Klimaexperte Professor Manfred Fischedick spricht bei der IHK Lahn-Dill

"Energie- und Klimapolitik ist immer auch Standort- und Wirtschaftspolitik!"

Die gute Nachricht gibt‘s zuerst: Eine klimaverträgliche Transformation des Wirtschaftssystems ist möglich, aber sie erfordert steuerndes staatliches Handeln im Sinne einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft. Anders ausgedrückt: Die Industrie kann beim Thema Klimaschutz punkten, benötigt aber vernünftige Rahmenbedingungen für Wirtschaft und Wettbewerb seitens der Politik. Mit diesen Worten stieß der Klimaexperte und Wissenschaftliche Geschäftsführer des Wuppertal Instituts, Professor Manfred Fischedick, bei seinem virtuellen Vortrag vor Mitgliedern der IHK Lahn-Dill auf offene Ohren. Die heimische Wirtschaft hatte den Experten, der auch im Weltklimarat mitarbeitet, eingeladen, um über die Chancen für die Wirtschaft bei der anstehenden Transformation im Hinblick auf den Klimawandel zu sprechen.
Wie wichtig das Thema grade für die Unternehmen im Kammerbezirk Lahn-Dill sei, machte IHK-Präsident Eberhard Flammer in seiner Begrüßung des Gastes deutlich: So weise der Bezirk die höchste Industriedichte in Hessen auf, gelte als „Werkbank“ des Landes „mit einem ganz hohen Anteil (35 Prozent) am Bruttoinlandsprodukt“. Die verarbeitende Industrie sei hier besonders „wach und angehalten“ die anstehenden Änderungen im Rahmen des Klimawandels zu gestalten, so der Präsident weiter.
„Nie hat es so schnelle Temperaturanstiege
 gegeben wie in den vergangenen Jahren“
Der Klimawandel lasse sich nicht leugnen, der Temperaturanstieg der vergangenen Jahre und der Kohlendioxydausstoß hängen zusammen, erklärte Professor Fischedick noch einmal die Faktenlage. So sei von 1850 bis heute ein weltweiter Temperaturanstieg um 1,1 bis 1,2 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau zu beobachten. Diese Erderwärmung habe sich proportional zum Anstieg der Kohlendioxyd-Konzentration in der Erdatmosphäre entwickelt. Zwar habe es schon immer einen Wechsel zwischen Warm- und Kaltzeiten gegeben, doch „nie hat es so schnelle Temperaturanstiege gegeben wie in den vergangenen Jahren“. Diese Erderwärmung sei längst in Deutschland angekommen, als Beispiele nannte Fischedick den Extremsommer 2018 und den Juli 2019, der als heißester Monat seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen gelte.  
„Wenn wir nicht aufpassen, laufen wir
in eine Eigendynamik hinein,
das heißt, so genannte Kippmomente
werden den Klimawandel beschleunigen.“
„Wir müssen uns an Wetterextreme gewöhnen“, so der Experte. Zwar habe auf der Pariser Klimakonferenz von 2015 die Staatengemeinschaft zum ersten Mal eine gemeinsame Verpflichtungserklärung abgegeben, die Klimaerwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen – allerdings mit einer Fokussierung auf freiwillige Maßnahmen. Professor Manfred Fischedick warnte eindringlich vor den Folgen, sollte diese Grenze verpasst werden. Der Permafrostboden werde auftauen, die Verluste des Permafrostes wiederum führten zur Freisetzung von Methan und Kohlendioxyd in der Atmosphäre. Der Treibhauseffekt setze ein, Arktischer Ozean, Grönland und die Antarktis würden an Eismasse verlieren. „Wenn wir nicht aufpassen, laufen wir in eine Eigendynamik hinein, das heißt, so genannte Kippmomente werden den Klimawandel beschleunigen.“
Für Manfred Fischedick ist die Zielerreichung von 1,5 Grad Celsius noch möglich, „aber nur, wenn wir in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit, mit nie dagewesenen Aktionen gegensteuern“, so der Klimaforscher. Der Handlungsdruck würde tagtäglich ansteigen. Doch wie ist zu handeln?
Durch die Corona-Krise habe sich in diesem Jahr schon viel verändert, so Professor Fischedick. „Was wir schon wissen: Der signifikante Einbruch der Industrieproduktion hat den Energiebedarf und die Kohlendioxydemissionen reduziert.“ Der ungewollte Nebeneffekt der Krise seien sinkende Umweltbeeinträchtigungen und weniger Treibhausgasemissionen. Durch die COVID 19 Pandemie seien die weltweiten Emissionen in einem bisher nie dagewesenen Umfang gesunken.
