Das Thema

Arbeiten in der Zukunft

Unser Arbeitsmarkt steht vor großen Disruptionen. Bis 2030 könnten laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rund fünf Millionen Arbeitskräfte in Deutschland fehlen. Andererseits können Künstliche Intelligenz oder Robotics schon in den kommenden Jahren zunehmend Routinetätigkeiten übernehmen und Millionen Jobs ersetzen. Neue Berufe werden entstehen, von Arbeitnehmern wird eine höhere Spezialisierung gefordert, das Zeitalter des „Lebenslangen Lernens“ bricht an. Und stößt auf eine Generation, die mit neuen Ansprüchen in die Arbeitswelt eintritt – mit Forderungen nach mehr Flexibilität, mehr Gestaltungsspielräumen und weniger Arbeitszeit.
Professor Matthias Groß von der Technischen Hochschule Mittelhessen forscht zur Zukunft der Arbeit, zur Künstlichen Intelligenz im Personalmanagement, zu agilen Arbeits- und Organisationsformen oder auch dem Innovationsverhalten von Führungskräften. Im Interview mit der LahnDill Wirtschaft erklärt der Wissenschaftler, auf was wir uns in Zukunft einstellen müssen.

Herr Professor Groß, fast alle reden vom Fachkräftemangel, die nachfolgende Generation von der Vier-Tage-Woche bei möglichst vollem Lohnausgleich. Wie passt das zusammen?
Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Entwicklungen nicht zusammenzupassen, da Unternehmen gegebenenfalls zusätzliche Ressourcen mobilisieren müssen, um Produktivität und Kundenzufriedenheit aufrechtzuerhalten. Beispielsweise erwarten Kunden von Dienstleistungsunternehmen, dass sie rund um die Uhr betreut werden, so dass eventuell zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden müssen. Zudem bedeutet die Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich eine Lohnerhöhung von 10 bis 20 Prozent, die für viele Unternehmen kaum zu stemmen ist.
Auf den zweiten Blick bietet das Angebot einer Vier-Tage-Woche den Unternehmen aber auch die Möglichkeit, vor allem junge Fachkräfte zu gewinnen und wichtige Mitarbeiter zu binden. Darüber hinaus zeigen Daten einer isländischen Langzeitstudie, die in Unternehmen verschiedener Branchen durchgeführt wurde, dass die Arbeitszeitverkürzung zu einer Vier-Tage-Woche nicht zwangsweise mit einer Verschlechterung der Unternehmensleistung einhergeht. In vielen Fällen konnte sogar eine Steigerung der Produktivität festgestellt werden.
Eine in Großbritannien durchgeführte Pilotstudie legt zudem nahe, dass die Beschäftigten bei einer Vier-Tage-Woche nicht nur produktiver, sondern auch ausgeglichener und gesünder sind. Dementsprechend wollen 56 von 61 Unternehmen, die an der sechsmonatigen Studie teilgenommen haben, vorerst dabei bleiben. Es ist davon auszugehen, dass die verkürzte Arbeitswoche bei nahezu vollem Lohnausgleich in Zukunft ein Muss des modernen Employer Brandings sein wird.
Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Fitnessangebote im Unternehmen, kostenlose Bahncard: Die ersten Unternehmen überbieten sich schon mit Angeboten bei der Fachkräftegewinnung. Ist das zielführend? Brauchen wir nicht eher eine gemeinsame Strategie? Und: Welche Angebote zur Arbeitnehmergewinnung sind nützlich, welche nicht?
In Zeiten des Arbeitnehmermarktes liegt es nahe, dass Unternehmen - im Sinne des Survival of the Fittest - innovative Konzepte zur Fachkräftegewinnung entwickeln, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Ein Patentrezept zur Auswahl der richtigen Angebote gibt es jedoch nicht. Vielmehr liegt der Schlüssel zum Erfolg, ähnlich wie beim personalisierten Marketing, in der systematischen Analyse der Bedürfnisse der Zielgruppe. So kann beispielsweise das Angebot einer privaten Unfallversicherung für leidenschaftliche (Heim-)Handwerker interessanter sein als ein Vielfliegerbonus.
Aus Sicht der kognitiven Wahltheorie ist daher ein so genanntes Cafeteria-System erfolgversprechend, das den Arbeitnehmern – zum Beispiel alle zwei Jahre – die individuelle Auswahl von Zusatzleistungen aus einem breiten Angebotsspektrum ermöglicht. Auf diese Weise können Unternehmen auch den Lebensphasen-abhängigen Bedürfnisveränderungen ihrer Beschäftigten gerecht werden. Grundsätzlich gilt, dass diejenigen Gehaltsextras besonders interessant sind, bei denen alles das, was der Arbeitgeber für die Maßnahmen ausgibt, auch bei den Beschäftigten ankommt.
Durch den Einsatz von KI und Robotics können Routinetätigkeiten in Zukunft ersetzt werden. Heißt das, wer nicht aufpasst, wer sich nicht spezialisiert oder „lebenslang lernt“, bleibt auf der Strecke?
