Mittelhessen

Die Internationale Schule wächst - Das Konzept greift

„Le’s all go in a circle!“ Wenn Amira Kataw zum Morgenkreis ruft, geht es ganz schnell: Spielzeug wird aus der Hand gelegt, die Tupperbox mit Apfelspalten zur Seite geschoben. Denn jetzt startet der Englischunterricht in der Eingangsstufe der bilingualen Schule in Wetzlar. „Good morning Luca, good morning Luise, good morning Ella, good morning Tia…..“ Die sieben Kinder in Amira Kataws Klassenraum begrüßen sich auf Englisch, zählen durch, sprechen dann über den Wochentag, den Monat und das Jahr. Sie kennen schon die Jahreszeiten und können über das Wetter reden. „Today it is windy.“ Im Nachbarraum sitzen ihre zehn Klassenkameraden und lernen Deutsch bei Klassenlehrerin Helena Rinn. Auch die 21 Kinder der jahrgangsübergreifenden Klasse 1 und 2 sind auf verschiedene Räume aufgeteilt, fünf Fachlehrer und noch einmal so viele Praktikanten sind für beide Jahrgänge da. Denn Lernen in kleinen Gruppen ist an dieser Schule Programm.
Neben Deutsch und Englisch werden die Kernfächer Mathematik und Sachkunde komplett zweisprachig unterrichtet, die anderen Grundschulfächer Musik und Religion, Sport sowie Kunst finden je nach Lehrkraft in einer der beiden Sprachen statt. Der Unterricht findet dreimal die Woche bis 15 Uhr statt, zweimal die Woche – mittwochs und freitags – wird bis 12 Uhr unterrichtet, mit der Möglichkeit, mittwochs an einer Nachmittagsbetreuung teilzunehmen. Monatlich werden pro Kind 390 Euro fällig, zusammengesetzt aus 330 Euro Schulgeld und 60 Euro Betreuungsgeld.
Vor einem Jahr begann das Projekt in Wetzlar auf dem Gelände der Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Schule (FWR) im Gewerbepark Spilburg. Der neue bilinguale Schulzweig gilt als Startsignal für den Aufbau einer Internationalen Schule für Mittelhessen und wird bis heute vom Arbeitskreis „Internationale Schule Mittelhessen“ (ISMH) der IHK Lahn-Dill begleitet. Derzeit sieht das Konzept vor, dass die Schule bis zur sechsten Klasse aufgebaut wird, ab Klasse sieben wird mit dem Gymnasium Steinmühle in Marburg kooperiert.
Für Andrea Kraft, Referentin für Fachkräftenachwuchs bei der IHK Lahn-Dill und Leiterin des Arbeitskreises ISMH, ist klar: „Der Aufbau solch einer Schule ist wichtig für Mittelhessen. Denn das Bildungsangebot einer Region gehört zu den weichen Standortfaktoren und entscheidet nicht zuletzt darüber, ob eine Fach- oder Führungskraft aus dem Ausland für ein Unternehmen in unserer Region gewonnen werden kann.“
Wie Shishupal Singh. Der Controller und Finanzexperte ist vergangenes Jahr mit seiner Familie aus Indien gekommen, um einen Job bei der Dillenburger Firma Linde + Wiemann anzufangen. „Wegen der Schule sind wir nach Wetzlar gezogen“, sagt der Vater zweier Kinder. Ohne die Schule hätte er sich im Rhein-Main-Gebiet umgeguckt, so Singh im Interview mit der LDW.

