Rationalisierungsprozesse und Weltwirtschaftskrise
Die existenziellen Krisen der Weimarer Republik brachten der deutschen Wirtschaft nicht nur Nachteile, sondern setzten auch Impulse für Innovationen und Rationalisierungsprozesse. Die Modernisierung von Arbeitsabläufen schließlich ebnete den Weg für die moderne Berufsausbildung: Dies war ein notwendiger wie kontinuierlicher Prozess, der, zwei Jahre bevor die Handelskammern Dillenburg und Wetzlar 1931 die ersten Facharbeiterprüfungen durchführten, von einem Ereignis erschüttert wurde, das die Welt bewegte: dem als schwarzer Freitag in die Geschichte eingegangenen dramatischen Börsencrash des 24. Oktobers 1929, deren Schockwellen sich von der New Yorker Wall Street auf der ganzen Welt ausbreiteten und auch Deutschland mit aller Härte erfassten.
Bandfertigung bei den Burger Eisenwerken
Rationalisierungen und Berufsausbildung
Die von der Inflation begünstigten Exporterfolge zwischen 1919 und 1923 täuschten darüber hinweg, dass die deutsche Industrie ihren Produktionsvorsprung aus der Vorkriegszeit weitgehend eingebüßt hatte. Die ausländische Konkurrenz war groß. Die Unternehmen, allen voran die deutsche Eisenindustrie, mussten mit immer kleineren Gewinnspannen kalkulieren. Nun musste es darum gehen, die Produktionskosten zu senken, und da Lohnkürzungen meist am erbitterten Widerstand der Gewerkschaften scheiterten und sich Preiserhöhungen ohnehin verboten, konnte dies nur durch Innovationen, Straffung des Fertigungsprogramms und Optimierungsverfahren der Arbeitsabläufe erreicht werden.
Auch bei der Neuhoffnungshütte Haas + Sohn erkannte man dies. Dort hatte der Diplomingenieur Wolfgang Rathscheck, ein Nachkomme des Firmengründers, 1924 ein Konstruktionsbüro errichtet, in dem neue Ofenformen entwickelt wurden – so auch der erste Sturzzugofen, der 1932 auf den Markt kam. Darüber hinaus hatte die Arbeit des Konstruktionsbüros erheblich zur Eliminierung von Zeitverlusten im Arbeitsablauf beigetragen, die sich bislang bei der Konstruktion der Öfen in der Modellwerkstatt ergeben hatten.
Prospekt der Neuhoffnungshütte Haas + Sohn
für einen Sturzzugofen, 1931
für einen Sturzzugofen, 1931
Parallel zu dieser Entwicklung hatte sich das vom Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (REFA) eruierte REFA-System etabliert, das die Kenntnis der einzelnen Arbeitsabläufe verbesserte und eine gerechtere Lohnermittlung ermöglichte. Damit war das „Denken in Zeiten“ auf der Neuhoffnungshütte eingezogen. Rationalisierung positionierte sich als fortwährender Prozess zur Bestgestaltung allen wirtschaftlichen Geschehens. Und gab dem Unternehmen entscheidende Impulse: Die Neuhoffnungshütte modernisierte ihr Putzhaus, deckte weitere betriebliche Schwachstellen auf und organisierte ihren Fertigungsablauf neu. Die Umwandlung des Generalakkords in einen Zeitakkord setzte viele Leistungsreserven frei. Den vorläufigen Endpunkt dieses Rationalisierungsprozesses setzte 1937 die Einführung der Bandfertigung im Ofenbau.
Gleichzeitig wurde die Entwicklung von Heiz- und Kochgeräten auf eine wissenschaftliche Basis gestellt. Dazu richtete die Neuhoffnungshütte 1928/29 ein heiztechnisches Laboratorium ein. Dort konnten nicht nur die Wirkungsgrade exakt ermittelt, sondern alle für die Güte der Geräte relevanten Werte bestimmt werden. 1932 verdrängten Herde aus emailliertem Stahlblech den Gussherd, und die Produktion moderner Großkochgeräte begann.
Auch andere Herd- und Ofenfabriken im Dillkreis modernisierten ihre Anlagen, entwickelten neue Produkte und gingen zur „Fließfertigung“ über. Dabei kopierten sie keine amerikanischen Vorbilder, sondern entwickelten eigene, auf ihre betrieblichen Besonderheiten zugeschnittene Systeme. Ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg in die arbeitstechnische Moderne war getan.
