Indien: Zwischen Boom, Bürokratie und geopolitischem Balanceakt
Indiens Bedeutung als Partner wächst angesichts der aktuellen geopolitischen Lage. Viele deutsche Unternehmen prüfen Indien zunehmend als strategische Ergänzung oder Alternative zu bestehenden Engagements in Asien – insbesondere im Hinblick auf Abhängigkeiten vom chinesischen und US-Markt.
Indien auf der Überholspur
Rund 2.000 deutsche Unternehmen sind bereits in Indien aktiv, etwa 800 davon mit eigener Produktion. Viele dieser Investitionen stammen aus den 2000er und frühen 2010er Jahren. Heute erlebt Indien eine neue Investitionswelle. Das bestätigt auch Stefan Halusa, Hauptgeschäftsführer der Deutsch-Indischen Handelskammer in Mumbai. „Aktuell sehen wir viele deutsche Unternehmen, die ihr Indien-Geschäft ausbauen wollen, sei es durch den Aufbau eines Vertriebsnetzes oder auch durch die Gründung eigener Vertriebstöchter vor Ort.“ Indiens Bedeutung als Entwicklungsstandort wächst ebenfalls. Immer mehr Firmen errichten Global Capability Center und nutzen die große Zahl an Fachkräften. „Es geht längst nicht mehr nur um Softwareentwicklung. Auch Produkt- und Prozessentwicklung für die globale Organisation sind wichtig. Indien hat viele KI-Spezialisten, mehr als Deutschland, und eine große Offenheit für künstliche Intelligenz. Unternehmer fragen sich, wie sie den indischen Standort für ihre globale Organisation nutzen können.“
Heute stehen wirtschaftliche und politische Partner einem selbstbewussten Land gegenüber. Indien verfolgt eine neutrale geopolitische Position und eine eigenständige Außenwirtschaftspolitik, ohne sich an einzelne Länder oder Blöcke zu binden. Bis 2047, zum 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, plant Indien, ein Industrieland zu werden. Schon heute ist Indien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt, wird bis 2030 Japan und Deutschland überholt haben und auf Platz drei vorgerückt sein. Auch der Anteil Indiens am Welthandel wird bis 2030 laut einer Studie von DHL von aktuell rund 3 auf 6 Prozent steigen. Gemeinsam mit Vietnam, Indonesien und den Philippinen wird Indien als eine der dynamischsten Wachstumsmotoren des Welthandels der Zukunft genannt.
Indien investiert massiv in seine Infrastruktur – jährlich fließen 120 Milliarden US-Dollar in Straßen, Eisenbahnen, Flughäfen und Logistikzentren, besonders im Landesinneren, um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und die Integration in globale Wertschöpfungsketten zu verbessern. Allein im Bahnsektor werden 12 Kilometer Schienennetz pro Tag und ein bis zwei Metrolinien pro Jahr gebaut. Der Bedarf an spezialisierten Technologien bleibt hoch. Exportorientierte indische Unternehmen setzen auf deutsche Qualitätsprodukte, besonders in Maschinenbau, Energieeffizienz, Umwelttechnik und Industrie-4.0-Anwendungen. Auch der Klimawandel und seine teils verheerenden Auswirkungen rücken stärker ins Bewusstsein der indischen Bevölkerung und Wirtschaft: Die Nachfrage nach ressourcenschonenden, klimaresilienten Technologien wächst – ein Bereich, in dem deutsche Unternehmen punkten können. So auch Engelmann Sensor GmbH aus Wiesloch-Baiertal, ein mittelständischer Hersteller von Wärme- und Kältezählern. „Wer früh da ist, profitiert doppelt – durch Know-how-Vorsprung und Marktpräsenz“, weiß Benedikt Heid, CSO bei Engelmann Sensor. „Indien entwickelt sich stark in diesem Bereich und wir wollen langfristig am Markt etabliert sein.“ berichtet er über die Pläne seines Unternehmens auf dem Subkontinent.
