Wagner trifft...

"Die sozialen Medien sind sehr wichtig für uns"

Begonnen hat die Firmengeschichte des Maßbands mit der Gründung einer Änderungsschneiderei von Ingrid Schlösser in Driedorf-Heiligenborn. Auf mehrfachen Wunsch der Kunden wurde immer mehr Nähzubehör zum Angebot dazu genommen. 2005 kamen Brother Nähmaschinen dazu, 2006 begann Ernest Schlösser mit dem Aufbau eines Online-Shops. Im Jahr 2011 zog das Geschäft zum ersten Mal um – nach Guntersdorf. Seit 2016 firmiert „Das Maßband“ mitten im Ortskern von Driedorf.
Herr Schlösser, Sie haben das Geschäft 2005 bereits stationär gegründet, sich dabei für Driedorf entschieden und 2006 den Online-Shop eingerichtet. Was hat Sie zu dem Standort und der Verknüpfung bewegt?
Ernest Schlösser: Angefangen hat alles mit einer Änderungsschneiderei in der Nähe unseres Wohnhauses. Die Änderungsschneiderei gibt es längst nicht mehr. Unsere Kunden aus der Zeit der Änderungsschneiderei sind jedoch bis heute unsere Stammkunden geblieben und Grund für uns, an dem Standort festzuhalten. Da es hier in Driedorf wenig Laufkundschaft gibt, habe ich nach neuen Vertriebswegen gesucht und schließlich 2006 das Onlinegeschäft aufgebaut. Inzwischen verkaufen wir nicht nur Nähmaschinen und Nähzubehör, sondern bieten auch einen Reparaturservice an. Den technischen Hintergrund bringe ich mit und habe mich zusätzlich in Schulungen weitergebildet. Das war der richtige Schritt, der Bedarf ist da, denn Nähmaschinenmeister gibt es nicht mehr.
Weiterer Punkt für den Standort sind die Parkmöglichkeiten: Nähmaschinen sind schwer, manche muss man zu zweit aus dem Auto heben. Für uns gehören deshalb zu einem optimalen Standort vor allem ausreichend Parkplätze in unmittelbarer Nähe. Denn mit einer Nähmaschine läuft niemand lange Wege durch den Ort. Ein weiterer Pluspunkt für unseren Standort ist der Platz, denn wenn man ein Onlinegeschäft betreibt, benötigt man Lagerraum für Verpackungen und anderes Material sowie eine Poststelle in der Nähe. Beides haben wir.
Sie haben eine unglaubliche Produktvielfalt und -tiefe, halten tausende von Produkten bereit. Sie stellen in Ihren Online-Shop alles selbst ein, machen sogar die professionellen Fotos selbst. Wie schaffen Sie es, stationäres und Online-Geschäft zu bedienen? Was sind derzeit die größten Herausforderungen?
Ernest Schlösser: Ich habe nicht das Gefühl, dass wir alles schaffen, was wir gerne möchten. Gerade im Social-Media-Bereich werden immer mehr Aktivitäten verlangt. Es reicht schon lange nicht mehr, nur die Produkte zu fotografieren und einzustellen. Heute muss man als Einzelhändler ein halber Influencer sein. Da benötigen wir langsam Unterstützung von außen. Auch die rechtlichen Anforderungen im Onlinebereich nehmen zu, man muss als Einzelhändler noch zusätzlich über juristische Kenntnisse verfügen.
Selbst wenn man das alles schafft, stehen wir vor der nächsten Herausforderung – der mangelnden Kaufkraft: Corona hat vieles verändert und den Wandel vom stationären zum Online-Handel beschleunigt. Durch den Ukrainekrieg, der damit einhergehenden Energiekrise und Inflation ist das Geld knapp geworden. Der Einkaufswagen sieht jetzt anders aus. Wer keine Lebensmittel verkauft, hat ein Problem.
Ich gehe davon aus, dass die Energie teuer bleiben wird. Über kurz oder lang wird es eine Bereinigung im Markt geben. Haben bisher 20 Prozent der Anbieter rund 80 Prozent des Umsatzes gemacht, wird sich die Situation weiter verschieben. Demnächst machen wahrscheinlich 5 Prozent der Ketten 95 Prozent des Umsatzes. Die Diversität in den Einkaufsstraßen wird abnehmen, wir werden nur noch die großen Marken sehen. Für Betreiber von Nischengeschäften kommt das Nachfolgeproblem dann noch erschwerend hinzu.
Driedorf hat kaum mehr als 5.000 Einwohner, Sie müssen also einiges dafür tun, Ihr Geschäft – stationär wie online – bekannt zu machen. Sie haben beispielsweise kleine Filme auf YouTube eingestellt und sind bei Facebook aktiv. Wie wichtig sind die sozialen Medien für Sie?
Nähmaschinen verkaufen wir fast ausschließlich im Geschäft, da bei hochpreisigen Artikeln Beratung gefragt ist. Nähzubehör und Verbrauchsmaterial laufen eher online. Die sozialen Medien sind sehr wichtig für uns, um eine Kundenbeziehung aufzubauen. Wenn es nur um den Kauf im Online-Shop geht, kennen die Kunden kaum noch Treue. Die Neukundengewinnung trifft hier folglich auch auf den Altkunden zu. Anders ist es in den Sozialen Medien, hier lassen sich Beziehungen zum Kunden aufbauen. Allerdings sind die Ansprüche hier sehr hoch geworden. Anspruchsvolle, animierte Bilder, kurze Videos, Anzeigen und Remarketing. Es braucht Mehrfach-Kontakte, in der Regel bis zu sieben Stück, bis eine Kaufentscheidung getroffen wird. Das alles verlangt eine Professionalität, für die wir externe Unterstützung benötigen. Allerdings nicht, um die Leistung extern zu vergeben, dann wird Geld verbrannt. Das Wissen muss in der eigenen Firma aufgebaut werden.
Es hört sich immer so romantisch an, einen eigenen Laden zu betreiben. Ist es auch. Es ist auch sehr viel Arbeit, die gemacht wird, wenn wir nicht im Laden stehen. Deshalb sind wir ja nicht nur zu unseren Öffnungszeiten hier.
Anlieferungs- und Abholmöglichkeiten sind für Ihren Geschäftsbetrieb erforderlich. Was benötigt der Handel 4.0 Ihrer Meinung nach heute und in Zukunft? Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Standort in Driedorf?
Ich erwarte, dass es in Zukunft für Ladengeschäfte ohne Onlinevertrieb kaum noch eine Existenzmöglichkeit geben wird. Künstliche Intelligenz wird diese Entwicklung beschleunigen. Es wird sich eine neue virtuelle Welt des Einkaufens eröffnen. Die virtuelle Welt wird immer mehr in unsere reale Welt integriert werden. Wer sich dafür jetzt nicht rüstet, wird dann nicht mehr existieren.
Für Driedorf konkret kann ich sagen: Grundsätzlich sind wir mit der Lage unseres Geschäftes zufrieden. Wir haben Parkplätze vor der Tür und ausreichend Raum für den Onlineversand. Wenn es hier mehr Einzelhandel im Ort geben würde, käme das auch uns zugute. Nicht nur weil wir dann mehr Publikum hätten, sondern auch, weil so die Zusammenarbeit zwischen Einzelhändlern, um gemeinsam den digitalen Weg zu gehen, einfacher wäre. Allerdings gibt es hier kaum Immobilien für Ladengeschäfte. Wo sollen in Driedorf neue Startups einen Platz finden? 
Wir bräuchten Gründungscenter mit Coworking-Spaces, mit großen Lagern, in denen Einzelhändler Regale für ihren Versandhandel mieten können, statt ein eigenes Lager zu betreiben. Mit gemeinsamen Funktionsräumen wie Fotostudio und Sozialräumen. Vor allem allerdings brauchen wir Nachwuchs. Junge Leute, die sich interessieren für eine Existenz als Unternehmer in der integrierten, virtuellen und realen Welt. In den Schulen und im weiteren Bildungsweg müsste das Fach „Unternehmer“ einen höheren Stellenwert bekommen. Große Unternehmen werden in Deutschland gerne gefördert. Nur wird vergessen, dass wir – um die Zukunft abzusichern –  kleine Startups brauchen, die groß werden können.
Das Interview führte Claudia Wagner
Driedorf hat 5062 Einwohner (Stand 01.01.2022). Die einzelhandelsrelevante Kaufkraft betrug 2022 pro Person 7039 Euro und lag damit unter dem Bundesdurchschnitt, der bei 7282 Euro lag.

