Das 100-Prozent-Szenario

48,3 Prozent des in Deutschland voriges Jahr verbrauchten Stroms stammten aus erneuerbaren Energien. 2021 waren es nach Daten der Bundesnetzagentur noch 42,7 Prozent. Der Anteil steigt, die Verbrauchsmenge sinkt. Doch je mehr E-Autos fahren und Wärmepumpen verbaut werden, desto mehr Strom wird benötigt werden.
Ist trotzdem eine 100-prozentige Versorgung aus nachwachsenden oder ohnehin vorhandenen Quellen möglich? Eindeutig ja, sagt Carsten Bovenschen, Vorstandschef beim Wörrstädter Energieentwickler Juwi.
„Aber wir müssen viel Fahrt aufnehmen.“ Es brauche mehr Flächen, geringere Abstandsregeln, schnellere Genehmigungen.
„Das Potenzial von Sonne und Wind ist unerschöpflich“, betont Bovenschen. Von 484,2 verbrauchten Terrawattstunden stammten voriges Jahr 23,6 Prozent aus Windkraft und 11,4 Prozent aus PV-Anlagen. Grüner Wasserstoff und Wasserkraft spielen eine stark untergeordnete Rolle
Sonne und Wind – „Wir müssen Vorreiter sein“
Und doch sollen all diese Energiequellen im Wesentlichen zukünftig genügen, um den gesamten deutschen Strombedarf zu decken. Das umstrittene Fracking wäre nach Bovenschens Meinung gar nicht notwendig, genauso wenig wie Strom-Importe aus nicht-regenerativen Quellen. Dafür allerdings müsse die Infrastruktur gründlich verbessert werden. Speicher, Kraftwerke und Netze gelte es für eine verlässliche Versorgung zu ertüchtigen, das Drei- bis Vierfache an Windrädern und Solarzellen werde, gemessen am Status Quo, wohl benötigt.
Was das alles kostet? Das lasse sich kaum beziffern. Doch auf Sicht, sagt Bovenschen, werde es sich rechnen, wenn man in Generationen denkt. Und: „Natürlich wird Deutschland nicht allein die Welt retten. Aber wir müssen als Hochtechnologieland Vorreiter sein.“ Es gelte, die technischen Lösungen, das Know-how zu entwickeln, die nicht nur die Energieneutralität im Inland ermöglichen, sondern auch zum Exportschlager werden. Hemmende Faktoren, neben politischen Themen, seien die Verfügbarkeiten von Rohstoffen, Bauteilen und Fachkräften sowie eine Infrastruktur, die Transporte erschwert.
Und doch: „Ich bin fest davon überzeugt, dass wir bis 2030 einen 80-Prozent-Anteil für Erneuerbare erreichen können“, sagt Bovenschen, „wenn wir die Voraussetzungen schnell schaffen. Rechnerisch ist es machbar.“ Widerstände gibt es, in Politik und Bevölkerung. Gemeinden könne man durch die Beteiligung an den Einnahmen zur Ausweisung von Windkraft- oder Solarflächen bewegen. Ein Mix aus dezentralen Netzen und verbessertem Leitungssystem könne die Effizienz und damit die Akzeptanz steigern. „Und wir müssen Förderungen gezielt, smart und clever einsetzen“, sagt Bovenschen.
Ohne Subventionen werde es nicht gehen. Steuererleichterungen seien eine Variante. „Die Einspeisevergütung ist ein Auslaufmodell“, ist sich der Juwi-Chef sicher. Auf Sicht gelte: „Der erneuerbare Strom muss wirtschaftlich sein, und das kann er auch sein, wenn wir ausreichend Erzeugungskapazität haben.“
Wasserstoff – „Es ist ein Anfang“
Bei den Mainzer Stadtwerken ist Wasserstoff die kleinste Energie-Sparte. Doch mittelfristig, sagt der stellvertretende Vorsitzende Dr. Tobias Brosze, könnten 10, viel- leicht auch 40 Prozent des deutschen Ge- samtenergiebedarfs auf Wasserstoff basieren. Los gehen dürfte es in der Industrie. „Momentan geht es noch um Individuallösungen“, sagt Brosze, „und diese Projekte dauern naturgemäß relativ lang.“
Das mittelfristige Szenario sieht ein internationales Netz an Pipelines vor. Brosze denkt an zwei oder drei Jahrzehnte, bis Mainz und Rheinhessen in der Fläche mit Wasserstoff versorgt sind. „Bis dahin muss er regional erzeugt werden,  und  das ist teuer.“ Erhebliche Wirkungsgradverluste, fehlende  logistische Ketten und noch ausstehende technologische Entwicklungen sind die Kernprobleme.
