Im Bann der Gruben
Belegschaft der Grube Raab in Wetzlar vor dem Stollenmundloch des Ludwigs Stollens, 1898
"Ich möchte das Bergfach studieren“, teilt August Bebel 1854 seinem Vormund mit, denn, wie er später in seiner Autobiografie ergänzt, „nachdem Anfang der 50er Jahre die Lahn bis Wetzlar schiffbar gemacht wurde, hatte der Eisenerzabbau einen großen Aufschwung genommen.“ Und auch wenn er sich schließlich doch für eine Drechslerlehre entschied und später in die Politik ging, zeigt das doch, welche Bedeutung der Bergbau in dieser Zeit für den Wohlstand und die beruflichen Perspektiven in der eisenerzreichen Lahn-Dill-Region gewonnen hatte. Seit Jahrhunderten wurden dort Erze gefördert und verhüttet. Bergbau und Eisenindustrie waren deren wirtschaftliches Rückgrat und bestimmten die wirtschaftliche Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg. Diese war spannungsreich und wechselvoll.
Bergbau: Aufschwung, Blütezeit, Krise und Überlebenskampf
So erfährt der nassauische Eisenerzbergbau nach den napoleonischen Kriegen eine Belebung. Vor allem in den Bergrevieren Dietz und Weilburg kommt es zum massiven Aufschwung. Fördermengen und Zahl der Felder verdreifachen sich. 1850 sind 414 Gruben in Betrieb, und die Schiffbarkeit der Lahn ermöglicht die Eisenerzausfuhr in großen Mengen. Zu diesem Zeitpunkt verzeichnet auch der Eisenerzbergbau im Raum Wetzlar-Dillenburg bereits hohe Wachstumsraten. Die hohe Erznachfrage aus dem rheinisch-westfälischen Industrierevier macht die Region von der Jahrhunderte alten Bindung an die heimische Eisenindustrie unabhängig. Die Förderung steigt in wenigen Jahren sprunghaft an und übertrifft 1857 mit 80.361 t das Ergebnis des Jahres 1850 um das Siebenfache. Und bestimmt den Beruf vieler: 1000 Menschen finden in diesem Jahr im Bergbau Beschäftigung. Der Anschluss an das Eisenbahnnetz sorgt für weiteren Auftrieb. Um 1865 werden zwei Drittel der Erze ins Rheinland und nach Westfalen verbracht. In den Gründerjahren 1872/73 erlebt die Eisenerzförderung ihren Höhepunkt: 1, 24 Mio. t Eisenerze werden 1872 gefördert.
Die wachsende Nachfrage stellt den Bergbau jedoch vor massive Herausforderungen. Ab einer gewissen Größe wird der Einsatz von Dampfkraft erforderlich. Der dazu notwendige Kapitaleinsatz überfordert viele heimische Bergwerke. So erwerben Hüttenwerke an Rhein, Ruhr und Saar immer mehr Grubenbesitz und Schürfrechte im Lahngebiet. Mit dem Konjunktureinbruch 1873 setzt die Krise des Eisenerzbergbaus in Lahn und Dill ein. 1874 sinkt die Förderung um die Hälfte. Ursache ist der Verlust der Stellung des Lahngebiets als bevorzugte Erzquelle von Rhein- und Ruhr: Dort kauft man zunehmend spanische Rot- und Brauneisensteine und schwedische Magneteisensteine ein, denn sie sind preiswerter und phosphorreicher als die Lahnerze und für die neuen Flusseisenprozesse besser geeignet. Buderus gelingt es durch die Entwicklung des „Nassauischen Qualitätsroheisens“, die Krise des Lahnerzbergbaus abzumildern. 1881 erreicht der neu gegründete Berg- und hüttenmännische Verein die Anerkennung der Bergbaugebiete als Notstandsgebiete, sodass 1886 ein Notstandstarif für Bahnfrachten eingeführt werden kann, der den Versand von Erzen verbilligt. So können Wettbewerbsnachteile ausgeglichen und das Überleben des Bergbaus gesichert werden. Doch dessen Abstieg wird langfristig damit nicht aufgehalten.
