Der Weltenbrand
Reinigung von Zünderteilen bei der Ernst Leitz GmbH, um 1916.
Trotz konjunktureller Schwankungen, technologischer Umwälzungen und strukturellen Wandels war Wirtschaft an Lahn und Dill bis 1914 tendenziell gewachsen und hatte der Region einen Wohlstand beschert, an dem in bescheidenem Maße auch die Arbeiterschaft Teil hatte. Diese Entwicklung wurde durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 jäh unterbrochen.
Die Situation war dramatisch: Handwerks- und kleingewerbliche Betriebe mussten nach der Einberufung ihrer Inhaber schließen. Als der Vormarsch im Westen zum Stehen kam und in einen Stellungskrieg überging, wurden Rohstoffe, Energie, Transportkapazitäten, Arbeitskräfte und Lebensmittel immer knapper und unterlagen strengsten Kontigentierungen. Auf Zuteilung konnten nur „kriegswichtige“ Betriebe hoffen. Die gesamte Produktion war den Bedürfnissen der Rüstungsindustrie unterworfen.
Von zentraler Bedeutung für die Kriegswirtschaft war die Eisen- und Stahlerzeugung. Doch die stand gleich zu Kriegsbeginn vor einem großen Problem. Hatten die deutschen Hüttenwerke noch bis zur Mobilmachung ihren Erzbedarf im Ausland gedeckt, war dies nicht mehr möglich, da die spanischen Erze durch die englische Blockade ausblieben und die Importe aus Schweden wegen Devisenmangels zurückgingen. Dafür fanden die inländischen Vorkommen, die wegen ihres zu geringen Eisengehalts als wertlos galten und ungenutzt auf Halde lagen, wieder guten Absatz. Stillgelegte Gruben wurden in Betrieb genommen, einige sogar technisch ausgebaut. Und die Bergbauproduktion an Lahn und Dill erreichte trotz des kriegsbedingten Mangels vieler Hilfsmittel neue Höchstwerte - und übertraf sogar die Rekordergebnisse der frühen 1870er Jahre. Die deutsche Roheisenproduktion verzeichnete dagegen in den beiden ersten Kriegsjahren aufgrund des Kohlemangels einen massiven Rückgang. Erst 1916 trat dank des „Hindenburg-Programms“, das auf eine Fokussierung sämtlicher Ressourcen auf die Produktion von Kriegsgütern zielte, eine kurzzeitige leichte Steigerung ein, die jedoch hinter den Ergebnissen der Vorkriegszeit zurück blieb.
Die kriegsbedingten Einschränkungen trafen die deutsche Eisenindustrie schwer. So kam der Hochofenprozess beim Hessen-Nassauischen Hüttenverein und den Buderus´schen Eisenwerken schon in den ersten Kriegswochen wegen fehlender Transportkapazitäten fast völlig zum Erliegen. Engpässe bei der Koksversorgung zwangen das Oberschelder Hüttenwerk zu Betriebsunterbrechungen, bis im Dezember 1917 Hochofen I ganz ausgeblasen wurde. Darunter litt auch die Stromerzeugung. Immer wieder musste die Überlandzentrale des Hüttenvereins die Stromabgabe einschränken oder sogar einstellen. Die Buderus’schen Eisenwerke befanden sich in einer günstigeren Lage, besaßen sie doch mit der Zeche Massen in Unna eine eigene Kohlen- bzw. Koksgrundlage, sodass ihre Brennstoffversorgung weitgehend gesichert war. Außerdem suchten die Kriegswirtschaftsstellen die Eisen- und Stahlerzeugung aus Effizienzgründen auf die leistungsstärkeren Hütten zu konzentrieren. Hierbei war Buderus schon allein auf Grund seiner Größe im Vorteil. Obwohl auch die Sophienhütte ihre Produktion weitgehend auf militärische Bedürfnisse ausrichtete, blieb Spielraum für technische Innovationen. So entwickelte Buderus 1915 einen Heizkessel mit Ölfeuerung, der für dickflüssige Öle ausgelegt war. Im gleichen Jahr nahm das Unternehmen die Stahlproduktion auf. Auf dem Gelände der Sophienhütte entstand eine Stahlgießerei mit zwei Siemens-Martin-Öfen von je 6 t Fassungsvermögen. Zwei größere Öfen gingen 1917 in Betrieb.
