Chinas Null-Covid-Politik

China verfolgt weiterhin eine strikte Null-Covid-Politik. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Schäden und ein Vertrauensverlust werden in Kauf genommen. Die Unsicherheit und Unplanbarkeit erwirkt eine Zäsur und zahlreiche Unternehmen überdenken ihre China-Strategie.

Massenlockdown statt Freedom Day

Während viele Länder ihre Corona-Beschränkungen zurückfahren und zu einer gewissen Normalität zurückkehren, hält China an seiner strikten Null-Covid-Politik fest. In über 100 chinesischen Städten gelten zeitweise Ausgangsbeschränkungen oder sie stehen unter vollständigem Lockdown. Dadurch sind 35 bis 40 Prozent des gesamten Bruttoinlandproduktes beeinträchtigt. Landesweit sind über 350 Millionen Menschen von Lockdown-Maßnahmen betroffen. So auch die 25 Millionen Einwohner von Shanghai, die außer zu den obligatorischen Massentests, ihre Wohnung nicht verlassen dürfen. Ende März ist das Leben in Shanghai gänzlich zum Erliegen gekommen. Von 3,2 Millionen registrierten Unternehmen konnten Ende April nur 0,03 Prozent physisch agieren. Dabei lag die höchste 7-Tages-Inzidenz bei 92,1, am 30. Mai betrug sie 1,4. Entsprechend soll sich die Stadt im Juni schrittweise wieder öffnen dürfen. Peking und Tianjin hingegen bereiten sich auf einen möglichen Lockdown vor. Die strikte Handhabung in Shanghai führt auch dazu, dass andernorts weiterhin konsequent die Covid-Maßnahmen umgesetzt werden. Selbst bei kleinsten Ausbrüchen setzen lokale Regierungen auf Massentests und Abriegelungen. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Schäden werden in Kauf genommen.

Alternde Gesellschaft mit geringer Impfbereitschaft

Das Festhalten an der Null-Covid-Politik wird strukturell begründet. Eine Durchseuchung würde das Gesundheitssystem überlasten. Während in Deutschland auf 100.000 Einwohner 33,9 Intensivbetten kommen, sind es in China nur 3,43. Zudem gibt es kein Hausarztsystem mit niedergelassenen Ärzten wie in Deutschland.
Weniger problematisch sind die chinesischen Impfstoffe. Anders als in den westlichen Medien dargestellt, zeigen diese eine gute Wirksamkeit – allerdings erst nach der dritten Impfung. Nach dem “Boostern” bieten sie einen 85-prozentigen Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf. Das eigentliche Problem ist die geringe Impfquote in der Risikogruppe der über 60-Jährigen. Die chinesische Regierung scheut jedoch davor zurück eine Impfpflicht einzuführen. Grundsätzlich steht die ältere Generation konventioneller Medizin und besonders der Impfung skeptisch gegenüber. Da die Eltern in China aber großen Einfluss auf ihre Kinder und Enkel haben, fürchtet die Parteiführung, dass eine Impfpflicht zu Unruhe in der Bevölkerung führen und so die Stabilität der Partei gefährden könnte. Entsprechend rigoros sind derzeit auch Chinas Zensoren unterwegs.

Politisierung der Pandemiebekämpfung

Die Pandemiebekämpfung ist zu einem Wettbewerb der Systeme und einer Machtprobe für Xi Jinping geworden. Ein Strategiewechsel wäre ein Gesichtsverlust. Seit zwei Jahren propagiert die Staatsführung die Gefahr der Pandemie und die Schwere der Erkrankung als auch die Überlegenheit Chinas gegenüber der Unfähigkeit des Westens und rechtfertigt damit die Notwendigkeit der Null-Covid-Toleranz. Diese Überlegenheit muss Xi Jinping nun aufrechterhalten, insbesondere da im November 2022 der 20. Parteitag der KP China stattfindet. Dann muss Xi seine Macht konsolidieren. Und offen ist auch, ob die Ernennung des neuen Premierministers Einfluss auf die weitere Covid-Strategie haben wird.