Hürde: Lokale Anforderungen
Indien will sich zum weltweiten Produktionshub entwickeln und setzt auf eine stärkere lokale Wertschöpfung. Vor allem bei öffentlichen Ausschreibungen gelten Local-Content-Vorgaben, die häufig eine inländische Produktionsquote von mindestens 50 Prozent voraussetzen. Staatliche Unternehmen sind in der indischen Wirtschaft stark vertreten (Verteidigung, Atomkraft, Energie, Eisenbahnverkehr, Öl und Gas sowie Kohle) und tragen nicht unerheblich zum Bruttoinlandsproduktbei. Geschäftsbeziehungen mit ihnen sind für deutsche Unternehmen daher eine besondere Herausforderung. Auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse, wie Zertifizierungsvorschriften sollen die Produktion vor Ort fördern. Indien weitet den Katalog an BIS-zertifzierungspflichtigen Produkten immer weiter aus. So sind ab 28. August 2025 verschiedene Maschinen und Anlagen aus dem HS-Code-Bereich 84 und 85 betroffen.
Die globalen Krisen und Konflikte haben immense Auswirkungen auf das internationale Geschäft deutscher Unternehmen. So auch der historisch gewachsene Konflikt zwischen Indien und China Vielfach werden chinesischen Mitarbeitern deutscher Unternehmen von indischer Seite keine Visa ausgestellt, die beruflich nach Indien reisen wollen. Auch gibt es immer wieder Lieferungen, die vom chinesischen Zoll an der Einfuhr nach Indien gehindert werden. Mitarbeiter der indischen Zertifizierungsbehörde Bureau of Indian Standards reisen nicht nach China, um dort die notwendige Auditierung der Produktionsstätte durchzuführen. Dadurch wird die Einfuhr von Produkten und Komponenten auch von deutschen Unternehmen aus China behindert.
Hoffnung: Freihandelsabkommen
Angesichts des weltweiten Handelskonflikts mit den USA sind die EU und Indien auf enge Partnerschaften angewiesen. Das seit Jahren verhandelte Freihandelsabkommen (FTA) zwischen der EU und Indien rückt in den Fokus. Die EU ist nach Kommissionsangaben bereits jetzt Indiens größter Handelspartner. 2023 betrug das Handelsvolumen 124 Milliarden Euro. Eine Studie des Europäischen Parlaments von 2020 prognostiziert, dass die EU-Exporte nach Indien nach Abschluss eines Freihandelsabkommens um mehr als 50 Prozent steigen könnten, Indiens Lieferungen nach Europa würden um rund ein Drittel zulegen. Im März 2025 reiste die EU-Kommissionspräsidentin mit mehreren Kommissaren zu Gesprächen nach Neu-Delhi – ein Zeichen für die politische Priorität des Vorhabens. Beide Partner bemühen sich, das Abkommen bis Ende des Jahres abzuschließen. Im Mittelpunkt stehen der Abbau von Zöllen, Investitionsschutz und ein verbesserter Marktzugang für Dienstleistungen. „Der Abschluss eines FTA wäre sehr zu begrüßen für deutsche Unternehmen,“ sagt Stefan Halusa. „Für sensible Bereiche wie Landwirtschaft und Automobil sollten sektorale Ausnahmen oder längere Übergangsregelungen in Erwägung gezogen werden, um insgesamt eine Erleichterung für beide Parteien zu erreichen.“
Fazit: Indien auf einen Blick – was Unternehmen beachten sollten
- Standort mit Perspektive: Großer Binnenmarkt, Bedarf an Hightech-Lösungen, zunehmende Bedeutung im Welthandel.
- Hohe Anforderungen: Zertifizierungen, Local-Content-Vorgaben und interkulturelle Unterschiede erfordern Vorbereitung.
- Langfristiges Engagement notwendig: Persönliche Präsenz, stabile Strukturen und Mitarbeiterbindung sind Schlüsselfaktoren.
- FTA Indien–EU: In Verhandlung – bei erfolgreichem Abschluss könnten Zölle, Bürokratie und Marktzugang deutlich erleichtert werden.
- China+1-Strategie: Indien eignet sich zunehmend als ergänzender Standort in Asien.
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