Doch für die optimierten Arbeitsabläufe und die Bedienung komplexerer Maschinen benötigte man qualifizierte Facharbeiter. Damit rückte auch die Berufsausbildung immer stärker in den Fokus. Die von Gewerbevereinen und Kommunen betriebenen Fortbildungsschulen waren erste Vorformen betrieblicher Ausbildung. Mit der Neuregelung der Berufsschulpflicht 1921 gingen die meisten von ihnen in die Trägerschaft der Kreise über. Es setzte sich nicht nur die Bezeichnung „Berufsschule“ durch, sondern zunehmend auch ein berufsbezogener Fachunterricht.
Zunehmend ging es darum, einheitliche überbetriebliche Ausbildungsinhalte zu schaffen. Für diese traten der Deutsche Ausschuss für technisches Schulwesen (DATSCH) und das Deutsche Institut für technische Arbeitsschulung (DINTA) ein, in denen neben Industrieverbänden auch die Handelskammern vertreten waren. Sie grenzten die industriellen Berufe voneinander und gegenüber Handwerksberufen ab und setzten Prüfungsausschüsse bei den Kammern durch. Die Industrie- und Handelskammern Dillenburg und Wetzlar führten seit 1931 Facharbeiterprüfungen durch. Die Nationalsozialisten führten die Vereinheitlichung des Berufsschulwesens und der betrieblichen Ausbildung konsequent zu Ende, da für die Aufrüstung qualifizierte Facharbeiter benötigt wurden. So wurde die Lehrabschlussprüfung 1936 Pflicht, die flächendeckende Berufsschulpflicht wurde 1938 Gesetz.
Feinmechaniker-Klasse der gewerblichen Berufsschule Wetzlar, 1926/27
Weltwirtschaftskrise
Am Donnerstag, den 24. Oktober 1929, der wegen der Zeitverschiebung in Europa als „Schwarzer Freitag“ in die Geschichte eingegangen ist, verzeichnete die New Yorker Börse einen dramatischen, bis dahin nie erlebten Kursrückgang. Die Schockwellen dieses Börsenkrachs breiteten sich schnell in Amerika und der ganzen Welt aus. Neben den USA war Deutschland, wo sich die Krise in einigen Branchen bereits zu Beginn des Jahres abgezeichnet hatte, am schwersten betroffen. Von 1929 bis 1932 sank das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um ein Viertel; die Industrieproduktion ging sogar um zwei Fünftel zurück.
Vor allem die Eisenindustrie litt unter Absatzstockungen, was sich unmittelbar auf den Eisenerzbergbau auswirkte. Die Hüttenwerke nahmen immer weniger Erz ab, sodass die Halden der Lahn-Dill-Gruben immer größer wurden. Von den fünf Hochöfen im Lahn-Dill-Gebiet stand 1932 nur noch der Hochofen III der Sophienhütte im Feuer. Da sich, wie der Weilburger Anzeiger am 5. 12. 1930 bemerkt, die „Selbstkosten der Gruben bis zu 70 Prozent aus reinen Lohnkosten zusammensetzten“, schien Lohnsenkung unvermeidbar. Verhandlungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften über Lohnsenkungen im nassauischen Eisenerzbergbau verliefen zunächst ergebnislos. Erst am 27. Januar 1931 wurde unter Vorsitz von Dr. Kollarth ein Schlichterspruch angenommen, der einen Lohnabbau von sieben Prozent vorsah. Gleichzeitig wurde das bisherige Arbeitszeitabkommen verlängert. Doch eine Verbesserung der Lage trat nicht ein. Das starre Lohntarifsystem machte es den Gruben unmöglich, auf Preisvorstellungen der Hütten einzugehen. So wurde es für die wenigen noch verbliebenen Betriebe schwieriger, durchzuhalten.
Auch die anderen Branchen versuchten in der Krise, die Löhne zu senken: Der Arbeitgeberverband für den Lahngau und Oberhessen forderte eine Senkung der Gehälter um 10 und der Löhne um 16 Prozent. Realisiert wurde dann - nach zähen Verhandlungen, der Einschaltung des Schlichtungsausschusses und Nachverhandlungen - eine sechsprozentige Kürzung des Tariflohns und der Akkordpreise. Die Ernst Leitz GmbH und ihr Tochterunternehmen Seibert schlossen sich nicht der Vereinbarung an und verzichteten aufgrund der guten Auftragslage auf Lohnsenkungen.
