Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

Ostdeutsche IHK-Präsidenten kritisieren Regierung

Potsdam, 29. Januar 2024 - „Immer mehr Menschen haben das Gefühl, das Politik hinter verschlossenen Türen stattfindet. Wir wünschen uns, dass die Wirtschaft mit ihrer Expertise wieder mehr einbezogen wird in politische Entscheidungen, dann tragen wir diese auch mit. Transparenz und die richtige Kommunikation sind dafür unerlässlich,“ sagt Ina Hänsel, Präsidentin der IHK Potsdam.
In einem offenen Brief an den Kanzler kritisieren die ostdeutschen Präsidentinnen und Präsidenten der Industrie- und Handelskammern die fehlende Einbindung und Berücksichtigung der Wirtschaft bei politischen Entscheidungen mit großer wirtschaftlicher Tragweite. Politische Entscheidungen müssten wieder vernünftig vorbereitet, abgewogen, sachgerecht erklärt und begründet werden.
Immer öfter leiden Unternehmen darunter, aber auch die Wettbewerbsfähigkeit und das Vertrauen in Politik sind stark geschwächt. Technologieverschlossenheit, steigende Bürokratie, Anreize der Ampel für Nicht-Arbeit und ein steter Widerspruch zwischen Worten und Taten bringen die Wirtschaft weiter in Schieflage.
Die Bundesregierung trage mit dem fehlerhaften Handeln weiter zu einer aufgeheizten Stimmung im Land bei. Insbesondere vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst 2024 herrscht große Beunruhigung mit Blick auf die Zukunft des Wirtschaftsstandortes, aber auch des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der demokratischen Kultur.

Offener Brief des Heringsdorfer Kreisesbrief:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
zu Beginn des Wahljahres 2024 sind wir in großer Beunruhigung mit Blick auf die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Kultur. Daran hat auch die Bundesregierung einen erheblichen Anteil. 
Die regionale Wirtschaft, für die wir als Präsidentin und Präsidenten der ostdeutschen Industrie- und Handelskammern Verantwortung tragen dürfen, steckt in einem sich zuspitzenden Dauerkrisenmodus.

Wir führen das vor allem darauf zurück, dass ein bewährtes wohlstandsflankierendes Prinzip der Bundesrepublik mehr und mehr verloren geht, nämlich die aktive Einbindung verschiedener Interessen in den politischen Prozess. Diese trägt maßgeblich zur Transparenz, zum Verständnis und damit letztlich zum Erfolg politischer Entscheidungen bei. Stattdessen machen sich eine Kultur des „Entscheidens ohne Einbindung“ und ein eklatanter Unterschied zwischen Worten und Taten der Bundesregierung breit. 

Der Haushaltseklat im Bund Ende vergangenen Jahres hat dies überdeutlich vor Augen geführt und erhebliche Eruptionen in Wirtschaft und Gesellschaft verursacht. Aus vielen Brandherden, die bereits vorher bestanden, kann durch den Umgang der Bundesregierung mit dem Karlsruher Urteil ein Flächenbrand werden. Die Landwirte und Teile des Mittelstands rebellieren gegen zunehmende, sehr kurzfristig beschlossene Belastungen, bei wichtigen Schlüsselvorhaben der Wirtschaft wird gekürzt und bei Kostenentwicklungen im Energie- und Baubereich ist keine Planungssicherheit gegeben, weder für Verbraucher noch für Unternehmen.
Hinzu kommt, dass die durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine verschärfte Unbeständigkeit in den Fragen von Versorgung und Kostenbewältigung für Energie bis heute nicht überwunden werden konnte. In einer Situation, in der wesentliche Engpässe und damit verbundene Planungsunsicherheiten zu bewältigen sind, verabschieden wir uns in Deutschland von grundlastfähigen Technologien und schaffen es nicht, die Voraussetzungen für einen schnellen und unkomplizierten Ausbau der erneuerbaren Energien im unternehmerischen Umfeld sicherzustellen.  

Das fehlende Bekenntnis der Bundesregierung zu Technologieoffenheit im Energiebereich hemmt Innovationen und Investitionen und damit die gesamte, für die Wirtschaft zwingend notwendige Transformation. Damit nehmen Sie mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in Kauf, anstatt endlich für marktgängige Praxis zu sorgen. Ein innovatives und aussichtsreiches Vorhaben petrothermaler Tiefengeothermie kann beispielsweise in Erfurt nicht umgesetzt werden, weil eine Förderung dieser Technologie ausgeschlossen wird. Das kostet Vertrauen und schafft neuen Unmut und Unsicherheiten.  

