Hidden Champion

Start-up-Kultur seit über 150 Jahren

Der Geschäftsführer der H.Gautzsch Zentrale Dienste GmbH, Peter Benthues, sagt: Wir haben uns selbst immer wieder neu erfunden“. Insbesondere in den vergangenen zehn Jahren ist das familiengeführte Großhandelsunternehmen systematisch mit den Veränderungen gewachsen. | Text: Dominik Dopheide
Pfeffersäcke, die am Kai hochgezogen und die Hallen einer hanseatischen Kaufmannsfamilie gebracht werden: Ein bisschen sei dieses alte Bild des Großhandels immer noch in den Köpfen, sagt Peter Benthues. Besuchern, auch angehenden Auszubildenden, führt er dann gern vor Augen, wie die Intralogistik bei H.Gautzsch heute läuft: mit hohem Technologieeinsatz, mit modernsten Distributionssystemen. In einer Halle am Stammsitz der Firmen-Gruppe in Münster in der Loddenheide gibt eine Glasfront den Blick auf eine Flotte von 36 rollenden Robotern frei, die Kisten transportieren – sogenannte Bins. In einem scheinbar chaotischen Stop-an-Go flitzen sie über die Fläche und beladen sich selbst. Eine Software führt Regie, damit die jedes Gefährt auf der effektivsten Route die geforderte Ware zum passenden Zeitpunkt an den richtigen Ort bringt.
Ob Heinrich Gautzsch, der 1857 die Firma in Münster als Papier- und Eisenwarengeschäft gegründet hat, sich ein solche vollautomatische Kommissionierung hätte vorstellen können? Die drei Leitmotive der langen Erfolgsgeschichte des Unternehmens jedenfalls sind bereits unter seiner Führung sichtbar: Zukunftsgewandtheit, Diversifikation und Expansion. Nur wenige Jahre nach der Erfindung der Glühlampe nämlich hat er seine Handelsfirma mit einer Lampenfabrik ergänzt.

Alles Gute für Geschäftsideen

In den Nachkriegsjahren, insbesondere mit dem Eintritt der fünften Unternehmergeneration in Person von Mathias Naumann in den 80ern, hat das Unternehmen den Willen und die Fähigkeit zu Veränderung und Expansion systematisch ausgebaut. Als Elektrogroßhändler über den Vertrieb von Haushaltsgeräten hinauszudenken und Gartenmöbel sowie Gartengeräte ins Portfolio aufzunehmen, sei damals ein ebenso überraschender wie folgerichtiger Schritt gewesen, erzählt Benthues. „Bei H.Gautzsch gab und gibt es immer wieder einzelne Teams, die mit frischen Ansätzen etwas Neues aus dem Geschäft machen“, weiß der Manager. Damit sich diese Innovationskraft voll entfalten kann, hat die Geschäftsleitung im Laufe der Jahre die Hierarchien immer mehr abgeflacht und die Entscheidungsspielräume stetig erhöht – ein Prozess, der fortgeführt wird. Dieses Konzept hat der Firmen-Gruppe eine Reihe von erfolgreichen Gründungen und neuen Geschäftsfeldern eingebracht. So ist beispielsweise ein Team in den Schaltanlagenbau eingestiegen – mit gutem Gespür für Kundenwunsch, Marktentwicklung und technischen Fortschritt und mit einem eigenen Unternehmen namens Assistec. Auch in der Transportlogistik fährt die Firmen-Gruppe Erfolge ein. Sie betreibt zudem eine Agentur, die Handwerks-, Industrie- und Handelsunternehmen der Elektronikbranche im E-Business unterstützt.
Auch das ursprüngliche Kerngeschäft ist im Wandel: Als Großhändler im Elektrobereich hat H.Gautzsch die Technologiesprünge der vergangenen Jahre begleitet, Trends aufgenommen und weiterverbreitet. „Wir sind beispielsweise einer der Träger der Energiewende, weil wir mit Photovoltaik signifikante Geschäfte machen“, erklärt Benthues. Im zweiten Geschäftsbereich, Haus und Garten, nimmt die Wertschöpfung immer mehr zu. „Hier sind wir der Rolle des Großhändlers weit entwachsen, denn wir nehmen bei der Entwicklung unserer eigenen Marke Siena Garden Einfluss auf Designs und Qualitätssicherung“, erläutert der Geschäftsführer.

Peter Benthues will den Bekanntheitsgrad der H.Gautzsch-Firmengruppe in der breiten Öffentlichkeit weiter steigern.
Peter Benthues will den Bekanntheitsgrad der H.Gautzsch-Firmengruppe in der breiten Öffentlichkeit weiter steigern. © Gerharz/IHK

