Corona und die Fahrradbranche

Auf dem Rad kam die Freiheit zurück

Bei ihnen läuft es wie geschmiert: Fahrradgeschäfte gehören zu den Gewinnern der Corona-Krise. Vor allem E-Bikes sind der Renner. Das hat mehrere Gründe. Die Mitarbeiter der IHK Lahn-Dill haben sich bei den Händlern im Kammerbezirk umgehört – mit überraschenden Statements.

„Fahrräder quasi aus den Händen gerissen“ (Thorsten Heinz, Heinz Bikes)
„In der rund 25-jährigen Geschichte meines Unternehmens habe ich so etwas noch nicht erlebt.“ Für Thorsten Heinz, Inhaber von Heinz Bikes in der Innenstadt von Wetzlar, wird das Jahr 2020 – wie bei seinen Kollegen auch - in die Firmengeschichte eingehen. Seinen Umsatz konnte er deutlich steigern: „90 Prozent der verkauften Räder in diesem Jahr sind E-Bikes gewesen“, so Heinz. Bereits während des Lockdowns seien per Telefon viele Anfragen eingegangen, nach der Wiedereröffnung im April habe er nur mit Terminvereinbarungen arbeiten können, um auf die sehr hohe Nachfrage reagieren zu können. „Mit sind die Fahrräder quasi aus den Händen gerissen worden“, erzählt Thorsten Heinz.

„Den Boom hat wirklich keiner erwarten können“ (Thomas Langner, Delta Bike Sports)
„Den Boom dieses Jahr hat wirklich keiner erwarten können“, pflichtet Thomas Langner von Delta Bike Sports GmbH aus Wettenberg ihm bei. „Als der Lockdown kam, waren wir erst verunsichert und haben zügig Online-Beratungen angeboten. Als wir wussten, dass wir wieder öffnen können, haben wir uns entschieden, sämtliche Radberatungen nur noch mit Terminen zu machen.“ Als die Türen dann endlich wieder geöffnet waren, sei der Andrang „nicht von dieser Welt“ gewesen, so Langner weiter. „Zeitweise hatten wir drei Wochen Vorlauf auf einen Beratungstermin, sieben Wochen Wartezeit auf ein lagerndes Fahrrad und über 650 Kunden die auf ihr Rad gewartet haben. Im Laufe der letzten Monate haben wir unsere Öffnungszeiten eingeschränkt, neues Personal eingestellt und Sonderschichten an unserem normal freien Mittwoch eingelegt.“

„Der Stellenwert des Fahrradfahrens ist gestiegen“ (Christian Karl Sarges, Zweirad Sarges)
So wie ihm ging es auch anderen Fahrradhändlern. „Als der Lockdown kam, hatten wir erst Sorge, wie es weitergeht und ob jetzt alles lahmgelegt wird“, erinnert sich Christian Karl Sarges von Zweirad Sarges in Wetzlar. Doch die Kundendienste und die Werkstatt liefen weiter. „Die Umsätze sind zwar erst einmal eingebrochen, aber auch mit dem halben Umsatz kann man leben“, so der Geschäftsführer. Er führt das gleichnamige Geschäft in Wetzlar bereits in der zweiten Generation – sein Vater hatte 1949 mit Motorrädern und Vespas angefangen. „Der Hauptumsatzbringer ist inzwischen das E-Bike“, so Sarges weiter. Als die Geschäfte wieder öffnen durften, standen die Kunden – wie überall vor den Radläden – auch bei Sarges Schlange: „Viele hatten ihre Fernreisen storniert, und das Urlaubsgeld war übrig“, so Sarges. Dazu kam, dass das E-Bike bei vielen Menschen „wohl schon lange auf der Wunschliste stand“. Christian Karl Sarges: „Es wurde auch erstaunlich viel bar bezahlt.“ Doch nicht nur Corona sei der Grund für den Boom vor allem bei den E-Bikes: „Das Umweltbewusstsein bei den Menschen verändert sich, der Stellenwert des Fahrradfahrens ist gestiegen“, so Sarges weiter. Der Markt für E-Bikes expandiere seit Jahren. „Die Anschaffung tut vielleicht ein bisschen weh, aber dann sind alle Kunden froh, und keiner bereut die Entscheidung.“ Im Gegenteil, die Menschen seien inzwischen bereit, mehr Geld für ein E-Bike auszugeben, als noch vor ein paar Jahren: „Früher lag die Schmerzgrenze bei 2000 Euro, heute sind 4000 Euro kein Hemmnis mehr.“ Zu 90 Prozent konnte er die Wünsche seiner Kunden bedienen, 10 Prozent der Räder mussten bestellt werden, so der Inhaber. Für das kommende Jahr ist er zuversichtlich, seine Bestellungen für die Saison 2021 sind bereits raus. „In der Fahrradbranche wird weiterhin Vollgas gegeben. Wir investieren jetzt in ein richtig großes Lager, der Baukran steht schon.“