Weiterhin ist der Abbau bürokratischer Belastungen auf Seiten der Unternehmen eine beständige Forderung der Wirtschaft, auf die stets mit Verständnis und Aufgeschlossenheit, aber nie mit konkreten Umsetzungen und Initiativen reagiert wird. Anstatt Regulierungen herunterzuschrauben, erwarten wir in der nächsten Zeit massiv steigende regulatorische Anforderungen an Unternehmen, die immer mehr Kosten und Verdruss verursachen.  
Auch wiederholt angekündigte Entlastungen der Unternehmen bei Steuern, Abgaben und Arbeitskosten enden stets in einem überwiegend politisch motivierten Strudel von Steigerungen und regulatorischer Ausreizung.  

Demgegenüber bläht der Staat Sozialleistungen auf und setzt Anreize für Nicht-Arbeit, was von Unternehmerseite finanziert werden muss und damit einen Malus für notwendige Investitionen darstellt. Offenkundig geht die Maxime verloren, dass vor dem Verteilen das Erwirtschaften kommt. Damit geraten sämtliche Überzeugungen und Mechanismen, die Deutschland zu einem starken Wirtschaftsstandort gemacht haben, in Schieflage.

All dies führt dazu, dass die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands erodiert. Während führende Industrienationen enorme Investitionsaufwendungen, Anreizsysteme und Regulierungserleichterungen manifestieren, um Transformationsprozesse zu flankieren und die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, scheitert es hierzulande an fehlendem politischem Willen. 
Besonders ärgerlich für die Wirtschaft sind in diesem Zusammenhang zu kurze Zeitfenster für Beteiligungen und Stellungnahmen von Wirtschaftskammern, Verbänden und Interessengruppen, kaum nachvollziehbare oder gar fehlende Begründungen für politische Entscheidungen sowie unzureichende Wertschätzung gegenüber den Leistungsträgern unserer Gesellschaft. 
Das desolate Bild der Bundesregierung in der Öffentlichkeit und die aufgeheizte Stimmung im ganzen Land sind hausgemacht und, nicht zuletzt mit Blick auf die anstehenden Wahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, Wasser auf die Mühlen extremer Kräfte. Das bereitet uns große Sorgen.  
Wenn sich an Ihrem Handeln und Auftreten nichts grundlegend ändert, fürchten wir, dass ein ostdeutsches Bundesland nach dem nächsten zu einem Sehnsuchtsort für Rechtsextremisten und wirtschaftlich zum Transitland verkommt.  

Die internationale und innerdeutsche Attraktivität für qualifizierte Zuwanderung, Investitionen und Ansiedlungen wäre absehbar komplett zerstört. Unsere wohlstandsorientierte, auf Sicherheit und Freiheit basierende Demokratie dürfen wir nicht tatenlos aufgeben. Wir erwarten, dass Entscheidungen endlich wieder vernünftig vorbereitet, abgewogen und bei Verkündung auch sachgerecht erklärt und begründet werden. Dabei darf der unmittelbare Dialog zwischen Politik und Gesellschaft nicht gemieden, sondern muss proaktiv initiiert werden.  

Herr Bundeskanzler, das beste Mittel gegen Rechtspopulismus ist eine sachorientierte und abgestimmte politische Arbeit. Stehen Sie zu Ihrer Verantwortung!

Mit freundlichen Grüßen
Dieter Bauhaus Präsident
IHK Erfurt
Max Jankowsky Präsident
IHK Chemnitz
Jens Warnken Präsident 
IHK Cottbus
Dr. Andreas Sperl Präsident
IHK Dresden
Prof. Dr.-Ing. Steffen Keitel Präsident
IHK Halle-Dessau
Kristian Kirpal Präsident IHK zu Leipzig
Klaus Olbricht Präsident  
IHK Magdeburg
Dr. Wolfgang Blank Präsident
IHK Neubrandenburg für das östliche Mecklenburg- Vorpommern
Carsten Christ Präsident
IHK Ostbrandenburg
Dr. Ralf-Uwe Bauer Präsident
IHK Ostthüringen zu Gera
Ina Hänsel Präsidentin IHK Potsdam
Klaus-Jürgen Strupp Präsident
IHK zu Rostock
Matthias Belke Präsident
IHK zu Schwerin
Torsten Herrmann Präsident
IHK Südthüringen