Nachdem im 20. Jahrhundert vor allem manuelle Routinetätigkeiten in Industriebetrieben automatisiert wurden, steht im 21. Jahrhundert die Digitalisierung kognitiver Routineprozesse im Mittelpunkt. Betroffen sind all jene Tätigkeiten, bei denen Informationen gesammelt, aufbereitet und in strukturierter Form weitergegeben werden müssen. Auch wenn in den meisten Fällen keine kompletten Berufsbilder ersetzt werden, zeichnen sich deutliche Veränderungen in den Kompetenzprofilen ab.
Im Vergleich zu früher eingeführten Technologien, beispielsweise dem Einsatz von Fertigungsrobotern in der Produktion, wird KI Berufe betreffen, die häufig ein hohes Bildungsniveau erfordern, wie beispielsweise Programmierer, Mathematiker, Buchhalter, Dolmetscher, Schriftsteller und Journalisten. Der Erhalt der individuellen Beschäftigungsfähigkeit stellt daher eine der Kernkompetenzen der Zukunft dar. Dazu gehört nicht nur die Bereitschaft, sich ständig fachlich weiterzubilden, sondern vor allem auch die Fähigkeit, die Input- und Outputschnittstellen mit KI im eigenen Beruf gestalten zu können.
Was bedeutet das für den Einsatz von generativer KI wie beispielsweise ChatGPT?
Der Einsatz von generativer KI ist beispielsweise nur dann erfolgversprechend, wenn man in der Lage ist, den Chatbot durch die richtigen Prompts zu bedienen und den Output auf Korrektheit zu überprüfen. Vor diesem Hintergrund schafft KI sogar neue Jobs wie den Prompt Engineer, also jemanden, der anderen hilft, die richtigen Fragen im ChatGPT zu stellen. Bei aller Euphorie in der akademischen Arbeitsmarktdebatte darf jedoch nicht vergessen werden, dass es in einigen Ausbildungsberufen einen weiter zunehmenden Fachkräftemangel gibt, der durch KI kaum gemildert werden kann. Davon betroffen sind zum Beispiel viele handwerkliche Berufe. Die Arbeitsmarktpolitik muss daher die Attraktivität des Ausbildungssystems gerade jetzt weiter stärken.
Die rasante technologische Entwicklung macht die Arbeit in Zukunft langfristig weniger planbar. Wird sich das auf Anstellungsverhältnisse auswirken? Wird es weniger Festanstellungen geben?
Technologische Entwicklungen, dynamische Kundenbedürfnisse, die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen und veränderte Präferenzen der Beschäftigten erfordern bereits heute flexible Arbeits- und Organisationsformen. Vor diesem Hintergrund muss das Normalarbeitsverhältnis der 80er und 90er Jahre, also unbefristete, sozial abgesicherte und tariflich entlohnte Vollzeit- oder vollzeitnahe Beschäftigung, auf den Prüfstand gestellt werden. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden viele Unternehmen in Zukunft verstärkt auf atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Teilzeit, befristete Beschäftigung oder Leiharbeit setzen.
Ein Beispiel ist das Technologieunternehmen IBM, das seit über zehn Jahren von einer kleinen Kernbelegschaft geführt wird. Spezialisten und Fachkräfte werden dagegen über eine eigens eingerichtete Internetplattform rekrutiert. Dort präsentieren sich Freiberufler aus aller Welt und werden nach bestimmten, von IBM entwickelten Qualitätskriterien zertifiziert. Mit diesem Arbeitsmodell (Gig Economy) ist IBM konsequenter Vorreiter einer Entwicklung, die sich in Deutschland bereits seit längerem abzeichnet, auch wenn sich dieser Wandel aufgrund der starken Position der Gewerkschaften im internationalen Vergleich langsamer vollzieht.
Welche Vorteile bieten befristete und flexible Beschäftigungsverhältnisse den Arbeitnehmern?
Trotz des zunächst negativ besetzten Begriffs „atypisch“ können sich auch auf Seiten der Beschäftigten Vorteile ergeben, wenn es beispielsweise um die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder die Nachfrage nach internationaler Mobilität geht. Aus Motivationssicht ist es jedoch wichtig, dass Unternehmen atypisch nicht mit prekär verwechseln dürfen. HR wird daher in Zukunft eine noch wichtigere Rolle bei der Information über die Möglichkeiten der Arbeits- und Vertragsgestaltung spielen.
Gibt es Länder, die bei diesen disruptiven Veränderungen in der Arbeitswelt schon weiter sind als wir? Und wie können wir von den Erfahrungen profitieren?
Laut einer groß angelegten Studie mit über 12.000 Expatriates aus dem Jahr 2021 gehören insbesondere englischsprachige Länder wie die USA, Australien, Kanada oder Neuseeland zu den Vorreitern beim Thema New Work. Folgende Aspekte werden von den Studienteilnehmern besonders geschätzt: wahrgenommene Autonomie, Ausleben der eigenen Kreativität, Entwicklung der Persönlichkeit und Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Aber auch einige europäische Länder, darunter die Niederlande, Finnland und Estland, finden sich unter den Top 10 – Deutschland belegte Platz 35.