Die Gemeinde im Lahn-Dill-Kreis mit den Ortsteilen Heiligenborn, Heisterberg, Hohenroth Mademühlen, Münchhausen, Roth, Seilhofen und Waldaubach hat 70 Einzelhandelbetriebe, Apotheken und Online-Händler. Driedorf liegt im Westerwald im Lahn-Dill-Bergland, umgeben von Wäldern, Wiesen und Hügeln. Der Höllberg in Driedorf – auch Höllkopf genannt – ist der höchste Berg (643 Meter) sowohl im Lahn-Dill-Kreis als auch im hessischen Westerwald. Am Fuße des Höllberges liegt der Heisterberger Weiher in reizvoller Westerwaldlandschaft mit einem modernen, ganzjährig geöffneten Campingplatz. Der Bike Park Driedorf am Höllkopf bietet attraktive Trails mit unterschiedlichen Längen und Schwierigkeitsgraden. Außerdem liegt ein Teil der Krombachtalsperre im Ortsteil Mademühlen. Segeln und Surfen ist dort möglich und der Campingplatz hat ebenfalls ganzjährig geöffnet. Die evangelische Kirche in Driedorf wurde von 1822 bis 1827 errichtet und gehört zu Hessens Kulturdenkmälern.
(Quellen: MB Research, IHK Selektion Februar 2023, www.driedorf.de, Landesamt für Denkmalpflege „DenkXweb“)
LahnDill Wirtschaft 9/10 2023