Titelthema

Auf Kurs in die neue Arbeitswelt

Raus aus den Routinen: Im digitalen Wandel müssen Fachkräfte umdenken, um seine Dynamik und Komplexität zu meistern. Die IHK unterstützt Unternehmen in diesem Lernprozess mit passgenauen Bildungsangeboten. Für den digitalen Wandel werden nicht nur bestimmte Fertigkeiten gebraucht, sondern eine neue Denk- und Arbeitsweise – herausfordernd für Fachkräfte und Führungsebene gleichermaßen. (Von Dominik Dopheide)
„Die gesamte Wirtschaft bewegt sich Richtung Digitalisierung, aber nicht alle Unternehmen erreichen die jeweils bestmögliche Geschwindigkeit“, sagt Carsten Taudt. Dem Leiter des Geschäftsbereichs Bildung und Fachkräftesicherung der IHK Nord Westfalen ist klar, dass sich neue Workflows nicht über Nacht von Wunderhand im Betrieb installieren lassen. Doch verläuft der Transformationsprozess in vielen mittelständischen Betrieben offensichtlich so schleppend, dass ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit droht. Wie also Fahrt aufnehmen auf dem Digitalisierungskurs? Nur wenn ein Unternehmen die komplette Belegschaft mitnimmt, kann das gelingen, ist Taudt überzeugt. Doch hier offenbart sich die zentrale Herausforderung: Nicht alle der Mitarbeitenden starten vom selben Kenntnisstand. Das gilt sowohl für die operative Ebene als auch für die Managementmethoden. Die gute Nachricht: Es liegt somit auf der Hand, wie sich die Bremse lösen lässt. „Digitalisierung braucht Bildung“, betont Taudt, und das gelte für alle Generationen.
So seien die Auszubildenden zwar mit dem Smartphone groß geworden. Das bedeute aber nicht, dass sie die Grundkompetenzen, die für den digitalen Wandel im Betrieb erforderlich sind, schon mitbringen. Die Liste der fachspezifischen Kompetenzen, die zurzeit in den Ausbildungsordnungen verankert werden, ist entsprechend lang. Ergänzend bietet die IHK, zusammen mit mehreren Berufskollegs, seit 2021 für Auszubildende der Industrie die „Zusatzqualifikation Digitale Fertigungsprozesse“ an, die auf eine Initiative der Nachwuchsstiftung Maschinenbau zurückgeht. Auf dem Unterrichtsplan stehen unter anderem Prozessanalyse, IT-Security, Datenanalyse und vernetzte Fertigungssysteme. Insgesamt haben 36 Auszubildende am ersten Durchgang teilgenommen.

Fähigkeiten für die digitale Welt

Doch, und das ist die nächste Herausforderung, sind im Arbeitsleben 4.0 nicht nur fachspezifische Kompetenzen gefragt. „Es geht nicht um magische „digitale Fähigkeiten“, die vermittelt werden können, sondern um die Fähigkeit zum Umgang mit dem digitalen Wandel“, verdeutlicht Ulli Schmäing das Ziel der neuen Bildungsangebote. Der Leiter der Abteilung Weiterbildung bei der IHK Nord Westfalen erläutert „Es geht um eine neue, eine flexiblere Art, zu denken und zu handeln.“ Und das betrifft alle Hierarchieebenen und alle Altersgruppen.

Achtung: Komplexitätsfalle

In einer agilen Arbeitswelt nämlich ticken Teams und Uhren einfach anders. Uwe Rotermund, Geschäftsführer und Gründer der noventum Consulting GmbH, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema – als Berater, Autor und Dozent. Nach seiner Erfahrung sind die Methoden und Werkzeuge des agilen Arbeitens das stärkste Mittel, um die Dynamik und  die Komplexität der Digitalisierung zu meistern. „Achtung, wenn die Welt komplex wird, funktionieren die alten Managementsysteme nicht mehr“, zitiert Rotermund sinngemäß die Warnung des Wirtschaftsphilosophen Frédéric Laloux. Die alten Lösungsstrategien funktionieren jetzt immer weniger, wie Rotermund erklärt: Viele Einflussfaktoren, aber wenig Dynamik? Die Antwort auf dieses Szenario war in der Regel die akribische Entwicklung einer komplizierten Lösungsstrategie. Zeit zum Tüfteln war noch vorhanden. Jetzt aber, da die Digitalisierung sowohl die Komplexität als auch die Veränderungsgeschwindigkeit antreibt, helfe solches Vorgehen nicht mehr. Und doch, so hat Rotermund beobachtet, halten zu viele Industrieunternehmen an den klassischen Managementmethoden fest. „Weil es immer schwieriger wird, zu planen und zu kontrollieren, planen sie noch länger und kontrollieren noch engmaschiger“, erklärt er. Das Resultat im schlimmsten Fall: Die Lösung ist da, aber der Markt ist weg.