Von der Eisenproduktion zur Eisenverarbeitung
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts werden die im Lahn-Dill-Gebiet geförderten Erze ausschließlich in der Region verhüttet. Seit vorchristlicher Zeit nutzte man dazu die Aufwinde der an den Berghängen stehenden Rennöfen. Diese wurden im 15. Jahrhundert durch Hochöfen, die Wasserkraft zum Antrieb von Gebläsen einsetzten, abgelöst. 1860 gibt es im Land-Dill-Gebiet 25 Hütten mit 28 Hochöfen. Deren Schwachpunkt jedoch ist die Holzkohle. Wälder sind überbewirtschaftet, Holzkohlemangel lässt Hütten still stehen. Unterdessen gehen an Rhein und Ruhr die ersten Kokshochöfen in Betrieb. So verlagert sich das Zentrum der Eisenverhüttung ins rheinisch-westfälische Industrierevier. Eine Umstellung auf die Koksverhüttung kommt für die meisten nassauischen Hütten aus Kostengründen nicht in Frage. Eine Ausnahme ist die Leopoldshütte in Haiger, die 1865 den ersten Kokshochofen in Betrieb nimmt. Alle anderen Kokshochöfen entstehen an neuen Standorten. 1870 beginnt Buderus mit dem Bau der Sophienhütte. Der erste Hochofen wird am 1. 8. 1872 angeblasen, der zweite am 9. 1. 1873. Den letzten Kokshochofen nimmt am 11. 6. 1905 der Hessen-Nasssauische Hüttenverein in Betrieb. Die Gründerkrise 1873 trifft die Eisenindustrie mit voller Wucht. Der wachsende Konkurrenzkampf veranlasst Buderus, die Roheisenproduktion auf Gießereiroheisen umzustellen. Ab 1890 gerät das Unternehmen in finanzielle Schwierigkeiten und verlagert seinen Schwerpunkt ab 1900 auf Gießereierzeugnisse. Doch nicht nur für Buderus markiert die Jahrhundertwende den Beginn einer entscheidenden Neuorientierung. Da die Holzkohleöfen gegen die effizienteren Kokshochöfen langfristig nicht bestehen können, geben auch die anderen heimischen Hüttenwerke bis Ende des 19. Jahrhunderts die Eisenerzeugung auf und stellen ihren Betrieb auf Eisenverarbeitung und Eisenguss um. Und so verlegen sich die Hütten des Dillgebiets und des Hinterlands auf den Guss von Herden und Öfen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommen 60 Prozent aller in Deutschland hergestellten Herde und Öfen aus dem Lahn-Dill-Gebiet. Deutschlands größte Fabrik für Dauerbrandöfen ist 1905 nach eigenen Angaben die Burger Eisenwerke GmbH mit einer Jahresproduktion von 17.000 Stück. Auch die Adolfshütte von Frank & Giebeler (ab 1897 Franksche Eisenwerke) setzt auf Eisengießerei und Ofenproduktion. Daneben gibt es im Kreis Wetzlar einige Drahtfabriken, die neben Puddelroheisen auch Kupfer verarbeiten.
