Auf dem Weg ins Industriezeitalter

Sie waren arm, die Menschen, die um 1815 das heutige Lahn-Dill-Gebiet bewohnten. Und sie bestritten tapfer ihre Existenz.
Der erste Jahresbericht der Handelskammer Dillenburg aus dem Jahr 1865 dokumentiert eindrucksvoll ihre Situation. „Die Bevölkerung“, heißt es, „befand sich in einer gedrückten Lage, die landwirtschaftlichen Erzeugnisse reichten nicht aus, um die Bedürfnisse zu decken.“ Doch dieser Existenzkampf, dem die kleinen Bauern täglich ausgesetzt waren, trug bereits den Keim der Veränderung in sich. Denn schon „Anfang der zwanziger Jahre“, heißt es im selben Jahresbericht, „fing der Bergbau an, sich zu beleben, und die Eisenindustrie gewann (…) an Ausdehnung. Mit dem Aufschwung dieser Industrie hat sich auch der Wohlstand der Bevölkerung gehoben – anfangs langsam, in der letzten Zeit rascher.“
Für den Wirtschaftshistoriker ist klar, wovon in diesem Bericht die Rede ist: Die besondere Energie, die das Lahn-Dill-Gebiet in nur 50 Jahren erfasste und nach vorne trieb - das waren die Anfänge der industriellen Revolution: jene tiefgreifende Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, die zur Ausbildung des modernen Industriezeitalters führen sollte. Das heutige Lahn-Dill-Gebiet, seinerzeit noch zum Herzogtum Nassau, zu Preußen und zum Großherzogtum Hessen zählend, nimmt in dieser Entwicklung eine Sonderstellung ein. Zwar vollzog sich der Wandel in diesen eisenerzreichen Landschaften an Dill, Oberer und Mittlerer Lahn nicht so rasant wie in anderen Gebieten Deutschlands. Gleichwohl war er vorhanden und prägte auch diese Region. Und gerade an ihrer Entwicklung zeigt sich, wie entscheidend veränderte Rahmenbedingungen für den Wirtschaftsfortschritt waren – auf allen Ebenen. Jede Veränderung benötigt Impulsgeber. Worin genau lagen im „hessischen Eisenland“ die Triebkräfte der Industrialisierung?
Drei entscheidende Veränderungen verdanken sich den Napoleonischen Kriegen. So wurde bis 1813 die Bauernbefreiung vollzogen. Der Landwirt konnte somit seinen Arbeitsplatz frei wählen und genoss persönliche Freiheit. Und dank der sich nach und nach durchsetzenden Gewerbefreiheit bedurfte es für die Ausübung eines Handwerks nur noch eines Gewerbescheins. Wer ihn besaß, konnte sich überall im Land niederlassen und seine Produkte verkaufen. Der Abschied von den alten Zunftverfassungen vollzog sich unterschiedlich rasch: Während das Großherzogtum Nassau diese bereits 1819 aufhob, blieb sie in Preußen bis zur Preußischen Gewerbeordnung vom 17.1.1845 in Kraft. Das Großherzogtum Hessen hielt an der Zunftverfassung bis zum 18.2. 1866 fest, weichte diese aber durch Ausnahmeregelungen auf, die den Einfluss der Zünfte so schwächten, dass sich viele von selbst auflösten. 1863 standen 16.774 freie Gewerbetreibende nur 4.226 zünftigen Handwerkern gegenüber. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu wirtschaftlicher Autonomie war damit getan, doch die vielen Zollgrenzen, denen das aus Kleinstaaten bestehende Deutschland ausgesetzt war, erwiesen sich noch als Hemmnis. Genau diese wurden sukzessive abgeschafft. Mit der Gründung des Deutschen Zollvereins zum 1. 1. 1834 entstand – als vorläufiger Höhepunkt der Entwicklung - ein einheitlicher Wirtschaftsraum, dem zunächst Preußen und das Großherzogtum Hessen, 1836 auch das Herzogtum Nassau beitraten, sodass der Bezirk der heutigen IHK Lahn-Dill zollpolitisch vereinigt war. Doch wie war es um die Menschen bestellt, die den Wandel begleiteten und letztlich umsetzten? Sie waren Arbeiter und Landwirte zugleich. Die Mehrheit der Bevölkerung lebte zwar von der Landwirtschaft, ein großer Teil jedoch arbeitete nebenbei in Erzgruben-, Hütten und Hammerwerken. „Der Arbeiter unserer Gegend“, schreibt der Historiker Hugo Bangert, „ist kein eigentlicher Industriearbeiter. Verteilt in den einzelnen Dörfern wohnend, ist er im Besitz eines Hauses mit Land und Viehhaltung. Seine freie Zeit nutzt er zur Bestellung des Ackers, der ihm neben dem gewerblichen Arbeitsverdienst eine bessere Lebenshaltung ermöglicht. Ein solcher bodenständiger Arbeiterstamm bildet für die Lahn-Dill-Industrie eine Voraussetzung für ihre gedeihliche Entwicklung.“ Der Arbeiter an Lahn und Dill sah sich nicht als klassischer Proletarier – ein Grund, warum die sozialdemokratischen Gewerkschaften dort schwerer Fuß fassten als beispielsweise im Ruhrgebiet.