Personalmangel war ein Problem, das die gesamte Wirtschaft traf. Allein Buderus verlor durch Einberufungen rund 3.000 seiner 8.000 Beschäftigten. Bereits bei der Mobilmachung mussten einige Grubenbetriebe vorübergehend schließen, weil ihnen die Arbeitskräfte ausgingen. Die Grube Maria behalf sich zunächst mit 16 jugendlichen Arbeitsfreiwilligen aus der Türkei und setzte später zusätzlich 30 französische Kriegsgefangene ein. Buderus beschäftigte 1916 rund 1.584 französische Kriegsgefangene sowie 545 Frauen. Um die Lebensmittelversorgung ihrer Beschäftigten zu verbessern, gründeten die Buderus’schen Eisenwerke 1915 den „Buderus-Haushalt“, der den Konsumvereinsgedanken auf die Kriegsverhältnisse übertrug.
Umstellung der Produktion
Den Eisengießereien und Maschinenfabriken bereitete die Umstellung ihrer Produktion auf Kriegsgüter wenig Probleme. Die Maschinenfabrik Doering in Sinn goss seit November 1914 im Auftrag der Sieg-Rheinischen Lokomotivfabrik 10-cm-Granaten und drehte schon wenig später selbst Granaten ab. Anfang 1917 verlegte sich das Unternehmen wieder ganz auf die Herstellung von Pumpen, die in den Schützengräben zur Entwässerung und Entschlammung gebraucht wurden. Probleme ergaben sich für die Eisen verarbeitende Industrie weniger auf der Nachfrage- als auf der Produktionsseite. Dies musste auch die Neuhoffnungshütte Haas + Sohn feststellen. Als größter kontinentaler Produzent von Hufeisen verfügte der Betrieb über zahlreiche Aufträge, war jedoch wegen Rohstoff- und Kohlenmangels und fehlender Arbeitskräfte außer Stande, allen nachzukommen. Dass die Ofenproduktion dennoch gesteigert werden konnte, lag daran, dass vor allem tragbare Feldöfen für die Schützengräben hergestellt wurden. Die Burger Eisenwerke produzierten Kessel und Feldöfen für das Heer. Die Schelderhütte lieferte Kochgeschirre, Feldöfen und Grauguss - und drehte seit 1915 auch Stahlgussgranaten ab. Zusätzlich wurden mit der Reichsfuttermittelstelle in Berlin Verträge über die Trocknung von Laubheu, Futterrüben und Bucheckern abgeschlossen. Diese Verträge dokumentieren eindrucksvoll die Zwangslage der Unternehmen. Denn sie zeigen, wie massiv sie zu Umstellungen in der Produktion gezwungen waren, wollten sie überleben. Nicht selten jedoch erwuchsen daraus neue, den Krieg überdauernde Produktionszweige: So war die kriegsbedingte Drosselung der Leimproduktion für die Leimfabrik Ph. Carl Weiss 1916 der entscheidende Impuls zum Bau einer Fettextraktionsanlage. Die entfetteten Rückstände wurden zu organischem Dünger verarbeitet. Nach der Inflationszeit baute Weiss das Kunstdüngergeschäft erfolgreich weiter aus und errichtete ein Lagerhaus mit eigenem Gleisanschluss. Auch die Isabellenhütte Heusler GmbH bewies unternehmerische Flexibilität. Seit 1905 lieferte die Firma seewasserbeständige Resistinbronze und Widerstandsdrähte aus Mangankupfer an die Marinewerften in Kiel-Gaaden und Danzig. Diese Geschäftsbeziehungen wurden mit Kriegsbeginn intensiviert. Kaiserliche wie auch privatwirtschaftliche Werften orderten in großen Mengen Resistinbronze, und als im März 1915 die Rohstoffvorräte zur Herstellung von Elektrolytkupfer zur Neige gingen, begann die Isabellenhütte nach Ersatzlegierungen zu suchen. Mit Erfolg: 1917 erhielt sie Patente auf Verfahren zur Herstellung von Mangan-Aluminium-Kupfer und von Mangankupfer mit geringem Eisenanteil.
