Ohne Wirtschaft kein Klimaschutz

"Ja, der Strompreis ist deutlich gestiegen, aber..."

Hessen Wirtschaftsminister Tarek Al Wazir und Umweltministerin Priska Hinz im LDW-Interview zu Energiewende, Standortkillern und Entlastungen für die Wirtschaft
„Ohne Wirtschaft kein Klimaschutz!“ Die IHK Lahn-Dill hat sich unter diesem Motto für die Entwicklung einer klimapolitischen Agenda ausgesprochen. Mit dem Projekt will die Kammer der regionalen Wirtschaft gegenüber Politik und Öffentlichkeit eine Stimme zum Klimawandel geben. Dass die Wirtschaft in unserer Region die Energiewende schon lange mitgestaltet und ihren Beitrag zum Klimaschutz leitet, belegt die jüngste Umfrage des Hessischen Industrie- und Handelskammertags. Doch sie zeigt auch, dass sich heimische Unternehmen weniger Belastungen seitens der Politik im Umweltbereich wünschen. Die LDW hat mit dem hessischen Wirtschaftsminister, Tarek Al Wazir, und der hessischen Umweltministerin, Priska Hinz, über die Situation gesprochen.

Der durchschnittliche Strompreis für Industrie, Gewerbe und Dienstleistungen in Deutschland ist in den vergangenen 20 Jahren um knapp 200 Prozent auf derzeit fast 19 Cent pro Kilowattstunde gestiegen. Mehr als die Hälfte dieses Betrages sind Steuern und Umlagen. Wird die Energiewende zum Standortkiller?
Priska Hinz:
Die Energiewende ist wichtig und ein Erfolgsmodell. Und zwar sowohl für die Gesellschaft als auch für die Industrie. Die Auswirkungen der Klimakrise spüren wir alle immer stärker. Starkregen und Stürme werden immer häufiger, Hitze und Trockenheit nehmen zu. Wir wollen den Klimawandel stoppen und dafür benötigen wir die Energiewende. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien hat dem Wirtschaftswachstum in keiner Weise geschadet, sondern zu diesem beigetragen.
Tarek Al-Wazir:
Das möchte ich unterstreichen: Die Energiewende begann vor zwei Jahrzehnten, und seitdem ist das Bruttoinlandsprodukt um die Hälfte gewachsen, sind alleine in Hessen über 400.000 Arbeitsplätze entstanden, haben ausländische Firmen in erheblichem Maß bei uns investiert. Richtig ist, dass wir kein Billig-Standort sind. Aber dafür bieten wir auch etwas – unter anderem eine im internationalen Vergleich sehr hohe Energiesicherheit. Ja, der Strompreis ist deutlich gestiegen, das ist für viele Unternehmen eine Herausforderung. Aber es sind vor allem die Anlagen aus den Anfangsjahren des EEG, die die Umlage in die Höhe treiben, und die werden in den nächsten Jahren nach und nach aus der Förderung herausfallen. Neue Anlagen brauchen erheblich weniger oder gar keine Förderung mehr, tendenziell wird die EEG-Umlage also wieder sinken. Die Hauptsache ist aber: Nachhaltigkeit ist ein ökonomischer Megatrend, dem sich auf die Dauer kein Unternehmen mehr entziehen kann, wenn es Erfolg haben will.
Mit der CO2-Bepreisung Anfang des Jahres ist eine weitere finanzielle Belastung für Unternehmen dazugekommen. Vor allem in industrie- und exportstarken Regionen, wie dem Kammerbezirk Lahn-Dill, stößt das nicht auf Gegenliebe. Ist vorgesehen, besonders betroffene Unternehmen an anderer Stelle zu entlasten? Wenn ja, an welcher?
Tarek Al-Wazir:
Die Bundesregierung hat zugesagt, die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung für eine Senkung der EEG-Umlage zu verwenden, ab 2024 auch für eine Anhebung der Pendlerpauschale. Bestimmte Industriezweige mit besonders hohem Energiebedarf, die zudem im weltweiten Wettbewerb stehen, sollen entlastet werden. Der CO2-Preis ist ein einfaches, marktwirtschaftliches und darum wirksames Instrument. Ich bin sehr froh, dass endlich der Einstieg geschafft ist. 