„Der Markt war noch nie gedeckt“ (Marcel Müller, Loco Motion Sports)
Mehr Ausstellungsfläche – daran arbeitet auch der Geschäftsführer von Loco Motion Sports aus Dautphetal-Wolfgruben, Marcel Müller: „Wir bauen diesen Herbst um, wir wollen unser E-Bike-Sortiment um 25 Prozent aufstocken, da brauchen wir Platz.“ Dabei hat Müller sein Geschäft vor einigen Jahren erst deutlich vergrößert – nach einem Umzug aus einer 180 Quadratmeter großen Halle in Mornshausen 2012 in eine 650 Quadratmeter große Halle in Wolfgruben. „Ich habe das Geschäft 2005 übernommen und seitdem jedes Jahr eine Steigerung zu verzeichnen“, so Müller. Einen großen Anstieg habe es dann vor sechs, sieben Jahren durch die Einführung der E-Bikes gegeben – und jetzt, in der Corona-Zeit. Das war allerdings nicht abzusehen, so der Geschäftsführer. „Als der Shutdown kam, wusste erst einmal keiner, wie es weitergeht“, so Müller. Sein Lager war voll – wie auch die Lager seiner Kollegen – und der Verkauf ruhte. Nur die Werkstatt durfte öffnen. „Wir haben die Zeit genutzt und telefonisch sowie per E-Mail beraten“, erzählt Müller weiter. Nach Absprache mit dem Ordnungsamt konnte dann auch draußen vor der Tür beraten und Probe gefahren werden. „Danach haben wir den Kunden per Mail ein Angebot zugeschickt.“ Auch Loco Motion Sports hat ein deutliches Umsatzplus zu verzeichnen. Zum 1. September hat Müller einen weiteren Mitarbeiter eingestellt und sein Team auf 15 Kollegen aufgestockt. „Auch das nächste Jahr wird gut werden“, ist er sicher. „Wir hatten noch nie ein schlechteres Jahr als das Vorjahr, und der Markt war auch noch nie gedeckt.“

„Plötzlich ist jeder Tag wie ein Samstag gewesen“ (Dirk Keßler, Bikes’n Boards)
„Der Markt ist noch lange nicht gesättigt“, sagt auch Dirk Keßler, Filialleiter von Bikes’n Boards in Wetzlar. Das Geschäft hat vor ziemlich genau einem Jahr erst am Standort in der Hermannsteiner Straße geöffnet und einen enormen Start hingelegt. Dabei habe es katastrophal angefangen: „Im März mussten wir schließen, genau in dem Monat, in dem in der Fahrradbranche viel passiert.“ Doch als die Geschäfte wieder öffnen durften, ging der Umsatz „sofort durch die Decke“. „Plötzlich ist jeder Tag wie ein Samstag gewesen“, erzählt Dirk Keßler. „Die Kunden haben im Hof Schlange gestanden, die Nachfrage war größer als das Angebot“, so der Filialleiter von BnB in Wetzlar weiter.  Die Umsatzeinbrüche im März und April konnten schnell wieder wettgemacht werden.  Mehr noch: „Wir haben 30 Prozent mehr Umsatz gemacht als unsere Planzahlen waren“, so Keßler. Corona habe der gut laufenden Fahrradbranche einen weiteren, entscheidenden Schub verpasst, ist er sicher. „Viele Menschen haben sich eingesperrt gefühlt, auf dem Rad kam die Freiheit zurück“, analysiert Keßler. Viele hätten ihre alten Räder aus dem Keller geholt und nach spätestens der ersten Tour gemerkt, dass sich die Investition in ein neues Fahrrad lohnen könnte. „Geld war da, viele hatten ihre Fernreisen storniert, der Trend gib hin zum Urlaub in Deutschland – auch per Rad.“ Auch bei Bikes’n Boards in Wetzlar war das E-Bike mit 90 Prozent am meisten nachgefragt, „doch auch bei den normalen Rädern ging die Kurve deutlich nach oben“, so Keßler. Wir hätten mehr Räder verkaufen können, wenn sie da gewesen wären.“ Händeringend hat Bikes’n Boards Mitarbeiter gesucht. „Wir haben viel Überstunden gemacht, um die Nachfrage abarbeiten zu können.“ Für 2021 ist er genauso optimistisch wie seine Kollegen: „Covid 19 wird uns länger begleiten, als uns lieb ist. Die Zeiten sorgloser Fernreisen sind erstmal vorbei“, schätzt Keßler. Stattdessen steige das Interesse an Urlaub im eigenen Land – auch und vermehrt auf dem Rad.