Unterschiedliche Ausgangslage
Für die Unternehmen der optischen und feinmechanischen Industrie war die Ausgangslage bei Kriegsausbruch unterschiedlich. Qualifizierte Feinmechaniker und Optiker konnten nicht durch ungelernte Kräfte ersetzt werden. So konzentrierte man die verbliebenen Facharbeiter auf wenige leistungsstarke Betriebe, die ihre Produktion erheblich steigerten, während viele kleine Betriebe geschlossen wurden. Die Hensoldt & Söhne GmbH gehörte schon vor dem Krieg zu den großen Heereslieferanten. Sie konnte deshalb das gewohnte Produktionsprogramm weitgehend beibehalten. Hergestellt wurden Prismengläser, Ziel-Dialyte, Entfernungsmesser und - ab 1915 - militärische Zielfernrohre und Halbscherenfernrohre, 1916 Periskope und Rundblickfernrohre. Dagegen musste W. & H. Seibert die Produktion einstellen und sich mit wenigen Hilfskräften auf Reparaturarbeiten beschränken. Eine finanzielle Krise führte das Unternehmen 1917 zu einer Zusammenarbeit mit Leitz, die dann in eine Übernahme mündete. Die Ernst Leitz GmbH, die sich auf Mikroskopbau spezialisiert und erst 1906 mit dem Fernrohrbau begonnen hatte, musste 1914 ihr Produktprogramm umstellen. Nach Kriegsbeginn fertigte Leitz Zünder, baute eine Abteilung für optische Kriegsinstrumente auf und produzierte neben Fernrohren auch Sehrohre für Schützengräben, Artillerie-Richtkreise, Maschinengewehr-Zielfernrohre und Kameras für Flugzeuge.
Dramatischer Arbeitskräftemangel
Mit zunehmender Kriegsdauer nahm der Arbeitskräftemangel immer dramatischere Formen an. Um diesen wenigstens teilweise zu kompensieren, wurden zunehmend Frauen und Kriegsgefangene in der Produktion eingesetzt und ab 1917 arbeitsschutzrechtliche Schutzvorschriften für Frauen und Jugendliche außer Kraft gesetzt. Die Unternehmen erhielten Sondergenehmigungen zur Einführung von Arbeitszeitverlängerungen und Schichtarbeit. Der Firma Berkenhoff & Drebes bestätigte die Handelskammer Wetzlar, „dass dieselbe mit einem Arbeiter- und Beamtenstand von 720 Mann in ihren Betrieben Asslarerhütte bei Wetzlar und Merkenbach bei Herborn z.Zt. ausschließlich unter Anspannung aller Kräfte in ununterbrochenen Tag- und Nachtbetrieb mit der Ausführung von mittelbaren und unmittelbaren Heereslieferungen beschäftigt ist.“ Ihr Antrag auf Beschäftigung von 13 jugendlichen Arbeitern im Alter von 14 bis 15 Jahren und elf Frauen in elf- bis dreizehnstündigen Nachtschichten wurde daraufhin genehmigt. Ähnliche Ausnahmegenehmigungen erwirkten die Firmen „Bogerts“ Maschinenfabrik in Haiger, eine Eisengießerei und Fabrik, die Frauen mit dem Schruppen von Granaten und dem Eindrehen von Rillen beschäftigte, die Firma Wilhelm Oberding in Sinn, die in Friedenszeiten Pumpen herstellte und nun Granaten abdrehte, und die Maschinenfabrik Roth GmbH in Roth, die Jugendliche unter 16 Jahren in Nachtschichten Granaten bearbeiten ließ. Im Juni 1917 erhielten auch die Burger Eisenwerke GmbH und die Gießerei und Maschinenfabrik Haiger GmbH Ausnahmegenehmigungen. Auch andere Branchen ordneten Überstunden und Nachtarbeit für Jugendliche und Frauen an. Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags am 11. November 1918 wurde das Ende des ersten Weltkriegs offiziell besiegelt. Die Wirtschaft im Lahn-Dill-Gebiet stand vor einer neuen, nicht einfachen Aufgabe – der abrupten Umstellung auf „Friedensproduktion“.
Cyrill Stoletzky