Unternehmergeist entfesselt

Die H.Gautzsch-Gruppe ist inzwischen auf rund 80 Unternehmen angewachsen und hält ca. 70 Standorte. Dabei wird es nicht bleiben, lässt Benthues durchblicken. „Die Gründungsdynamik ist bei uns sehr hoch, allein in der vergangenen Woche sind drei Gesellschaften dazugekommen“, berichtet er und weiht uns in das vielleicht entscheidende Erfolgsgeheimnis ein, das hinter der Turbo-Entwicklung steckt. „Wir haben vor etwa zehn Jahren ein Strategieprogramm initiiert, das auf starker Dezentralität sowie unternehmerischer Selbstverantwortung vor Ort basiert und quasi das Vermächtnis von Mathias Nauman ist“, erklärt der Geschäftsführer, um dann einen zentralen Punkt des Konzeptes herauszuheben: die Ausgründung der vormaligen Filialen zu eigenständigen Unternehmen. Der Posten „Filialleitung“ hat bei H.Gautzsch also ausgedient, es gibt nur noch geschäftsführende Gesellschafter, die ihre lokale Vertriebsfirma leiten. „Sie sind ihres wirtschaftlichen Glückes Schmied, und genau das hat einen Motivationsschub ausgelöst“, ist sich Benthaus sicher. Ohnehin sei es keine gute Lösung, wenn das Management in Münster die Geschicke von entfernten Niederlassungen, etwa in Passau oder Traunstein, lenke. Lieber sollen Entscheider vor Ort, die den regionalen Markt gut kennen, ihren Heimvorteil und ihre unternehmerische Freiheit zugunsten der ganzen Firmengruppe nutzen. Die Zentrale Dienste GmbH im Münster wiederum biete den Gesellschaften ein starkes Fundament an Dienstleistungsangeboten, wie beispielsweise die Buchhaltung und die Zentrallogistik – beides auf hohe Skalierung ausgelegt.
Hidden Champions
690 Unternehmen in NRW gehören laut einer Studie (pdf) des Forschungszentrums Mittelstand der Universität Trier zu den „Hidden Champions“, 73 davon haben ihren Sitz in Nord-Westfalen. Hidden Champions gehören zu den Top-3-Unternehmen auf dem Weltmarkt oder sind Marktführer auf dem Kontinent, erwirtschaften einen Umsatz von weniger als fünf Milliarden Euro und verfügen nur über einen geringen Bekanntheitsgrad. 
Weitere Hidden Champions in Nord-Westfalen, die schon im IHK-Wirtschaftsspiegel porträtiert wurden, sind L.B. Bohle in Ennigerloh, die Optitime GmbH & Co. KG in Rheine, metrica in Senden und TRAPO in Gescher. 

Öffentlichkeitsarbeit angeschoben

Ob der Fachkräftemangel den H.Gautzsch-Expansionsexpress noch ausbremsen kann? „Er ist bei uns in allen Bereichen zu spüren“, räumt Benthues ein. Doch auch in diesem Wettbewerb sei die Wandlungsfähigkeit ein Vorteil. So könne die Unternehmens-Gruppe viele alternative Ausbildungsangebote machen. Zudem sorgt der vormals sehr stille Champion H.Gautzsch inzwischen dafür, dass er als potenzieller Arbeitgeber noch mehr wahrgenommen wird in der breiten Öffentlichkeit. Seit drei Jahren ist eine Abteilung mit der operativen Umsetzung der internen und externen Unternehmenskommunikation betraut. Für die Firmen-Gruppe ein innovativer Schritt: Noch nie zuvor hatte sie eine entsprechende Stelle ausgeschrieben.
Vielleicht ist es der neuen Kommunikationsphilosophie des Unternehmens zu verdanken, dass Peter Benthues etwas über seinen Werdegang verrät. Aufgewachsen ist er in Halle an der Saale. Nach dem Mauerfall hat H.Gautzsch im Osten Deutschlands schnell Fuß gefasst und unter der Leitung von Benthues Vater Wilm immer mehr Niederlassungen eröffnet. Nicht etwa auf dem Bolzplatz, sondern in den Lagerhallen des Unternehmens hat Peter Benthues in seiner Kindheit manche Stunde verbracht. „Ich mag einfach die Atmosphäre“, begründet er. So wundert es nicht, dass er zunächst mit einem Schülerjob bei H.Gautzsch anheuert, und später als Werkstudent wieder an Bord geht. Er war einer der ersten Mitarbeiter der Internetagentur und ist heute im Kreis der Geschäftsführer für die Bereiche E-Business und Nachhaltigkeit verantwortlich. Mit Robert und Philipp Naumann ist die sechste Generation der Innerhaberfamilie in der Unternehmensspitze vertreten, Frank Kamischke komplettiert das Team. H.Gautzsch ist also nach wie vor ein Familienunternehmen, und genau an diesem Punkt sei keine Veränderung geplant, versichert Benthues. Die Einbindung des Unternehmens in einen Konzern ist für ihn undenkbar. Schließlich habe H.Gautzsch gezeigt, wie sich Mittelstand an Märkten behaupten kann, die stark besetzt sind mit großen Playern: Es gelte, mit Respekt vor anderen Geschäftsmodellen, einen eigenen Weg zu finden. „Wir wollen nicht immer der Champion sein, aber mit alternativen Angeboten einen Unterschied machen“, erklärt der Manager. Zumindest eine der alten hanseatischen Kaufmanns-Traditionen passt also auch ins neue Bild des Großhandels: Understatement.
Kurzprofil H. Gautzsch Zentrale Dienste GmbH / Unternehmens-Gruppe H.Gautzsch
Gründungsjahr: 1857
Branche: Großhandel und Produktion
Geschäftsfelder: Elektro, Haus & Garten, Schaltanlagenbau, Services
Standorte:70
Anzahl Mitarbeiter: 1200
Räumliche Absatzmärkte: DACH
Jahresumsatz: 800 Millionen EUR