Leere Lager und volle Häfen

Shanghai fungiert als wichtigste Handels-, Logistik- und Finanzdrehscheibe des Landes, seit über acht Wochen ist die Metropole von der Außenwelt isoliert. Die Engpässe zeigen sich sowohl in den vor- als auch nachgelagerten Wertschöpfungsbereichen. Der Großteil der deutschen Unternehmen berichtet von vollständigen Unterbrechungen oder erheblichen Beeinträchtigungen, da Rohstoffe und Vorprodukte nicht oder kaum verfügbar sind. In den Fabriken, die im “Closed-Loop”, also mitsamt den Mitarbeitern versiegelt, weiter produzieren dürfen, leeren sich die Lager, doch Lieferungen können weder die Unternehmen erreichen, noch können fertige Waren abtransportiert werden. Lkw-Fahrer kommen nicht durch die zahlreichen Sperrungen, Provinzüberschreitungen haben Quarantäne zur Folge. Nach Schätzungen ist die Verfügbarkeit von Lastwagen in Shanghai um 40 Prozent zurückgegangen. Tendenz steigend. Die Störungen betreffen alle Transportwege, sei es zu Land, Wasser oder Luft. An den Airports heben nur vereinzelt Maschinen ab. Flug- und Containerhäfen bleiben zwar weiterhin offen, doch Flaschenhals ist nicht die ohnehin hochautomatisierte Containerverladung, sondern die Anlieferung und Abholung der Waren per Lkw.
Vor dem größten Containerhafen der Welt stauen sich hunderte Schiffe, die nicht gelöscht werden können. Auch auf umliegende Häfen werden Schiffe umgeleitet, wie beispielsweise nach Ningbo, südlich von Shanghai.
Im Schnitt verzögert sich die Einfahrt der Frachter in den Hafen von Shanghai um 3,34 Tage. Die Abfertigung dauert weitere zwei Wochen. Der Durchschlag wird sich erst in ein bis zwei Monaten zeigen und der Rückstau wird noch bis in den Spätsommer 2022 andauern. Tatsächlich müssen Fabriken und Frachtführer in allen Landesteilen bis mindestens zum Herbst 2022 immer wieder mit erheblichen Störungen rechnen. Ein Großteil der Schiffe, die derzeit in Europa ankommen, hat noch vor dem Lockdown den Containerhafen in Shanghai verlassen. Die Auswirkungen werden auch in Deutschland stark spürbar sein, sei es in der Industrie oder durch einen allgemeinen Preisanstieg. Viele Unternehmen haben Produktion und Einkauf für das Weihnachtsgeschäft bereits in andere Länder Südostasiens verlagert. Dies verstärkt den China+1 Trend. Einkaufsabteilungen versuchen, für jedes Vorprodukt zumindest einen alternativen Zulieferer in Asien oder durch Nearshoring in Mittel- und Osteuropa zu erschließen. Große Gewinner sind Vietnam und Indien. Doch die Produktionsverlagerung lässt sich nicht immer reibungslos umsetzen. Zum Beispiel wird vieles, was in China in automatisierter Produktion hergestellt wird, in Vietnam noch per Handarbeit gefertigt. Und nach wie vor ist man auf Vorprodukte oder Rohstoffe aus China angewiesen. Neben der Suche alternativer Produktionsstandorte und dem Aufbau weiterer Distributionszentren werden auch Managementpositionen in andere Länder Südostasiens verlagert. Hier positioniert sich besonders Singapur als neue Konnektivitätsplattform und Standort regionaler Headquarter.

Attraktivität Chinas sinkt massiv

Die ökonomischen Folgen sind gravierender als in der ersten Welle 2020. Laut einer Blitzumfrage der EU-Handelskammer in China von Anfang Mai erwägen 23 Prozent der europäischen Unternehmen, ihre laufenden oder geplanten Investitionen aus China zu verlagern. Das ist der höchste Anteil seit einem Jahrzehnt, zwei Monate zuvor lag die Zahl noch im einstelligen Bereich. Für 78 Prozent ist aufgrund der strengen und unberechenbaren Covid-Maßnahmen China als Investitionsziel weniger attraktiv. Methoden der lückenlosen Kontrolle, die implementiert wurden, werden sicherlich auch künftig im Einsatz bleiben. Grundsätzlich hat Chinas Image als zuverlässiger Handelspartner und Zulieferer nachhaltigen Schaden genommen. Auch geopolitische Risiken und die Haltung im Ukraine-Krieg belasten die Attraktivität des Landes.
Erschwerend kommt eine hohe angebotsgetriebene Inflation hinzu. Würde die Zentralbank jetzt die Geldmenge erhöhen, könnte das die Inflation anfeuern und bei gleichbleibendem Angebot gar unkontrollierbar werden. Deshalb ist die Regierung auch sehr zögerlich was breit angelegte Fördermittel für die Industrie angeht. Stattdessen werden nur zaghafte Programme für den Logistiksektor, Mikrounternehmen und die Medizinbranche initiiert. Sämtliche Konjunkturpakete der Regierung sind allerdings hinfällig, so lange nicht produziert werden kann.