Was machen diese Länder anders?
Ein genauerer Blick auf die Ergebnisse lässt einen Zusammenhang zwischen der modernen Arbeitskultur und dem Bildungssystem vermuten. Viele der genannten Vorreiterländer erzielen regelmäßig gute PISA-Ergebnisse, was im Wesentlichen auf drei – auch für die zukünftige Arbeitswelt wesentliche - Faktoren zurückzuführen ist: Erstens der Fokus auf kollaboratives Lernen, zweitens der konsequente Einsatz neuer Technologien beziehungsweise Lernmethoden und drittens eine geringe Autorität in der Lehrer-Schüler-Interaktion. Ein wesentlicher Unterschied zum deutschen Bildungssystem besteht zudem in der hohen Kompetenzorientierung. Während in Deutschland ein starker Fokus auf vorgefertigte Bildungspläne gelegt wird, die sich zum Teil an sehr veralteten Berufsbildern orientieren, können Lehrer in Finnland beispielsweise Lerninhalte sehr frei gestalten.
Interessant ist auch, dass die Schulpflicht in Finnland nicht so streng ausgelegt wird wie in Deutschland, sondern dass es stattdessen eine Lernpflicht gibt. Dadurch lernen die Kinder sehr früh, Bildungs- und Selbstverantwortung zu übernehmen und unabhängig von Ort bzw. Zeit zu „arbeiten“. Aus Sicht der Wirtschaft wäre daher eine stärkere Ausrichtung des deutschen Bildungssystems an den Konturen der zukünftigen Arbeitswelt – Stichwort: Digitalkompetenz – wünschenswert.
Wie werden die Belegschaften der Zukunft aussehen? Was sollten Arbeitgeber bei Einstellungen jetzt schon beachten?
Die Belegschaft der Zukunft wird bunter, vielfältiger und virtueller. Neben der zunehmenden Interkulturalität und Altersheterogenität verändert sich auch die Mensch-Maschine-Interaktion. Menschen werden Maschinen zukünftig nicht nur bedienen, sondern eng mit ihnen zusammenarbeiten. Was in der industriellen Fertigung bereits als völlig normal gilt, zum Beispiel der Einsatz von Roboteranzügen, wird auch verstärkt in die Büroarbeit Einzug halten. So experimentieren bereits heute erste Unternehmen mit dem Einsatz humanoider Roboter als Teamassistenten. Die kollaborierenden Roboter übernehmen Routinetätigkeiten und protokollieren unter anderem Besprechungen, vereinbaren Folgetermine, überwachen Zeitpläne oder dienen – mit Schnittstellen zu generativen KIs – als interne Enzyklopädie in Meetings.
Entsprechend sollten Arbeitgeber bei der Einstellung neuer Mitarbeiter auf eine hohe Technologieaffinität achten. Diese Technology Readiness kann beispielsweise durch einen Persönlichkeitstest ermittelt werden. Zudem sollte vor dem Hintergrund zunehmender internationaler und virtueller Teamarbeit über Unternehmensgrenzen hinweg bei der Personalauswahl auf ein ausgeprägtes interkulturelles Mindset geachtet werden.
Welche Chancen sehen Sie in den aufgezeigten Entwicklungen für den Standort Deutschland? Wie können Arbeitgeber bei den anstehenden tiefgreifenden Veränderungen und der rasanten technologischen Entwicklung zukunftsfähige Arbeitswelten gestalten?
Der Standort Deutschland hat beste Chancen, zu einem Vorreiter in Sachen New Work zu werden. Ausgestattet mit einer relativ hohen Arbeitsmoral und wichtigem Fertigungs-Know-How, einer soliden Infrastruktur – auch wenn es zum guten Ton gehört, über die DB oder auf die A45 zu schimpfen – sowie einer starken Sozialpartnerschaft können die Defizite in der digitalen Infrastruktur mittelfristig überwunden werden. Ausschlaggebend ist dabei allerdings die Bereitschaft, sich von Relikten beziehungsweise Besitzständen des Industriezeitalters zu verabschieden und Veränderungen willkommen zu heißen. Dazu bedarf es eines kollektiven MUTanfalls in Politik, Wirtschaft, Bildungssystem und Verwaltung.
Den Unternehmen ist zu empfehlen, ihre Beschäftigten und Interessenvertretungen von Anfang an in die Planungen zur Gestaltung zukünftiger Arbeitswelten einzubeziehen und ihre Bedürfnisse ernst zu nehmen. Eine vielversprechende Methode hierfür ist die so genannte Zukunftswerkstatt, ein professionell moderiertes Workshop-Format für große Gruppen, das unter dem Motto steht: „Betroffene zu Beteiligten machen“. Schließlich geht es nicht darum, Best-Practice-Beispiele um jeden Preis zu imitieren, sondern eine unternehmensspezifische Next-Practice-Arbeitswelt zu entwickeln.                                      
Das Interview führte Iris Baar

LahnDill Wirtschaft 9/10 2023