International

Der Markt bleibt spannend

Wie steht es um die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich (VK) und der EU beziehungsweise Deutschland?
Dr. Ulrich Hoppe: Trotz des signifikanten Rückgangs im bilateralen Handel seit dem Brexit-Referendum 2016 ist Deutschland aus britischer Sicht immer noch ein wichtiger Handelspartner – wenn auch nicht der wichtigste. Umgekehrt hat das VK über die vergangenen Jahre aber an Bedeutung für die deutsche Wirtschaft verloren. Nichtsdestotrotz bleibt der britische Markt spannend. Unsere Umfragen zeigen, dass die deutschen Unternehmen, welche in Großbritannien investiert haben, in der überwiegenden Mehrheit mit der Performance ihrer Aktivitäten auf der Insel sehr zufrieden sind.
Regelmäßig ist in den Medien zu lesen, London würde von EU-Regeln und Standards abweichen wollen, etwa bei Datenschutz, Lebensmitteln und Chemie, was deutsche Unternehmen mit Geschäftsbeziehungen ins Vereinigte Königreich verunsichert. Wie vertragstreu sind die Briten?  
Die Briten sind selbstverständlich vertragstreu. Aber einer der Gründe für den Austritt aus der EU war, Souveränität zurückzugewinnen. Dies bedingt natürlich, dass man sich eigene Regeln schaffen möchte, welche man für effizienter und besser geeignet für die britische Wirtschaft hält.
Wie sich der regulative Rahmen zukünftig konkret ausgestaltet, bleibt abzuwarten. Wirtschaftliche Zwänge sorgen sicherlich in einigen Bereichen dafür, dass sich britische Regularien weiter parallel zur EU entwickeln werden. Nichtsdestotrotz werden häufig kostenintensive zusätzliche Registrierungen für den britischen Markt erforderlich, wie man bereits am Beispiel des UK Reach Systems sehen kann. Ob die Datenschutzregelungen langfristig gegenseitig Anerkennung finden, ist auch ein Bereich, den Unternehmen auf jeden Fall im Auge behalten sollten.
Wie wirkt sich der Brexit nach Ihren Erfahrungen auf die Struktur der Lieferketten aus?
Lieferketten werden simplifiziert gestaltet, da es sich aufgrund der administrativen Kosten in vielen Fällen nicht mehr lohnt, das VK so stark wie bisher in komplexe, global vernetzte Lieferketten zu integrieren. Wir sehen deshalb in Einzelfällen, dass deutsche Unternehmen Teile ihrer Produktion, die für den britischen Markt bestimmt sind, nach Großbritannien verlegen, damit sie näher am Kunden sind und mögliche Lieferprobleme vermeiden. Gleiches gilt umgekehrt für einzelne britische Unternehmen, die aus demselben Grund Teile ihrer Produktion in die EU verlegen.
Welche Schritte und Übergangsfristen im Austrittsprozess müssen deutsche Unternehmen 2022 auf dem Schirm haben?  
Zwei wesentliche Fristen will ich herausgreifen. Zum einen sind ab diesem Jahr die vollständigen Zollabwicklungsvorschriften bei der Einfuhr von Waren in Großbritannien zur Anwendung gekommen. Zum anderen läuft in den meisten Fällen die Gültigkeit des CE-Kennzeichens zum 1. Januar 2023 aus und wird durch die UKCA-Kennzeichnung ersetzt werden müssen. Natürlich gibt es noch viele andere Fristen für einzelne Segmente der Wirtschaft. Deswegen sollte sich jedes Unternehmen individuell rechtzeitig mit möglichen Veränderungen vertraut machen.
Wie könnte es die europäische Gemeinschaft schaffen, dem VK einen Weg zurück in die EU zu ebnen?
So ein Szenario halte ich für Träumerei. Die Briten hatten immer ein eher distanzierteres Verhältnis zur EU und sahen die Mitgliedschaft mehr als ein wirtschaftliches und weniger als ein politisches Projekt an. Mit der erwarteten stärkeren politischen Integration Europas entfernt sich die EU noch weiter von den Briten. Deshalb sehe ich auch mittel- und langfristig keinen Wiedereintritt der Briten. Das heißt aber nicht, dass wir auf lange Sicht in vielen Fällen nicht wieder enger kooperieren.
Das Interview führte Andreas Nordlohne, IHK Kassel-Marburg