Lageplan der Betriebsstätten der Interessengemeinschaft Buderus’sche Eisenwerke und Hessen-Nassauischer Hüttenverein, 1932
Eine ganze Reihe kleingewerblicher Unternehmen und Grubenbetriebe fielen der Krise zum Opfer, aber zu spektakulären Konkursen wie in anderen Regionen kam es im Lahn-Dill-Gebiet nicht. Allerdings gab es zwei Unternehmensübernahmen, die längerfristige Folgen haben sollten. Ob der Einstieg der Firma Carl Zeiss aus Jena bei der Hensoldt AG 1928 schon dem sich anbahnenden konjunkturellen Einbruch zuzuschreiben ist, bleibt offen. Dagegen war die Übernahme des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins durch die Buderus´schen Eisenwerke eine direkte Folge der Weltwirtschaftskrise: Zwar hatten beide Unternehmen durch die Krise gelitten – doch während Buderus nie in seiner Existenz bedroht war, geriet der Hessen-Nassauische Hüttenverein durch anhaltende Umsatzrückgänge und die damit verbundene Verschuldung immer tiefer in die Krise, sodass ihm am Ende keine andere Möglichkeit blieb, als zum 1. Januar 1933 zunächst eine Interessengemeinschaft mit Buderus einzugehen. Dies schien für beide Unternehmen vorteilhaft: Sowohl hinsichtlich ihrer Struktur als auch ihrer Produkte wiesen Buderus und Hüttenverein große Übereinstimmungen auf, sodass die Zusammenlegung der Verwaltungen und Verkaufsorganisation Einsparungen erwarten ließen. Die Bereinigung des beiderseitigen Produktionsprogramms und die Aufteilung der Modelle auf die einzelnen Werke schufen die Voraussetzungen für eine kostengünstige Serienproduktion. Gleichzeitig mit dem Abschluss des Interessengemeinschaftsvertrags schlossen beide Unternehmen einen Freundschaftsvertrag mit den Burger Eisenwerken. Diese beiden Verträge stellten die Eisenindustrie des Lahn-Dill-Gebiets auf eine „neue organisatorische Grundlage. Die Konzentration auf wenige große Unternehmen integrierten diesen Wirtschaftsraum zunehmend in den Wettbewerb mit dem Ruhrgebiet.“ Sie kam einer Fusion, wie sie zum 1.12. 1935 vollzogen wurde, bereits sehr nahe.
1930 stieg die Arbeitslosigkeit in schwindelerregende Höhen. Mitte Mai 1930 wurde in einer Konferenz des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes aus dem Lahn-, Dill- und Westerwaldgebiet in Limburg über die Notlage der Bevölkerung dieses Bezirks diskutiert, und in ihrer Abschlusserklärung forderten die Gewerkschafter, die Gebiete Lahn, Dill, Taunus, Westerwald und Oberhessen als außerordentliche Notstandsgebiete anzuerkennen, Notstandsarbeiten zu fördern und die Krisenunterstützung „in Bezug auf die Dauer zu erweitern und auf alle Berufe auszudehnen“.
Mit Ausnahme der optischen Industrie bauten fast alle Branchen und Unternehmen massiv Stellen ab. Die Burger Eisenwerke GmbH hatte bereits im März 1929 die Schelderhütte stillgelegt und allen 300 Beschäftigten gekündigt; Entlassungen in anderen Werken konnten sie zunächst vermeiden; als sich jedoch Ende 1930 die wirtschaftliche Lage zunehmend verschlechterte, ließen sich weitere Betriebseinschränkungen nicht umgehen. Zwar kam es zu keiner weiteren Betriebsschließung, doch im Januar 1931 erhielten mehr als die Hälfte der Beschäftigten die Kündigung. Die Neuhütte, die noch bis 1929 gute Beschäftigtenzahlen vorweisen konnte, entließ nach 1930 jedes Jahr die Hälfte der Belegschaft, sodass im März 1933 nur noch 125 Menschen auf der Neuhütte arbeiteten – ein Drittel weniger als 1913. Ähnlich verlief die Entwicklung auf der Eibeshäuserhütte. Nach dem Rekordjahr 1929 mit 636 Beschäftigten reduzierten auch hier drei Entlassungswellen die Belegschaftsstärke bis März 1933 auf 132 Personen – fast 70 Prozent weniger als 1913. Am 15. Januar 1931 waren beim Arbeitsamt Dillenburg 8.156 Arbeitssuchende gezählt. Damit nahm er im Bezirk des Landesarbeitsamts Hessen-Nassau die Spitzenstellung ein. Im Kreis Wetzlar erreichte die Arbeitslosigkeit am 1. April 1932 mit 7.146 Personen ihren Höhepunkt. Cyrill Stoletzky