Priska Hinz:
Wir wollen bis spätestens 2050 klimaneutral werden. Dafür müssen in allen Bereichen der Gesellschaft und Industrie die Treibhausgasemissionen gesenkt und klimaneutrale Lösungen geschaffen werden. Gerade in den Bereichen Wärme und Verkehr ist dafür noch großes Potential und gleichzeitig der größte Handlungsbedarf. Deshalb ist es richtig, dass der CO2-Preis in diesen Bereichen klimaschädliche Aktivitäten verteuert und Investitionen in klimaverträglichere Technologien und energieeffizientes Wirtschaften anreizt.
Auch die Logistik wird durch die CO2-Abgabe zur Kasse gebeten, mit dem Ziel, den Verkehr von der Straße zu bekommen. Doch fehlen in weiten Teilen von Mittelhessen Alternativen: Plant die Landesregierung, still gelegte Bahnstrecken neu aufzulegen, um den Unternehmen CO2-freie Logistikmöglichkeiten zu bieten?
Tarek Al-Wazir:
 Die Lan desregierung engagiert sich sehr für die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken und hat gemeinsam mit den Verkehrsverbünden ermittelt, welche dafür in Frage kommen. Aufgrund der vom Land initiierten Vorarbeiten sind Vorhaben in die konkretere Planung eingetreten, darunter die Horlofftalbahn (Wölfersheim-Hungen) und die Lumdatalbahn (Lollar-Londorf). Beide sind aber in erster Linie für den Personenverkehr vorgesehen; ob sich auch Perspektiven für den Güterverkehr ergeben, muss sich zeigen. Klar ist aber, dass es nie in jedem Ort einen Schienenanschluss geben wird. Und die Hälfte aller Güter werden im Umkreis von 150 Kilometer transportiert, die bekommen wir nicht auf die Bahn, deshalb müssen wir auch den Straßengüterverkehr klimafreundlicher machen. Auch da ist Hessen mit dabei, etwa mit der Versuchsstrecke für Oberleitungs-Lkw auf der A5. Diese Hybridfahrzeuge fahren dort mit Strom und laden gleichzeitig Batterien. 
Es besteht die Gefahr, dass besonders energieintensive Unternehmen ihre Produktion aus Wettbewerbsgründen ins Ausland verlagern. Das schadet nicht nur Wachstum und Beschäftigung vor Ort, sondern auch dem Klimaschutz. Gibt es ein Konzept für unser Bundesland, Standorte zu sichern? Wie sieht das aus?
Tarek Al-Wazir:
Unser Ziel ist es natürlich, dass die energieintensive Industrie nicht abwandert, weil diese Verlagerungen für den Klimaschutz kontraproduktiv wären. In den vergangenen Jahren konnten wir allerdings keine Flucht von Unternehmen feststellen – denn der Energiepreis ist nur einer von mehreren Faktoren bei Standortentscheidungen. Außerdem sind ja weiterhin Befreiungen für energieintensive Betriebe im internationalen Wettbewerb vorgesehen; da durch die Energiewende der Börsenstrompreis eher gesunken ist, ist für diese Unternehmen in den letzten Jahren der Strom teilweise sogar günstiger geworden. Das Problem ist eher bei denen, die nicht befreit werden, weil sie nicht besonders energieintensiv sind. Aber da, wo die Abgabe greift, wird sie nur allmählich angehoben, so dass den Unternehmen ausreichend Zeit zur Anpassung bleibt. In Hessen unterstützen wir sie dabei, energieeffizienter – und damit wettbewerbsfähiger – zu werden.
Welche Hilfen gibt es von der Landespolitik für die hessischen Unternehmen, die ihren CO2-Abdruck verringern wollen?
Tarek Al-Wazir:
Es ist wichtig, dass wir hier über die reinen Energiekosten hinausblicken, denn Rohstoffe und andere Materialien sind für die meisten Unternehmen ein mindestens ebenso hoher Bilanzposten. In unserem PIUS-Programm – PIUS steht für Produktionsintegrierter Umweltschutz – bieten wir Beratung und finanzielle Förderung für kleine und mittlere Unternehmen, die in ihre Ressourceneffizienz investieren wollen. Da gibt es unglaublich viele Ansätze: Nutzung von Abwärme, Abwasseraufbereitung, Rückgriff auf sekundäre Rohstoffe und vieles mehr. Auch der Innovationskredit Hessen kann dafür beansprucht werden. Der Höchstbetrag liegt immerhin bei 7,5 Mio. Euro.