Zauberwort Agilität

„Wir müssen also umdenken und lernen“, sagt der noventum-Geschäftsführer. Als Grundlage empfiehlt er einen Paradigmenwechsel in der Führungskultur, unter anderem, weil eine streng hierarchisch geprägte Arbeitsorganisation nicht zu den Prinzipien des agilen Arbeitens passt. Also müsse auf der Führungsebene ein Lernprozess angestoßen werden. „Dort ist es ja ein Grundbedürfnis, die Dinge unter Kontrolle zu haben, aber wenn ich Vertrauen schenke, bedeutet das Kontrollverlust“, erklärt Rotermund. Diese psychologische Barriere müsse überwunden werden, damit alte Organisationsmuster zugunsten des agilen Arbeitens über Bord geworfen werden können. Alle hören auf ein Kommando? Bitte nicht in einer Arbeitswelt, die in rasanter Geschwindigkeit komplexer wird.
Mit Teams, die den Spielraum haben, selbstständig zu gestalten und zu entscheiden, lässt sich ausprobieren, wie schnell agiles Arbeiten zu Ergebnissen kommt. Solche Teams werden projektbezogen gebildet, um eine Lösungsidee so weit wie möglich umzusetzen und dabei stetig anzupassen. Der große Wurf wird zunächst nicht angestrebt. Der Anlauf wäre viel zu lang. Vielmehr legt das Team ein paar sogenannte Sprints hin – in vorab definierten Zeit-Etappen von Versuch zu Irrtum oder Teilerfolg, bis das Ziel erreicht ist oder das Projekt verworfen wird. Scheitern nämlich ist in diesem Konzept erlaubt. Das alles aber kann nur funktionieren, wenn das Handwerkszeug agilen Arbeitens bekannt und akzeptiert ist, und das Team selbstmotiviert und zu eigenverantwortlichem Handeln fähig. „Nicht auf Anweisungen zu warten, sondern Verantwortung zu übernehmen, das muss man wollen und oft erst einüben“, sagt Rotermund.

Bedarfe recherchiert

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An diesem Punkt setzt die IHK Nord Westfalen mit ihrem Berufsbildungs-Angebot Zert-Ex an, das sich explizit an die künftigen Führungskräfte richtet: Diese IHK-Zertifikatslehrgänge sind verzahnt mit den Vorbereitungslehrgängen zur Wirtschaftsfachwirtin oder zum Industriemeister Metall. Dass im Zuge dieser „Zertifikatsergänzten Exzellenzabschlüsse“ Know-how vermittelt wird, das bislang überwiegend im akademischen Bildungskanon zu finden war, ist für Ulli Schmäing, Leiter der Abteilung Weiterbildung bei der IHK Nord Westfalen, ein zentrales Qualitätsmerkmal des Angebots. Zum einen, weil somit die Höhere Berufsbildung noch attraktiver werde. Zum anderen, weil jene gezielt geschult würden, die maßgeblich den digitalen Wandel mitgestalten: Führungskräfte im mittleren Management.
Gemeinsam mit der Handelshochschule Leipzig recherchiert die IHK bis zu vier Mal im Jahr, welche Kenntnisse und Fähigkeiten die Industrie in Nord-Westfalen braucht, um die digitale Transformation zu meistern. Mehr als 500 mittelständische Unternehmen nehmen regelmäßig an den Kompetenzbedarfsumfragen teil. Angesichts der Kürze der Intervalle können die Lerninhalte von Zert-Ex schnell angepasst werden, erklärt Schmäing. „Wir wollen nicht Metastudien lesen, sondern quasi in Echtzeit von den Betrieben direkt hören, wo der Schuh drückt“, fügt er hinzu. Bereits mit der zweiten Zert-Ex-Runde, Start war im September 2022, hat die IHK das Unterrichtskonzept mit neuen Formaten modifiziert. Jetzt bietet sie den Lehrgang mit Blended Learning und integriertem Planspiel an. Nicht lesen, sondern machen, laute die Devise in den Zert-Ex-Kursen, erklärt Katharina Schilling. Sie ist im IHK-Team für Bildung und Fachkräftesicherung tätig und für die Organisation des Projektes mit verantwortlich. Sie hat gesehen, wie der Einstieg ins agile Arbeiten spielend zu schaffen ist, wenn die Dozentinnen und Dozenten dabei auch mal auf kreative Methoden zurückgreifen wie beispielsweise das Improvisationstheater. „Es ist ja das Schöne, dass die Teilnehmenden hier ein imaginäres Unternehmen ohne Konsequenzen innerhalb einer Stunde an die Wand fahren können“, sagt Schilling. Oder eben in derselben Zeit komplexe Probleme lösen.
Im Ergebnis ergibt sich ein nachweisbarer Effekt. Erste Kompetenzmessungen des Projektpartners Westfälischen Hochschule zeigen bei den frischgebackenen Industriemeistern und Fachwirten erkennbare Unterschiede zur Vergleichsgruppe ohne den Zert-Ex-Anteil in der Prüfungsvorbereitung. Insbesondere der Innovationsmut und die damit verbundene Bewertung der unternehmenseigenen Innovationskultur stachen deutlich hervor.
Aber was, wenn eines der befragten Unternehmen keinen Bildungsbedarf zu melden hat? „Tatsächlich zieht es nicht jedes Unternehmen auf die digitale Überholspur“, sagt Schilling. In zehn Jahren aber, wahrscheinlich noch eher, bekämen diese Firmen den Veränderungsdruck umso stärker zu spüren. Ulli Schmäing sieht es genauso. „Erfolg kann auch lähmend sein“, warnt er und verweist auf eine Eigenschaft der Digitalisierung, die bereits für manche Überraschung gesorgt habe: Sie verläuft nicht linear, sondern exponentiell, in starken Schüben. Never touch a running system? Dieses Motto greife folglich in der künftigen Arbeitswelt nicht. An seine Stelle müsse der Mut zur Veränderung treten. „Die Digitalisierung führt dazu, dass uns Ereignisse immer schneller und immer stärker treffen, aber wir können mit Bildung unsere Veränderungsbereitschaft und Anpassungsfähigkeit erhöhen“, sagt Schmäing. Vor diesem Hintergrund könne Zert-Ex nur der Auftakt zu weiteren Angeboten der IHK sein.

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