Wie haben Sie von dem bilingualen Schulzweig in Wetzlar erfahren?
Über den Arbeitskreis Internationale Schule der Industrie- und Handelskammer Lahn-Dill und über das Regionalmanagement.
Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach eine internationale Schule für eine erfolgreiche Wirtschaftsregion? 
Sehr wichtig. In einer erfolgreichen Wirtschaftsregion arbeiten immer auch Menschen aus verschiedenen Ländern der Welt. Sie bringen ihre Familien mit und brauchen für ihre Kinder internationale Schulen.
Was hätten Sie gemacht, wenn es hier keine Möglichkeit gegeben hätte, ihr Kind bilingual zu beschulen?
Hätte es diese Schule nicht gegeben, hätten wir uns im Rhein-Main-Gebiet in der Nähe von Frankfurt ein Zuhause gesucht. Wir sind nur wegen der Schule nach Wetzlar gezogen.
Gibt es weitere Gründe, die für diese Region sprechen?
Ich finde die Atmosphäre ziemlich ruhig und friedlich, was mir geholfen hat, meine Familie zu überzeugen, mitzukommen. Denn mein Aufenthalt hier wird länger dauern.
Wie viele Kinder haben Sie? Werden Sie alle Ihre Kinder bilingual beschulen lassen?
Ich habe zwei Kinder, und das zweite Kind wird auch die bilinguale Schule in Wetzlar besuchen.
Inzwischen geht seine Tochter ins zweite Schuljahr, sein zweites Kind wird, wenn es alt genug ist, folgen.
Die Kinder finden die englische Schule toll. Sie lernen spielerisch, singen auf Englisch, sehen kleine Filme auf Englisch – und werden irgendwann auf Englisch träumen. Viele Kinder haben Deutsch als Muttersprache gelernt, doch ist es kein Problem für sie, mit ihren russisch, türkisch, arabisch, englisch oder indisch sprechenden kleinen Freunden in Kontakt zu treten. „Meine Tochter fühlt sich wohl hier“, sagt beispielsweise Serdar Bern. Seine Tochter Liyan geht seit vergangenem Jahr auf die „Bili“, wie die Schule in Kurzform genannt wird.
„Nicht nur Schüler und Eltern finden die ,Bili‘ gut, auch die Menschen, denen wir begegnen, geben uns positive Rückmeldung“, sagt Georg Pflüger, Schulleiter an der genossenschaftlich organisierten Raiffeisen-Schule. Mit dem bilingualen Grundschulzweig, der sich an einheimische Familien mit Affinität zum internationalen Schulsystem und Fachkräfte aus dem Ausland richte, können Kinder möglichst früh und ganz natürlich in die neue Sprache „eintauchen“. Der Experte spricht vom „immersiven Lernen“: „Man weiß, dass Kinder im Alter bis acht Jahre Sprache intuitiv erlernen können“, so Pflüger. Diesen Vorteil nutze man an der Schule.
„Wenn man mehrsprachig aufwächst, hat man so viel mehr Möglichkeiten in der Zukunft“, sagt Klassenlehrerin Amina Kataw. Die 28-Jährige ist selbst mehrsprachig aufgewachsen: Geboren in den USA als Tochter einer Amerikanerin und eines Jordaniers, der zur Minderheit der Tscherkessen gehört, spricht sie fließend englisch, arabisch und deutsch. Mehrere Jahre lebte sie in Jordanien, inzwischen ist Deutschland ihr Zuhause und der bilinguale Schulzweig mehr als ein Job: eine Herzensangelegenheit.
Das merken auch die Besucher vom Arbeitskreis ISMH, die sich an diesem Vormittag in den Klassenräumen der „Bili“ eingefunden haben. Zum Beispiel Stephanie Steen: Sie betreibt einen Relocation-Service in Wetzlar und hilft hochqualifizierten Managern und Fachkräften aus den Metropolen der Welt, die wichtigen Strukturen der Region kennenzulernen – von der Schule, über Einkaufs- und kulturelle Angebote, Arztbesuche bis hin zu Behördengängen. Neben dem Arbeitskreis ISMH ist Steen seit 2008 auch Mitglied im – ebenfalls unter Leitung der IHK stehenden - Arbeitskreis Willkommenskultur (s. Geschichte in dieser Ausgabe). Sie findet die Schule „klasse“, sagt aber auch: „Wir müssen in Mittelhessen noch viel mehr für die weichen Standortfaktoren tun.“ Der Aufbau der Internationalen Schule sei aber schon ein wichtiger und großer Schritt.
„Die Schule ist ein tolles Instrument, um unseren Wirtschaftsstandort Mittelhessen noch wettbewerbsfähiger zu machen“, zeigt sich Rainer Dietrich von der Wirtschaftsförderung der Stadt Wetzlar begeistert. Auch er gehört seit der ersten Stunde dem Arbeitskreis ISMH an. „Die Schule wächst, das zeigt, dass das Konzept greift.“
„Wir haben sogar mehr Anfragen, als wir bedienen können“, bestätigt Schulleiter Georg Pflüger. Die Auswahl falle jedes Mal schwer: Kleine „Bewerber“ werden zum Schnupperunterricht eingeladen, die Lehrkräfte entscheiden anschließend, wie gut ein Kind in die Gruppe passt. „Absagen sind immer schmerzvoll, wir würden gerne jeden nehmen“, sagt der Schulleiter, doch: „Wir wollen langsam und gesund wachsen.“
Text: Iris Baar, IHK Lahn-Dill
LahnDill Wirtschaft | Ausgabe September 2020