Sommerempfang der IHK Lahn-Dill

Was Menschen glauben und Maschinen tun

Er ist unser Keynote-Speaker zum Thema „Künstliche Intelligenz mit Bewusstsein? Was Menschen glauben und Maschinen tun“ auf dem Sommerempfang am 15. Juni im Dillenburger Landgestüt: Prof. Dr. Karsten Wendland, Informatiker, Humanwissenschaftler und Technikfolgenabschätzer. Seit über 25 Jahren verbindet er Forschung und Lehre mit unternehmerischer Praxis – unter anderem als Gründer und Entwickler von Forschungs- und Beratungsinstituten zu menschzentrierter Technikgestaltung, als Vorstand einer Stiftung, als Projektsteuerer und Begleiter von Digitalisierungsprozessen sowie als Keynote Speaker mit Vorträgen in der EU, der Russischen Föderation, Indien und Lateinamerika.
Herr Professor Wendland, was ist eigentlich gemeint, wenn von Künstlicher Intelligenz und maschinellem Bewusstsein gesprochen wird?
Der alte Traum, tote Materie zum Leben zu erwecken, ist über die aktuellen Erfolge der KI-Entwicklung scheinbar näher an die Wirklichkeit gerückt. Moderne KI-Systeme sind zu Dialogpartnern geworden, die mitunter täuschend echt an menschliches Verhalten erinnern und manchmal sogar klüger und intelligenter formulieren als unsere direkten Mitmenschen. Intuitiv kann der Eindruck entstehen, diese Systeme seien doch mehr als nur tote Materie, als sei ein Funken Bewusstsein in ihnen entstanden und die KI mit mentalen Fähigkeiten ausgestattet. Nach heutigem Stand können wir sagen: Die Show ist gut, und die KI-Maschinen beliefern uns mit einem Konzert kausaler Einzelfragmente, das für uns angenehm klingen kann und in unserer Wahrnehmung oft Sinn ergibt. Wäre dies nicht so, wäre die Sache auch nur halb so spannend und nicht vernünftig einsetzbar.
In heutiger KI schlummert aber kein Bewusstsein in dem Sinne, dass die Maschine sich selbst als existierend erleben könnte. Die Technik ist unbewusst und ohne mentale Fähigkeiten, sie denkt nicht und sie hat kein empfindungsfähiges Innenleben. Ob zukünftige Technik-Architekturen das schaffen, ist zurzeit tatsächlich offen, wissenschaftliche Einschätzungen hierzu liegen weit auseinander. Möglicherweise reicht den Menschen auch langfristig die gute Show im Wissen um den kleinen Unterschied. Sollte tatsächlich einmal Bewusstsein in der Maschine entstehen, werden wir uns mit wechselseitigen Anerkennungsfragen beschäftigen müssen.
Welche Chancen bietet KI Unternehmen – vor allem im Hinblick auf den Fachkräftemangel?
Ein großes Potenzial bietet KI vor allem für jene Fachkräfte, die bereits da sind. In fast jedem fachlichen Kompetenzfeld finden sich Aufgaben, die von KI-Unterstützung gewinnen können – und die bislang Ressourcen binden. Enorme Zeit- und Qualitätsgewinne lassen sich in KI-gestützter Dokumentenlenkung, Servicekommunikation und Informationsaggregation auf eigenen und externen Datenbeständen realisieren, inklusive datenbasierter Frühwarnsysteme, Plausibilitätsprüfungen und Qualitätssicherungsmaßnahmen. Maschinen können Überprüfungen, Justierungen, Dosierungen und Ausnahmebehandlungen musterbasiert selbst erledigen, wenn man es ihnen mithilfe von KI beibringt oder sie bereits in der Konstruktion mit diesen Fähigkeiten ausstattet. Tiefes menschliches erfahrungsbasiertes Fachwissen, das sich nicht so einfach digitalisieren lässt, kann durch solche technischen Unterstützungen auf höherem Level spielen. Kurz: Mit noch besseren Werkzeugen können Fachkräfte noch effektiver arbeiten. In Routinebereichen lässt sich einiges an Fachwissen auch in KI-Systemen abbilden, so dass fachliche Personalanforderungen sinken können.
Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz können menschliche Fehler reduziert werden, Künstliche Intelligenz vermindert Risiken und ist rund um die Uhr verfügbar. Doch verliert unser Leben nicht an Kreativität, wenn Roboter Aufgaben übernehmen?
Im Gegenteil, Kreativität kann sich unter neuen Möglichkeiten weiter entfalten. Wer Gestaltungskraft in sich trägt oder in sich entdeckt, kann gerade durch den Einsatz fähiger Maschinen auf neue Idee kommen, die ohne diese Impulse nicht angeregt würden. 
Chatbots kann man alles Mögliche fragen und sogar (fast) personalisierte Briefe schreiben lassen. Wann hören wir auf zu denken?
Hoffentlich nicht bei der professionellen Verwertung von Chatbot-Texten, da braucht man scharfsinnige Kontrolle. Chatbots sind Textproduktionsmaschinen, die uns in wohlklingender Sprache grobe inhaltliche Fehler unterjubeln können – und diese gilt es zu erkennen und abzufangen. Soll es um Wertschöpfung im Business gehen, braucht es Sachverstand, also mindestens eine kompetente denkende Person, die den Chatbot kontrolliert. Auch im spielerischen Umgang mit Chatbots für persönliche Angelegenheiten hat Mitdenken seinen Wert. Die neue Generation KI-generierter Liebesgedichte kann durchaus Steilvorlagen produzieren, die den Angebeteten verschrecken können anstatt ihn zu gewinnen; auch hier ist die KI besser an der kurzen Leine zu führen.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass Menschen faul werden, wenn Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt und ihnen Arbeit abnimmt?
Zum Faulsein ist auch nicht jeder geboren, die meisten suchen sich doch immer wieder anregende Tätigkeiten. Mittelfristig ordne ich KI-Technik ähnlich ein wie andere technologische Innovationen zuvor – der Buchdruck, die Dampfmaschine, die Elektrizität, die Computerisierung haben alle zu Veränderungen und Verschiebungen beruflicher Profile und Aktivitäten geführt, und stets gab es neben Gewinnern auch Verlierer. Traditionsreiche Berufsbilder wie das des Schriftsetzers sind nahezu verschwunden. Doch etliche Betroffene sind in den 90ern „auf Computer umgestiegen“ und konnten ihre Expertise dort einbringen.
Was passiert, wenn die ältere Dame im Pflegeheim ihren Pflegeroboter heiraten oder ihm etwas vererben möchte?
Emotional steht solch spätem Glück sicher zunächst nichts entgegen. Die meisten kuriosen Fälle der Kategorie Mann-heiratet-Roboter vor allem aus dem großasiatischen Raum haben sich zwischenzeitlich allerdings als Inszenierungen entzaubert. Mitunter wurden „freie Hochzeiten“ ohne standesamtliche Konsequenzen zelebriert, was vielleicht auch eine Idee für die besagte ältere Dame sein könnte, ausgerichtet als freudiges symbolisches Event, die Verwandtschaft augenzwinkernd angetreten in Festmontur. Sobald es ums Vererben geht, würde ein solcher Fall von den Beteiligten dann sicherlich gründlicher diskutiert und schließlich festgestellt werden, dass der Roboter nicht erbfähig ist. In Fällen dementer Personen und Menschen mit krankheitsbedingten Einschränkungen der Persönlichkeit wurden in den letzten Jahren therapeutische Erfahrungen mit technisch ausgestatten Kuscheltieren und dialogfähigen Pflegerobotern gemacht. Bei guter therapeutischer Qualität können auch solche Maßnahmen den Fachkräftemangel in diesem Feld kompensieren.
Das Interview führte Iris Baar
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