Fachkräftegewinnung

Für mehr Willkommenskultur in Mittelhessen

Die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt nehmen zu, der Wirtschaft in Deutschland fehlen immer mehr Fach- und Führungskräfte. Gesteuerte Zuwanderung aus dem Ausland könnte eine Lösung sein. Doch bürokratische Hürden und eine oft mangelhafte Willkommenskultur erschweren Interessierten den Weg nach Deutschland. Die IHK Lahn-Dill setzt sich deshalb für ein Welcome Center Mittelhessen ein. Über die Chancen eines solchen Centers, den notwendigen Abbau von Bürokratie und die aktuelle Situation sprach die LDW mit der Wetzlarer Relocaterin Stephanie Steen. Sie begleitet seit 1999 Fach- und Führungskräfte aus dem In- und Ausland beim „Ankommen“ in Mittelhessen, hilft unter anderem bei Behördengängen sowie der Schul- und Wohnungssuche.
Frau Steen, Sie sind Relocaterin, das heißt, sie betreuen Fach- und Führungskräfte aus dem Ausland beim Jobwechsel nach Deutschland. Wie finden Sie und Ihre Kunden zusammen?
Stephanie Steen: Meine Auftraggeber sind in der Regel größere Unternehmen aus der Region, die neue Mitarbeiter im Ausland rekrutieren oder eigene Mitarbeiter aus anderen Standorten in der Welt versetzen. Manchmal werde ich von diesen Menschen auch direkt angefragt. Optimal ist es natürlich, wenn der Kontakt mit einem Relocater schon lange vor dem ersten Arbeitstag zustande kommt. Ich unterstütze dann bei der Prüfung auf Zulassung am Arbeitsmarkt, Beantragung eines Visums, Wohnungssuche, bei der Anmeldung, helfe bei der Suche nach einem Kindergartenplatz oder der richtigen Schule. In den wenigsten Fällen läuft es allerdings reibungslos.  Manchmal kommt der Anruf erst, wenn die erste Gehaltsabrechnung ansteht und die Steuernummer fehlt. Dann muss es schnell gehen. Der neue Mitarbeiter benötigt neben Steuer- und Sozialversicherungsnummer ein Bankkonto und entsprechende Versicherungen. Das sind die Dinge, die einen Menschen in unserem Land arbeitsfähig machen – und, ganz wichtig, Voraussetzung für die Erteilung eines Aufenthaltstitels.
Sie sagten, „dann muss es schnell gehen“. Geht es denn schnell?
Stephanie Steen: Nein, vor allem die Menschen, die nicht aus der europäischen Union kommen, stehen bei der Einwanderung in unser Land vor gigantischen Hürden. Die papierischen Anforderungen sind umständlich und damit enorm hoch. Das beginnt schon bei der Beantragung eines Visums im Herkunftsland. Einige deutsche Botschaften im Ausland haben die Bearbeitung von Visa-Verfahren ausgelagert. Die Botschaft in Mexiko beispielsweise hat eine indische Gesellschaft mit der Bearbeitung von Visa-Verfahren beauftragt. Das bedeutet, dass es jetzt noch länger dauert und mehr Geld kostet als zuvor. Dazu kommt: Im Zeitalter der Digitalisierung besteht eine Botschaft im Ausland noch immer auf die Originale aus Papier. Warum können wir nicht mit Verschlüsselungssystemen den Vorgang sicher digitalisieren und damit Tempo in die Sache bringen?
Wir haben doch das Gesetz zur Verbesserung des Onlinezugangs zu Verwaltungsleistungen (OZG), in dem sich Bund und Länder verpflichten, ihren Service bis Ende 2022 auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten. Greift das nicht?
Stephanie Steen: Das ist sicherlich ein gutes Gesetz. Doch der Widerspruch zwischen politischen Absichtserklärungen und behördlicher Realität ist groß. So ist in Deutschland die Digitalisierung im Bereich Zuwanderung leider überhaupt nicht sichtbar. Ebenso fehlt eine Schnittstelle zum Ausland. Digitalisierung sind die Menschen aus ihren Heimatländern ganz anders gewohnt. Die Situation in Deutschland ist für viele eher ernüchternd.
Haben Sie Beispiele?
Stephanie Steen: Beispiele gibt es viele. Wenn das Visum endlich erteilt ist, und die neue Fachkraft da ist, läuft die Bürokratie in Deutschland unglaublich langsam an. So kann man bis heute den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis oft gar nicht im Internet herunterladen, sondern muss sich das Papier auf dem Postweg zuschicken lassen. Zu einem Zeitpunkt, den die Ausländerbehörde bestimmt. Da wird einfach Zeit verloren.
Wie lange dauert es denn, bis ein Aufenthaltstitel für einen Menschen, der wegen eines Jobs nach Deutschland kommt, vorliegt?
Stephanie Steen: Ein Visum wird in der Regel auf ein halbes Jahr zeitlich befristet ausgestellt, das entspricht in vielen deutschen Unternehmen der Probezeit. In dieser Zeit muss die Ausländerbehörde tätig werden. Leider kommt zu den bürokratischen Hürden erschwerend hinzu, dass die meisten Ausländerbehörden bei uns überlastet sind, es gibt auch hier viel zu wenig Personal. Doch wenn die Vergabe des Aufenthaltstitels zu lange dauert, also das Visum abgelaufen ist und noch kein Titel vorliegt, sperren die Banken die Konten für so manche Nationalität; oder eröffnen gar nicht erst. Die Menschen kommen nicht mehr an ihr Gehalt. In Frankfurt hat ein Unternehmen deswegen die zuständige Ausländerbehörde vor dem Verwaltungsgericht verklagt.