Gichtgas: Ein Nebenprodukt schafft Elektrizität
Die Nebenprodukte des Verhüttungsprozesses trugen viel zur Rentabilität der Hochöfen an Lahn und Dill bei. Buderus verarbeitete ab 1899 Hochofenschlacke zu Zement, und auch Schaumschlacke fand guten Absatz. Bahnbrechender war jedoch eine Entdeckung, die sich erst in der Endphase der Eisenproduktion abzeichnete: Gemeint ist die Entwicklung eines technisch und wirtschaftlich rentablen Verfahrens zur Reinigung der Gichtgase. Dieses Verfahren war eine technische Revolution, denn ihm ist letztlich zu verdanken, dass ab 1895 die ersten Hochofenwerke dieses Nebenprodukt des Hochofenprozesses zum Betrieb von Generatoren und damit zur Stromerzeugung einsetzen konnten. 1901 stieg auch Buderus in die neue Technologie ein und löste damit den Dampfmaschinenbetrieb und die Beheizung mit Kohlen ab. Der erzeugte Strom versorgte zunächst die Sophienhütte und die eigenen Grubenbetriebe. Ab 1911 wurden aber auch Wetzlar und die meisten anderen Städte und Gemeinden der Region an die Überleitungszentrale der Buderusschen Eisenwerke angeschlossen. Der Hessisch-Nassauische Hüttenverein hatte von Anfang an geplant, Hochofengase zur Stromerzeugung einzusetzen. Die ersten Turbinen wurden 1906 in Betrieb genommen. Ein zweiter Hochofen führte 1910 zur Erweiterung des Elektrizitätswerks und dem Bau einer der Hochspannungs-Freileitungen Deutschlands. 1913 erreichte das Leitungsnetz des Hessen-Nassauischen Hüttenvereins 148 km und versorgte 31 Gemeinden und zwanzig Hütten mit Strom. Durch diese Bereitstellung von Elektrizität wurde auch die Leistungsfähigkeit von Kleingewerbe und Handwerk deutlich erhöht.
Wichtiger Zweig: Optische und Feinmechanische Industrie
Doch auch ein ganz anderer Zweig prägt gegen Ende des 19. Jahrhunderts stark das Gesicht Wetzlars: die optische und feinmechanische Industrie. Carl Kellner legte mit seiner optischen Werkstatt den Grundstein für einen wichtigen, gut florierenden Wirtschaftszweig. 1849 eröffnete er das Optische Institut, in dem Okulare, Fernrohre und ab 1851 Mikroskope hergestellt wurden. Nach Kellners frühem Tod 1855 führte Friedrich Belthle, nach dessen Ableben 1869 Ernst Leitz das Unternehmen fort. 1885 beschäftigte Leitz 120 Mitarbeiter, die jährlich 2000 Mikroskope herstellten. Als er 1898 starb und sein Sohn Ludwig die Geschäftsführung übernahm, unterhielt das Unternehmen Filialen in Berlin, New York, Frankfurt am Main, London und St. Petersburg.
Angesehen waren auch die Mikroskope der Firma Engelbert & Hensoldt, und die Firma W. & H. Seibert, die nach dem Zusammenschluss mit dem Wetzlarer Kaufmann Kraft unter dem Namen Seibert & Krafft firmierte, machte sich mit weltweit anerkannten Immersionsobjektiven einen Namen. Als wichtigste feinmechanische Werkstatt ist schließlich die Firma Georg Kremp zu nennen, die sich mit der Herstellung von Trieben und Zahnstangen für optische und wissenschaftliche Instrumente Ansehen verschaffte. So war bis zur Jahrhundertwende in und um Wetzlar auf dem Gebiet der Feinmechanik und Optik ein komplexes, facettenreiches Geflecht von über 30 Betrieben entstanden. Die meisten von ihnen waren handwerklichen und kleingewerblichen Charakters und als Zulieferer eng an die Großen wie Leitz und Hensoldt gebunden.
Ferner liefen: Handschuh, Marmor, Bier und Pfeife
Andere Branchen im Lahn-Dill-Gebiet hatten allenfalls lokale Bedeutung. Der Maschinenbau war nur schwach vertreten. Er befasste sich zunächst mit der Herstellung einfacher Maschinen für Landwirtschaft und Handwerk. Erst im 20. Jahrhundert ging man zur Produktion von Werkzeug- und Spezialmaschinen über, wie die Betriebe von Wilhelm Momma zu Carl Buß zeigen.
