Sachverständige

Detektivarbeit am Bau

Seit zwölf Jahren überprüft, begutachtet und beurteilt Rüdiger Kosemund als öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger Schäden an Gebäuden. Das klingt nach viel Routine – ist aber eine Tätigkeit, die enormes Fachwissen voraussetzt, detektivisches Gespür verlangt und so manche Überraschung bereithält.
Als die Wohnungsbaugesellschaft auch nach Wochen nicht den Grund für die feuchte Außenwand in der Mietwohnung finden kann, schaltet sie Rüdiger Kosemund ein. "Wir werden gerufen, wenn keiner mehr weiterkommt", sagt der 51-Jährige. Dämmungsfehler seien auszuschließen, auch Regen- oder Dachundichtigkeit wären überprüft worden, erfährt der Lübecker vor Ort. Dennoch soll es zumeist an regnerischen Sonntagen zur Durchfeuchtung kommen. Kosemund horcht auf. Er lässt sich die darüber liegende Wohnung zeigen und spricht mit deren Mieter. Der verrät ihm, dass er oft sonntags ein Vollbad nimmt, gerade auch bei Regenwetter. Des Rätsels Lösung: ein undichter Abfluss beim Nachbarn.
Kosemund blickt auf 35 Jahre Erfahrung am Bau zurück: angefangen beim Hochbaufacharbeiter über das Ingenieursstudium bis zum Geschäftsführenden Gesellschafter der Bauunternehmung Johann Karstens GmbH & Co. KG. Er muss nicht selten detektivisches Gespür beweisen, um die Ursache für einen Bauschaden zu ermitteln. In 50 Prozent aller Fälle ist er im Auftrag eines Gerichts unterwegs. Hat ihn ein Gericht als Sachverständigen bestellt, um eine objektive Meinung einzuholen, muss er Akten durchforsten, vor Ort recherchieren, Gutachten verfassen. Bei der Ursachenforschung am "Tatort" unterstützt ihn modernes Gerät wie eine Infrarotkamera oder Feuchtigkeitsmessgeräte. "Als Sachverständiger habe ich großen Einfluss auf ein Gerichtsurteil und damit auch eine große Verantwortung", betont Kosemund. "Gefälligkeitsgutachten" werde es von ihm nie geben, Unabhängigkeit und Neutralität stehen über allem. "Die Menschen vertrauen mir. Setze ich das aufs Spiel, würde ich mir und meinem Geschäft schaden."
Besondere Sachkunde
Wer diese Verantwortung übernimmt, muss sich eine Menge Fachwissen angeeignet haben. "Als IHK-Sachverständiger für Schäden an Gebäuden muss ich besondere Sachkunde vorweisen", sagt Kosemund. Mit tausenden DIN-Normen und einer endlosen Reihe an Fachliteratur gilt sein Sachgebiet als größtes im Sachverständigenwesen. Kontinuierliche Fortbildungen sind also Pflicht. Darüber hinaus sichtet er die neueste Fachliteratur und tauscht sich mit Kollegen aus.
Allerdings gibt es ab und zu Fälle, die auch er nicht ohne fremde Hilfe lösen kann. So wie bei einer Lübecker Altbauwohnung, deren Außenwand permanent feucht war. Kosemund schickte eine Steinprobe ins chemische Labor. Als der Rückruf kam, staunte selbst er. Die in der Mauer verarbeiteten Steine aus dem 16. Jahrhundert waren voll mit sogenannten Urinsalzen, die die Feuchtigkeit aus der Luft ziehen. Woher die Urinsalze kamen? Ganz einfach: Die Steine dienten vor ihrer Verwendung im Mauerwerk als Bodenbelag eines Kuhstalls.
Oliver Grün
Veröffentlicht im September 2012