Ein fehlender Aufenthaltstitel richtet noch mehr Schaden an. Nach einem halben Jahr in Deutschland muss man bei unseren Behörden einen internationalen Führerschein vorweisen. Den bekommt man aber erst ausgestellt, wenn ein Aufenthaltstitel  vorliegt. Liegt der noch nicht vor, muss das Auto stehen bleiben, der Führerschein aus dem Herkunftsland ist nicht mehr gültig. Für einen Menschen, der im Beruf mobil sein muss, ist das schwierig – auch für den Arbeitgeber.
Kann man den Prozess Ihrer Meinung nach verkürzen?
Stephanie Steen: Ich frage mich, wie es sein kann, dass eine deutsche Ausländerbehörde das in Frage stellt, was eine deutsche Botschaft schon längst genehmigt hat? Denn das Visum wird erteilt auf der Basis der gleichen Dokumente, die von der Ausländerbehörde in Deutschland dann erneut geprüft werden. Die Ausbildung und die Studienabschlüsse sind da bereits übersetzt und anerkannt worden. Auch die Agentur für Arbeit muss im Vorfeld geprüft haben, ob mit dem Bewerber alles in Ordnung ist. Hier arbeiten Behörden doppelt und dreifach. Früher nannte man so etwas Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. An dieser Stelle könnte man das Verfahren meiner Meinung nach deutlich verkürzen.
Bürokratie ist das eine, eine funktionierende Willkommenskultur das andere: Wie ist es darum in Deutschland bestellt?
Stephanie Steen: Da ist ebenfalls noch viel Luft nach oben. Das fängt schon beim Empfang der Menschen in einer Behörde an. Ich wünsche mir mehr Willkommenskultur in unseren Behörden. Kaum einer schafft es, den Gast auf Englisch zu begrüßen. Doch nicht nur bei den Behörden muss sich an dieser Stelle etwas ändern: Nehmen wir noch einmal das Thema Führerschein. Für den internationalen Führerschein muss neben einem Sehtest auch ein Erste-Hilfe-Kursus vorgelegt werden. Doch wo wird ein Erste-Hilfe-Kursus in englischer Sprache angeboten? Für viele Herkunftsländer muss außerdem die theoretische und praktische Prüfung erneut abgelegt werden – ohne ausreichende Deutschkenntnisse gestaltet sich das schwierig. Wer die Notdienstnummer 116117 wählt, sollte ebenfalls Deutsch können. Englisch wird unter dieser Nummer in den seltensten Fällen gesprochen.
Wie ist es denn um Deutschkurse für Zuwanderer bestellt?
Stephanie Steen: Einen Deutschkursus darf belegen, wer ein entsprechendes Schreiben von der Ausländerbehörde vorlegen kann, dass er den Kursus braucht. Das müsste viel flexibler gehandhabt werden. Wichtig wären meiner Meinung nach auch Sprachangebote, die gezielt auf die Bedürfnisse von angeworbenen Fach- und Führungskräften zugeschnitten sind.
Sind Ihnen Rückmeldungen der betroffenen Menschen auf diese Probleme bekannt?
Stephanie Steen: Die bürokratischen Schwierigkeiten bei der Einwanderung in Deutschland sprechen sich natürlich herum. Die ersten sagen bereits: „Wenn die Bürokratie in Deutschland so schleppend funktioniert, gehen wir da nicht hin.“ Deutschland sinkt derzeit in der Gunst Einwanderungswilliger. Wir belegen aktuell in der Expat Insider Studie 2022 des Expat-Netzwerks InterNations nur noch den 42. von insgesamt 52 Plätzen und sind damit im internationalen Vergleich deutlich abgerutscht. Vor drei Jahren rangierte Deutschland noch auf Platz 33. Auf den ersten drei Plätzen finden sich Mexiko, Indonesien und Taiwan.
Was wünschen Sie sich für ein besseres Ankommen in Deutschland?
Stephanie Steen: Ich wünsche mir ein Welcome Center für Mittelhessen als zentrale Anlaufstelle für alle Anliegen rund um die persönliche und berufliche Integration für Menschen, die in unsere Region zuwandern oder schon zugewandert sind. Hier müssen verschiedene Behörden – unter anderem die Ausländerbehörde, die Arbeitsagentur, die Führerscheinstelle oder das Schulamt – mit weiteren Organisationen und der regionalen Wirtschaft zusammenarbeiten. Hier könnte auch eine Jobbörse für diese internationalen Fach- und Führungskräfte und deren Partner angegliedert werden. Denn in einem Welcome Center sollten nicht nur Fach- und Führungskräfte aus dem Ausland bei der Ankunft in der Region unterstützt werden, auch Unternehmen, die eine Fachkraft oder Auszubildende suchen, sollten hier die richtigen Ansprechpartner finden.
Solange wir das noch nicht haben, wünsche ich mir in allen relevanten Behörden – zum Beispiel der Ausländerbehörde oder Zulassungsstelle – einen Extra-Schalter für Relocater. Der müsste nur einen halben Tag in der Woche geöffnet sein. Hier müsste ein Mitarbeiter sitzen, der Englisch sprechen kann und Spaß an der Arbeit mit unterschiedlichen Kulturen hat. In Stadtallendorf schickt die Ausländerbehörde ihre Mitarbeiter durch ein Assessmentcenter, in dem sie zeigen müssen, dass sie gerne mit Menschen unterschiedlicher Couleur arbeiten wollen. Das ist vorbildlich. Auch so etwas könnte ich mir vorstellen. Und ich wünsche mir, dass wir viel offener anderen Kulturen gegenüber werden. Wir Deutschen möchten immer alles reglementieren und nach unseren Vorstellungen gestalten. Da müssen wir offener werden.
Das Interview führte Iris Baar

