Gründungsviertel Lübeck

Stadtgeschichte fortschreiben

Die Hansestadt Lübeck baut ein komplettes Stadtviertel neu - mitten im Zentrum und auf den Grundrissen historischer Kaufmannshäuser. Auch sonst geht die Stadt mit dem Gründungsviertel neue Wege. Es ist das größte Architekturprojekt der Hansestadt seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
In einer Bombennacht 1942 wurde das älteste Stadtviertel der einstigen Königin der Hanse im westlichen Zentrum zerstört. Später standen auf dem Gelände zwei Schulen, dann untersuchten Archäologen seine bis ins zwölfte Jahrhundert zurückreichende Geschichte. Nun baut die Stadt das Viertel mitten im UNESCO-Welterbe Lübecker Altstadt wieder auf - auf den Grundrissen der früheren Siedlungen.
Das 10.000 Quadratmeter große Areal ist untergliedert in 38 Grundstücke. Seine Bebauung soll sich mit Original-Giebelformen und einer Erdgeschosshöhe von 4,50 Metern an den früheren Handelshäusern orientieren, ohne sie direkt zu kopieren. "Das wird eine Erinnerung sein an das, was da war", sagt Ingo Siegmund, der das Projekt für das Lübecker Architekturforum von Beginn an begleitet hat. "Architektur ist nie nur für einen selber. Die Stadt gehört ja auch den anderen, die die Architektur ansehen."
Siegmund betont die Rolle der Stadt für das Projekt, die bis zum Ende der Bauphase 2022 alle Fäden in der Hand behält. 2012 organisierte sie für das damals städtische Gelände eine zweitägige Gründungswerkstatt - und wählte dafür einen Ansatz, den sie den "Lübecker Weg" nannte: Stadtöffentlichkeit, Bürger, Fachleute und spätere Bewohner waren eingeladen, gemeinsam einen Plan zu erarbeiten.

Lebendiger Mix

Das Ergebnis der Werkstatt: Die historische Tiefe sollte sichtbar werden - aber anders als etwa beim Frankfurter Dom-Römer-Projekt nicht durch einfache Rekonstruktionen. "Wir bauen so, wie man früher gebaut hätte, nur modern", sagt Iris Dilba vom Projektteam Gründungsviertel. "Das ist etwas Einzigartiges, das es bisher nirgends gibt."
Besonders sei auch, dass die Hälfte der Grundstücke nicht, wie in Lübeck üblich, nach Höchstgebot verkauft wurde, sondern nach Konzept: Sie wurden an Bauprojekte und Familien mit Kindern vergeben. Entstanden ist ein lebendiger Mix aus Bewohnern in "Miet-, Eigentums- und geförderten Wohnungen", sagt Projektleiterin Annette Bartels-Fließ.
Seit diesem Sommer stehen die ersten Häuser, deren Bewohner beim Frühstück Tieflader und Kräne in der Baugrube beobachten können. Sie hatten Glück, denn wer jetzt baut, zahlt 5.000 Euro pro Quadratmeter - und damit deutlich mehr als sie. "Die Preise sind explodiert", berichtet Bartels-Fließ. "Dabei sind das Teure nicht die Grundstücks-, sondern die Baupreise."
Handwerker seien knapp, besonders Dachdecker. Dadurch habe sich auch der Zeitplan verzögert, eigentlich sollte alles schon 2020 fertig sein. Auch Frank und Sabrina Buchholz haben früh gebaut. Noch diesen Herbst werden sie einziehen. Wie wird es sein, auf Lübecks Großbaustelle zu wohnen? "Wir kommen wie ein Ufo in diese leere Fläche", sagt das Paar.
In einem Kunstprojekt möchten sie neue Bewohner und alte Nachbarn zusammenbringen und 2022 im Viertel eine Galerie eröffnen. Das passt: Gewerbeeinheiten sollen die neuen Häuser in den Erdgeschossen zur Straße hin öffnen - damit das Ufo kein Fremdkörper bleibt, sondern Stadtgeschichte in die Zukunft fortschreibt.
Friederike Grabitz
Veröffentlicht am 3. September 2019