von Ärzten und Technologieexperten in der Pflicht und haben beschlossen, unseren Beitrag zu leisten." Die App diene der Erfassung von Symptomen, Temperatur und Eckdaten der Patienten. Mit einem Klick kann die Liste an Behörden oder Mediziner per E- Mail gesendet werden. Damit erspare man Behörden, Ärzten und Universitäten unnötigen Aufwand. Zudem könne leicht nachvollzogen werden, wann ein Patient wieder symptomfrei, also wahrscheinlich wieder gesund, sei.

Desinfektion statt Bier

Seit April fließen durch die großen Kessel der Grönwohlder Hausbrauerei im Kreis Stormarn Handdesinfektionsmittel statt Bier. Apotheker dürfen die Brauanlage von Torsten Schumacher zur Produktion nutzen, eine Ausnahmegenehmigung macht es möglich. Seine Brauanlage stand bis dahin still: "Unser Umsatz ist komplett eingebrochen, wir existieren vor allem durch Events rund um Bier wie Brauseminare – alles abgesagt", sagt Schumacher. Gemeinsam mit seinem Sohn kam ihm dann die Idee, etwas Gutes zu tun.
Viele Firmen hätten von dem Vorhaben gehört, spontan Hilfe angeboten und dadurch bei der Umrüstung geholfen. So stelle etwa die Hamburger Still GmbH einen Gabelstapler vorübergehend kostenlos zur Verfügung. Nach ein paar Tagen Wartezeit auf die behördliche Genehmigung konnte es losgehen. "Wir helfen mit unserer Manpower und stellen die Anlage, den Rest übernehmen die Apotheker", so Schumacher. Diese bringen dann die vier Grundzutaten, Behältnisse und auch Schutzkleidung mit, denn Ethanol ist ein Gefahrengut.
Benjamin Tietjen
Veröffentlicht am 14. Mai 2020