Relocation – Gezielte Hilfe bei der Integration

Stephanie Steen betreut derzeit 17 Familien aus unterschiedlichen Herkunftsländern in ganz Mittelhessen und darüber hinaus. Darunter sind Paare, Singles, Familien mit und ohne Haustier und auch Menschen kurz vor der Rente. Mit Relocation Service oder Relocator wird ein Dienstleistungsangebot bezeichnet, das sich hauptsächlich an Personen richtet, die aus beruflichen oder privaten Gründen ihr Heimatland für bestimmte oder unbestimmte Dauer verlassen und ins Ausland umziehen. Dabei unterstützen Relocation-Dienstleister diese Personen und ihre Familien, aber auch deren Arbeitgeber im gesamten Prozess des Umzuges.
Zu den Aufgaben eines Relocation Consultants gehören unter anderem die Suche nach einer Wohnung, die Anmeldung beim Einwohnermeldeamt, die Erledigung der Formalitäten bei der Ausländerbehörde und die Anmeldung der Kinder im Kindergarten oder in der Schule. Ein Relocation Consultant informiert seine Klienten auch über deutsche Kulturangebote und Vereine - und hilft so bei der Integration der ganzen Familie.

Auf dem Weg zum Welcome Center: Arbeitskreis Willkommenskultur
IHK legte schon 2014 den Grundstein für „gute und erfolgreiche Zusammenarbeit“


Der Arbeitskreis Willkommenskultur im Regionalmanagement unterstützt mit seinen Produkten ganz konkret mittelhessische Unternehmen beim Werben um Fach- und Führungskräfte und bietet Veranstaltungen für Neubürgerinnen und Neubürger in Mittelhessen an, um sie bei der Integration vor Ort zu unterstützen. Dabei gilt der Arbeitskreis als ein „Musterbeispiel für die gute und erfolgreiche Zusammenarbeit“ von Institutionen der Region, um gemeinsam Mittelhessen voran zu bringen, wie sein Leiter, Christian Bernhard, betont.
Hervorgegangen ist der Arbeitskreis aus einem Projekt der Industrie- und Handelskammer (IHK) Lahn-Dill, bevor er Teil des Regionalmanagements als übergeordnete Plattform wurde. In ihm sind neben den IHKs die Handwerkskammer, die Wirtschaftsförderer der Städte und Landkreise, die Hochschulen, die Agentur für Arbeit sowie Relocation-Experten vertreten, um „Unternehmen mit passenden Angeboten bei der Gewinnung von Fach- und Führungskräften zu unterstützen“. Und das in einer „hervorragenden und sehr kooperativen Zusammenarbeit“, so Christian Bernhard betont.
Zunächst ist der Newcomers Guide Mittelhessen entstanden. Im Herbst 2014 fand als Einladungsveranstaltung für Fach- und Führungskräfte, die neu in die Region Mittelhessen gezogen sind, der erste Newcomers Day statt. Seitdem organisieren die Mitglieder des Arbeitskreises jährlich drei bis vier kleinere Veranstaltungen an verschiedenen Orten in Mittelhessen.
Wenn Ihr Unternehmen mit seinen Neuankömmlingen teilnehmen will, freuen wir uns über Ihre Nachricht.
Ihr IHK-Ansprechpartner:
Christian Bernhard
Tel.: 06441 9448 1700
bernhard@lahndill.ihk.de