Das habe vor allen in der Änderung der Verhaltensmuster der Menschen gelegen. Eingeschränkte Mobilität, viel Homeoffice und geändertes Reiseverhalten hätten maßgeblich zu den Auswirkungen der Krise beigetragen. Doch, gibt Professor Fischedick zu bedenken: „Wie nachhaltig – oder dauerhaft – ist diese Veränderung?“ Ebenso die Situation in der Wirtschaft: Diese sei in der Corona-Krise an ihre Grenzen gestoßen, habe von außen – durch den politisch verordneten Lockdown und den Zusammenbruch globaler Logistikketten - Handeln aufgezwungen bekommen. „Doch“, fragt Fischedick, „was bedeutet das für die zukünftige Arbeit des Wirtschaftens?“ Er appelliert deshalb, „aus der Corona-Krise für die Klimakrise zu lernen“. Die Reaktionen auf die Pandemie zeigten, „dass unsere Gesellschaft anpassungsfähig ist. Das macht Mut für die notwendigen politischen Weichenstellungen beim industriellen Klimaschutz!“
„Klimapolitik ist unumgänglich zur Krisenabwehr,
ist aber auch eine Strategie,
um Investitionen zu lenken und anzuziehen
 und Arbeitsplätze zu schaffen.“
Eine Chance sieht Fischedick im „European Green Deal“, der für ihn einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union bedeutet: „Klimapolitik wird als eine Strategie gesehen, um Investitionen zu lenken und anzuziehen und Arbeitsplätze zu schaffen.“ Dabei ginge es nicht nur um Klimaschutz, sondern auch um Versorgungssicherheit, Weiterentwicklung einer Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Mobilität sowie Ernährungswirtschaft und eine sozialverträgliche Gestaltung (Leave no one behind) im Rahmen eines umfassenden Transformationsprozesses. Um die zentralen Klimaschutzziele dieses „Green Deal“ auf europäischer Ebene verbindlich zu machen, soll noch im Dezember dieses Jahr im EU-Rat abgestimmt werden.
Auch der Blick auf Deutschland mache Mut: Im Dezember 2019 hat die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm festgeschrieben und ein Klimaschutzgesetz verabschiedet, der Klimaschutz spiele „eine wichtige Rolle im deutschen Konjunkturprogramm“. Viele Industrieunternehmen hätten sich bereits klare Ziele gesetzt, beispielsweise will Bosch bis Ende dieses Jahres Treibhausgas (THG)-Neutralität erreicht haben, auch energieintensive Unternehmen wie die Stahlindustrie hätten mittlerweile einen klaren Emissionsminderungsfahrplan, so Professor Fischedick.
„Für innovative Regionen bietet
der Transformationsdruck eine große Chance“
Vor allem für innovative Regionen biete „der Transformationsdruck eine große Chance, sich neu zu erfinden, zukunftsfest aufzustellen und neue Märkte zu erschließen“. Für Unternehmen der Umwelttechnik sagt Fischedick überdurchschnittliche Wachstumsraten voraus. Große Marktchancen sieht er – bei konsequenter Umsetzung der Klimaschutzziele – im Bereich der Erneuerbaren Energien und der damit verbundenen Dienstleistungen.
Doch wolle er „nicht verhehlen, dass mit dem Klimawandel auch Risiken für die deutsche Wirtschaft verbunden sind“: Branchen wie die Land- und Forstwirtschaft, die Wasserwirtschaft oder die Logistikbranche, aber auch die Tourismusbranche oder Raffinerien mit ihren Küstenstandorten seien besonders vom Klimawandel und den damit einhergehenden Wetterextremen betroffen. „Nicht zu vergessen die Versicherungs- und Rückversicherungsbranche, die die Schäden bezahlen müssen.“
Deutschland muss sich global positionieren,
um sich auf den wachsenden
Klimaschutztechnologiemärkten durchzusetzen
Klimaschutzziele seien global in Bewegung, so wolle China bis 2060 THG-neutral sein, Japan und Südkorea bereits 2050 und die Vereinigten Staaten mit einem neuen Präsidenten Joe Biden bis 2050, die Stromerzeugung aber schon bis 2035 vollständig auf die Basis klimaneutraler Energien umstellen. Es werde Zeit für Deutschland, sich global zu positionieren, denn, so Fischedick, das Rennen sei offen da mit ambitionierteren Klimaschutzzielen auch immer eine gesteigerte Innovationsdynamik einhergehe. Die Frage laute: „Wer hat die besten Chancen, sich auf den wachsenden globalen Klimaschutztechnologiemärkten durchzusetzen?“ Für Fischedick ist klar: „Energie- und Klimapolitik ist immer auch Standort- und Wirtschaftspolitik!“ In der Industrie gebe es die Bereitschaft zu handeln. Die Politik müsse dafür nun die Rahmenbedingungen schaffen. Diese Liste sei lang. So müsse Forschung verstärkt gefördert werden, um Innovationen anzureizen, Emissionshandel vorangetrieben und Energieabgaben angepasst werden, um Märkte und Preissignale umzugestalten. Zudem müssten Anreize für Investitionen in ganz neue Technologien gesetzt und grüne Produktmärkte geschaffen werden. Auch müssten erneuerbare Energien gefördert werden, um die Versorgung mit konkurrenzfähiger grüner Energie und den Aufbau notwendiger Infrastrukturen zu gewährleisten. Er ist sich sicher, dass Konjunkturprogramme einen wesentlichen Beitrag als Impulsgeber dazu leisten können, die notwendigen Investitionen zu ermöglichen. Sie müssten aber mit geeigneten Maßnahmen konsequent fortgesetzt werden, sonst drohen die Impulse zu verpuffen.
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