Exodus der Expats

Seit den Reisebeschränkungen im März 2020 haben über 50 Prozent der Expats China verlassen. Ausländische Unternehmen reagieren mit einer weiteren Lokalisierung, Schlüsselpersonal wird von Chinesen nachbesetzt. Bis zum Sommer 2022 werden weitere 10 bis 25 Prozent der Ausländer China vorvertraglich verlassen, darunter viele Lehrer, Ärzte und weitere Ausländer, die nicht zu den Expats zählen. Das hat künftig Auswirkungen auf Entsendungen, wenn zum Beispiel Expats mit schulpflichtigen Kindern entsandt werden sollen.

Wie geht es weiter?

Während große Unternehmen die Situation unter Umständen aussitzen können, müssen Mittelständler stärker Alternativen in Betracht ziehen. Dennoch werden deutsche Unternehmen sich nicht ganz aus China zurückziehen. Der Markt und die Kaufkraft sind schlicht zu groß. Stattdessen wird es eine Welle der weiteren Lokalisierung geben, denn die Bedienung des chinesischen Marktes erfordert eine starke Präsenz vor Ort, “In China for China”.  Nichtsdestotrotz gilt: Überdenken Sie Ihre globale China-Strategie, sichern Sie Ihre Lieferketten auf einer breiten Basis, diversifizieren Sie wo nötig weiter, planen Sie Szenarien ein.
Drei mögliche Entwicklungen könnten sein:

Szenario 1

Ein Abweichen von der Null-Covid-Politik vor oder nach dem Parteitag scheint abwegig. Optimisten hoffen dennoch auf Lockerungen im Vorfeld, etwa durch Teillockdowns, Heimisolation für asymptomatisch Infizierte, Entlastungen für Unternehmen und Quarantäneerleichterungen für Reisende.

Szenario 2

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Null-Covid-Maßnahmen mindestens bis zum Parteitag unverändert streng fortgeführt werden. Das bedeutet: Regelmäßig werden ganze Städte oder Viertel unter Lockdown gestellt, Versorgungsengpässe bleiben bestehen, Lieferketten gestört, Vorprodukte fehlen oder lassen lange auf sich warten. Die gesamte Produktion ist verlangsamt. 2023 sind gegebenenfalls Lockerungen in Aussicht. Zahlreiche Großveranstaltungen für das kommende Jahr wurden jedoch bereits abgesagt.

Szenario 3

Düsterer aber ebenso realistisch ist: Eine Co-Existenz mit dem Virus wird es nicht geben. Über den Parteitag hinaus wird eine strikte Null-Covid-Politik verfolgt. Optimisten, die Hoffnungen auf ein Einlenken an Ereignisse wie die Olympischen Spiele, den Nationalen Volkskongress oder an die massiven wirtschaftlichen Folgen geknüpft hatten, wurden stets enttäuscht.
Ein Weiterführen der Null-Covid-Politik wird langfristige Auswirkungen auf Unternehmen haben, ein Umdenken in der firmeneigenen China-Strategie erzwingen und zu einer  Diversifizierung oder gar Abwanderung aus China führen. Sollte Homeoffice oder Closed-Loop-Produktion Modus Operandi bleiben, müssen auch Due Diligence und Compliance-Anforderungen sowie Datenschutzgesetze noch intensiver betrachtet werden. Die Tendenz zur Selbstisolierung Chinas verstärkt sich. Das Damoklesschwert der Unsicherheit und Unplanbarkeit erwirkt eine Zäsur im China-Geschäft.
Und so wird es zur Gretchenfrage, wie halten Sie es mit China?

Handlungsempfehlung

  • China-Strategie überdenken und Abhängigkeiten von China hinterfragen.
  • Gutes Risikomanagement und Risikoverteilung: (Zusätzliche) Distributionszentren in China und Asien aufbauen oder verlagern; einen Pool von Logistikprovidern einrichten.
  • Diversifizierung in China und weltweit zur Erhöhung der Widerstandsfähigkeit.
  • Compliance-Anforderungen wie das Lieferkettengesetz bei der Wahl alternativer Beschaffungsquellen und Produktionsstandorten unbedingt im Blick behalten. Welche länderspezifischen Risiken lauern?
  • Guanxi: Aufbau von Government Affairs Managern und Netzwerkpflege. Langjährige, gute Kontakte zu den Behörden sind elementar.
  • Anbindung der chinesischen Niederlassung ans deutsche Mutterhaus und Loyalität aufrechterhalten, Know-how vermitteln ohne eigene Technikereinsätze aus Deutschland.
  • Starke  Partner suchen: Die AHK Greater China unterstützt deutsche Unternehmen vor Ort mit individuellen Dienstleistungen und setzt sich für deren Belange gegenüber der Regierung ein.