Priska Hinz:
Wir haben ebenfalls Unternehmen unterstützt, die für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ladesäulen für E-Autos bereitstellen. Darüber hinaus fördert das Land Kommunen bei ihren Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung sowie bei Maßnahmen zur Energieeffizienz. Mit den Fördermitteln werden zum Beispiel öffentliche Gebäude energetisch saniert, kommunale Kläranlagen energieeffizient umgerüstet und Schulen und Kitas begrünt. Auch Pilotvorhaben zur E-Mobilität und der Ausbau der Ladeinfrastruktur werden gefördert. Damit unterstützen wir ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und erzeugen Wertschöpfung in den Regionen. Das kommt natürlich am Ende auch den Unternehmen vor Ort zu Gute.
Die CO2-Abgabe soll Unternehmen zum Umdenken bewegen und Innovationen und Investitionen in Sachen Klimaschutz anregen. Wie soll das in unserer exportorientierten Wirtschaft derzeit funktionieren? Corona drückt auf die Exportzahlen …
Priska Hinz:
Die Corona-Pandemie hält uns alle in Schach und bestimmt die Schlagzeilen. Doch auch die Klimakrise schreitet unvermindert voran und die Klimafolgen werden für uns immer spürbarer. Gerade jetzt sollten wir die Chancen nutzen, damit die Krisenbewältigung mit Umwelt- und Klimaschutz Hand in Hand geht. Dann können wir gestärkt aus der Krise herauskommen. In Hessen haben wir deshalb im Corona-Sondervermögen Mittel für Klima-Investitionen vorgesehen.
Tarek Al-Wazir:
Die meisten Unternehmen bemühen sich ohnehin schon aus eigener Initiative und aus eigenem Interesse um Nachhaltigkeit. Die CO2-Abgabe trägt dazu bei, dass klimafreundliches Wirtschaften einen Kosten- und damit Wettbewerbsvorteil bringt. Sie unterstützt damit die Impulse, die das Land mit dem Neuen Hessenplan gibt.
Statt immer neuer Abgaben – ist es nicht sinnvoller, zuerst die ganzen Subventionen für die fossilen Energieträger wie Kohle oder Gas zu streichen?
Priska Hinz:
Ich stimme zu, dass klimaschädliche Subventionen – von denen es in Deutschland und der EU immer noch viel zu viele gibt – endlich abgeschafft werden müssen. Wenigstens ist jetzt der Kohleausstieg beschlossen worden, wenn auch mit einem viel zu späten Enddatum. Trotzdem sollte es daneben Abgaben auf CO2 geben. Denn CO2-Abgaben entfalten eine Lenkungswirkung.
Tarek Al-Wazir
Unter Klimaschutzgesichtspunkten ist die Steuerfreiheit von Flugbenzin eine indirekte Subvention, allerdings muss es da mindestens einen europaweit einheitlichen Weg geben, wir haben ja nichts gewonnen, wenn dann die Interkontinentalflüge von Zürich, Amsterdam oder Warschau abfliegen. Aber natürlich gilt: Preise müssen die Wahrheit sagen über die Kosten, die tatsächlich für die Gesellschaft insgesamt anfallen. Nur so können sie Knappheit zutreffend anzeigen. Das ist eine zentrale Funktionsbedingung der Marktwirtschaft.
Was tun Sie persönlich, um Ihren CO2-Abdruck gering zu halten?
Tarek Al-Wazir:
Als Minister hat man leider – jedenfalls in normalen Zeiten - einen ziemlich CO2-intensiven Lebensstil, denn man sitzt viel im Auto und manchmal auch im Flugzeug. Ich versuche, die Auswirkungen zu minimieren, innerdeutsch so oft wie möglich die Bahn zu nehmen. Alle Dienstreisen der Landesverwaltung – auch Flüge, soweit sie sich nicht vermeiden lassen – werden übrigens seit vergangenem Jahr mit dem Kauf von Emissionsrechten ausgeglichen. Private Flugreisen kompensiere ich über atmosfair. Ich glaube aber, dass wir in Zukunft viel mehr Anlässe online durchführen werden, denn in den vergangenen Monaten haben wir ja gesehen, dass da viel mehr funktioniert, als wir früher dachten. Das spart nicht nur Zeit, sondern auch CO2. 
Priska Hinz:
Für die Fahrten als Ministerin durch Hessen brauche ich leider einen Dienstwagen. Zuhause fahre ich die kurzen Wege in aller Regel mit dem Fahrrad, für weitere Strecken nutze ich die Bahn. Wir kaufen meistens Bio-Lebensmittel und versuchen regional und saisonal einzukaufen. Und wir haben zuhause eine Photovoltaik-Anlage sowie eine Brauchwasseranlage.