Doch günstige gesetzliche Rahmenbedingungen und gute mentale Voraussetzungen der fleißigen Bevölkerung allein setzten die Industrialisierung noch nicht in Gang. Noch fehlten weitere wichtige Impulse zum Aufbau einer modernen kommunalen und verkehrstechnischen Infrastruktur. Doch auch das sollte sich bald ändern. Zwischen 1863 und 1865 wurden in Dillenburg, Wetzlar und Herborn Gaswerke errichtet. Das vorhandene Telegrafennetz wurde modernisiert, viele Telegrafenbüros aus Außenbezirken in Stadtzentren verlegt. Auch die für das abseits der großen Verkehrsströme gelegene Lahn-Dillgebiet notwendige Verkehrserschließung wurde vorangetrieben. Und da es für die Bergbauregion Lahn Dill vor allem um die Abfuhr der Erze ging, bedeutete dies zunächst den Ausbau der Lahn zum Schifffahrtsweg. In vielen Teilschritten wurde durch Schleusenbau, Fahrrinnenvertiefung und weitere Maßnahmen die Lahn so ausgebaut, dass an entscheidenden Standorten und Knotenpunkten der Transport der Erze von den Gruben verbessert werden konnte. Doch die Blütezeit der Lahnschifffahrt währte nur kurz: Obwohl sich zwischen 1846 und 1849 der Güterverkehr verdoppelt hatte, mehrten sich ab 1850 Stimmen, die nach der Eisenbahn riefen. Und damit nach und nach ein neues Zeitalter auch an Lahn und Dill einläuteten.
Schon einige Jahre nach Gründung des ersten „Zentral-Bahnkomitees“ 1858 wurde der erste Teilabschnitt von Oberlahnstein nach Bad Ems dem Güterbahnverkehr übergeben. Am 5. Juli 1862 erreichte die Lahntalbahn Limburg, am 14. Oktober Weilburg und am 10. Januar 1862 Wetzlar. Und mit der Eröffnung der Deutz-Gießener Eisenbahn war das Eisenbahnzeitalter endgültig angekommen an der Lahn, und das war ein Segen für die Region: Der Eisensteinbergbau in den von der Bahn berührten Revieren Siegen, Dillenburg und Wetzlar, stellte das Oberbergamt Bonn 1865 fest, hatte einen enormen Aufschwung genommen. Dies bestätigte die Handelskammer Dillenburg zwei Jahre später. „Die Verbindung unserer Gegend mit dem Weltverkehr“, hieß es, war von „mächtiger Einwirkung auf die industrielle Thätigkeit und das Wachsen des Wohlstands“. Ein Grund, warum die Bahnverbindungen durch Stich- und Nebenbahnen wie die Diethölztalbahn, die Biebertalbahn und die am 16. Juni 1894 eröffnete Ernsttalbahn ausgebaut wurden, um die lokalen Erz- und Hüttenwerke transporttechnisch noch besser anzubinden.
War sie also da, die industrielle Revolution an der Lahn? Ja und nein.
Zweifellos war der strukturelle Wandel vorhanden, verlief aber nicht so revolutionär wie in anderen Städten. Das zeigt auch die Bevölkerungsdichte, die in Wetzlar, Biedenkopf und Dillenburg zwischen 1867 und 1910 um 37 Prozent stieg, aber unter dem Durchschnitt des heutigen Hessen lag, dessen Bevölkerung in derselben Zeit um 61, 2 Prozent gewachsen war. 1875 lebten immer noch 57, 3 Prozent aller Erwerbstätigen von der Landwirtschaft, ihnen standen 42, 7 Prozent Handwerker und Industriearbeiter gegenüber. Wetzlar industrialisierte sich am schnellsten: Dort sank der Beschäftigtenanteil der Landwirtschaft 1882 unter die 50-Prozent-Marke. Allerdings blieben Verbrauchgüterindustrie, Großhandel, Maschinenbau und später chemische und elektrotechnische Industrie bis ins 20. Jahrhundert unterrepräsentiert. Bergbau und Eisenindustrie dominierten und festigten den Ruf dieser jungen Wirtschaftsregion als eines der wichtigsten Erzreviere Deutschlands.
> Cyrill Stoletzky