Die Stadtwerke stellen im Energiepark in Mainz selbst Wasserstoff her. Voriges Jahr reichte die Menge, um etwa 30 Busse ein Jahr lang zu betreiben. Es geht um nicht einmal ein Hundertstel der Kapazitäten des regionalen Gasnetzes. „Es ist ein Anfang“, sagt Brosze. „Wir beliefern neben der allgemeinen Vermarktung auch regionale Verkehrsanbieter sowie die regionale Industrie, damit sie anfangen kann, Prozesse zu testen.“
Wasserstoffbetriebene Mobilität hat gegenüber der Batterietechnik den Vorzug einer – theoretisch – deutlich größeren Reichweite. Zurzeit fehle es allerdings an der (bezahlbaren) Verfügbarkeit. „Batterie- elektrische Lösungen sind aktuell effizienter und Technologien wie die Brennstoffzelle noch nicht so weit verbreitet“, sagt Brosze. In Mainz sollen auf Sicht 25 bis 30 Prozent der rund 150 Fahrzeuge umfassenden Busflotte mit Wasserstoff betrieben werden – und der Rest elektrisch. Ein emissionsfreier ÖPNV bis zum Jahr 2035 ist das Ziel.
Die Preisfrage ist entscheidend
„Wir werden eine geeignete Förderung brauchen“, sagt Brosze. Aktuell gebe es rund 30 E-Busse und ein halbes Dutzend mit Wasserstoff betriebene. Der Hype habe sich abgeschwächt. In der Industrie könne man Wasserstoff am effektivsten einsetzen: „Da, wo Wasserstoff als Molekül benötigt wird, Stahl, Chemie, Zement, Glas, in diesen Prozessindustrien werden wir wohl eine gezielte Förderung des Wasser- stoff-Einsatzes sehen. Aber es dauert lange, industrielle Prozesse umzustellen.“
Aktuell gehe es um Erwartungsmanagement. Die Preisfrage sei eine entscheidende. „Ein Brennstoffzellen-Bus ist deutlich teurer als ein Batterie-Bus, und beide sind deutlich teurer als Diesel-Busse“, sagt Brosze, „Wasserstoff ist viel teurer als Erdgas. Und es wird auch teurer bleiben, aber auch alle an- deren Energien werden teurer werden.“ Erst Wasserstoffnetze in der Fläche dürften den Durchbruch bis hinein in die heimischen Heizsysteme bringen, insbesondere dort, wo die Wärmepumpe nicht genügt.
„Wir sehen an vielen Stellen eine Dynamik, die es noch nicht gab“, sagt Brosze, „aber wir denken noch in dem System, wo grüner Strom Mangelware ist. Ich hoffe, in den 2030er-Jahren haben wir eine größtenteils grüne Stromversorgung erreicht. Dann gäbe es auch signifikante Mengen Über-Strom. Da wäre Wasserstoff eine sinnvolle Speicher-Option, und die Preise würden signifikant sinken. Das wird ein großer Baustein sein.“
(MRN), unter deren Dach die der IHKs Rhein-Neckar, Pfalz, Darmstadt Rhein Main Neckar und Rheinhessen kooperieren. Bei einem Pressegespräch im Juni betonte der Vizepräsident der IHK für Rheinhessen und Vorstandsvorsitzende des Folienherstellers Renolit SE, Michael Kundel, dabei die Be- deutung von Flächen und Bürokratieabbau. Mit Blick auf Energie führte er Mehrkosten in Höhe von 62 Millionen Euro innerhalb derletzten Dekade an, allein für Abgaben auf Strom, etwa in Form von EEG-Umlage und Netzentgelten. Er forderte einen europäisch einheitlichen Strommarkt mit einer marktgerechten Steuerungsgröße, die sich am C02-Ausstoß orientiert.
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