Eine geringe wirtschaftliche Bedeutung hatte auch die Förderung von Kupfer-, Nickel- und Manganerzen. 1865 gab es im Bezirk der Handelskammer Dillenburg 15 Kupererzgruben mit einer Gesamtförderleistung von 4.468 Zentnern Kupfererz, die – wie auch die Erzeugnisse der einzigen Nickelerzgrube – auf der Isabellenhütte bei Dillenburg verarbeitet wurden. Auf Phosphorit hatte sich die Firma Müller, Packard & Co in Niedergirmes spezialisiert. Sie stellte zunächst Superphosphat-Dünger her, dessen Rohstoff Phosphorit in kleinen Lagerstätten im Oberlahnkreis und im Kreis Wetzlar gefördert wurde. Aufgrund stagnierender Phosphat-Dünger-Nachfrage stellte das Unternehmen die Produktion Mitte der 1880er Jahre ein und baute die Erzeugung „englischer Schwefelsäure“ weiter aus. Müller, Packard & Co. meldete 1902 Konkurs an.
Mit zeitweise bis zu 150 Beschäftigten gehörte auch die Marmorschleiferei Dyckerhoff & Neumann in Niedergirmes zu den größeren Betrieben in der Region. Sie verarbeitete Marmor, Basalt und Diabas zu Tischplatten, Grabsteinen, Waschbecken und später auch zu Schalttafeln für elektrische Steueranlagen. Außer Stein- und Schrifthauern beschäftigte das Unternehmen auch Bildhauer für die Anfertigung von Denkmälern und Skulpturen.
Aus einer handwerklichen Tradition entwickelte sich die Wetzlarer Handschuhindustrie. Bereits 1830 gab es 12 Handschuhmacher („Säcker“) in der Stadt. Wetzlarer Lederhandschuhe genossen deutschlandweit einen hervorragenden Ruf, wie ein Schreiben der Johanna von Bismarck zeigt, die 1859 ihrem Mann, dem späteren deutschen Reichskanzler, über eine Bekannte „ein paar warme Handschuhe von Wetzlar“ bestellte. Die Wetzlarer Handschuhmacher konnten sich ihren Erfolg durch frühzeitige Aufträge des Preußischen Militärs langfristig sichern. Insgesamt gab es um die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 21 Handschuhmacherbetriebe. Einer der bekanntesten war die Firma Mandler, die jährlich 60.000 Handschuhe herstellte. Um 1900 existierten in Wetzlar sieben Handschuhfabriken mit zusammen 150 Beschäftigten und ebenso vielen Heimarbeiterinnen.
Weitere wirtschaftliche Impulse kamen von der in Brandoberndorf ansässigen Lederindustrie, einigen Gerbereien im Dillgebiet, denen Hautleimfabriken ihre Existenz verdankten, sowie der Genuss- und Lebensmittelindustrie, die mit rund zwei Dutzend kleinen Brauereien und der Tabakfabrik Joh. Dan., Haas in Dillenburg vertreten war. Sie produzierte hauptsächlich Zigarren, aber auch Pfeifen- und Kautabak.
Am Vorabend des ersten Weltkriegs war die Lahn-Dill-Region, wie Emil Winter es nennt, „autochones, monogenes Industriegebiet“, dessen Wohlergehen fast allein von der Eisenindustrie abhing. Die optisch-feinmechanische Industrie war noch zu schwach entwickelt, als dass sie ein wirkliches Gegengewicht hätte bilden können. Immerhin besaß die Region mit ihr eine moderne, zukunftsträchtige Branche. Chemie und Elektrotechnik waren dagegen kaum vertreten, gleiches gilt für die Lebens- und Genussmittelindustrie. Wie krisenanfällig die Wirtschaftsstruktur war, sollte sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zeigen.
Cyrill Stoletzky