Interview

Zwei Jahre Pandemie - Eine Bilanz zur Corona-Politik

Lockdowns, Kontaktbeschränkungen und Corona-Maßnahmen: Seit zwei Jahren beherrscht die Pandemie unser tägliches Leben. Im Interview zieht IHK-Hauptgeschäftsführer Claudius Marx Bilanz und bewertet für uns aus Sicht der Wirtschaft das Krisenmanagement der Politik.

Zwei Jahre Corona-Pandemie: Wie bewerten Sie das Krisenmanagement von Bundes- und Landesregierung? 
Insgesamt haben Bund und Land nach unserem Dafürhalten gute Arbeit geleistet. Sie hat sich in der Pandemie, die für uns alle die erste war, agil und tatkräftig gezeigt, die Ministerien waren für uns stets ansprechbar, wenn es um die Belange und Sorgen der Wirtschaft ging. Das verdient Anerkennung und deswegen wollen wir auch nicht mit dem Vergrößerungsglas auf Fehler schauen, die es selbstverständlich in den vergangenen zwei Jahren gab. 
Entscheidend ist letztlich die Perspektive: Ex post - also rückschauend - wissen immer viele, was wann hätte getan werden müssen, damit es anders gekommen wäre. Ex ante - also vorausschauend - haben wir dagegen alle oft genug mit der Stange im Nebel gearbeitet. Das gilt für Mediziner, Epidemiologen, Juristen, Politiker und uns selbst gleichermaßen. Wer sich das eingesteht, wird vieles positiver sehen, als es auf den ersten Blick erscheint. 
Zusammenfassend: Die Politik hat stets mit den richtigen Motiven gehandelt - die Gesundheit der Menschen, allen voran der vulnerablen Gruppen, zu schützen, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren und dabei die Wirtschaft, das Bildungssystem und den Alltag der Menschen nicht mehr als notwendig einzuschränken. Dass das nicht immer gelungen ist, und dass den Leidtragenden, den Betroffenen nicht immer die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wurde, gehört eben auch zur Wahrheit.   
Positiv zu bewerten sind die differenzierten Corona-Hilfen, Bundes- und Landesprogramme, deren schnelle und unbürokratische Ausreichung, in die auch wir eingebunden waren, und vor allem das Kurzarbeitergeld. Diese Hilfen waren für die Unternehmen existenziell wichtig, haben uns vor einer Pleitewelle bewahrt und den Arbeitsmarkt erfolgreich stabil gehalten. Auch wenn sie teils verzögert eintrafen, waren und sind die Unternehmen dankbar für diese Unterstützungsangebote. 
Gelitten haben die Betriebe unter den Corona-Maßnahmen mir ihrer hohen Regelungsdichte, unter der mitunter absurden Regelungskomplexität und unter ihrer Änderungsrate. Wo kaum mehr klar war, was gerade galt, kam auch die Kundenfrequenz, die jeweils rechtlich noch möglich gewesen wäre, zum erliegen. Das gilt insbesondere für die grenzüberschreitende Konsumnachfrage. Und wo einzelne Branchen völlig vom Geschäftsverkehr abgeschnitten sind und andere unter strengen 2G-Regelungen leiden, während sich im Bereich des täglichen Bedarfes viele hundert Kunden - geimpfte wie ungeimpfte - auf engem Raum begegnen, fragen sich nicht nur die Betroffenen, ob das epidemiologisch noch Sinn macht.   

Aus Sicht von Handel und Industrie: Welche politischen Entscheidungen stießen bislang auf Kritik und Unverständnis?
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie werden je nach Branche und Betroffenheit unterschiedlich bewertet. Die Einzelhändler, die Gastronomen und die vielen Dienstleistungsunternehmen, die auf den direkten Kundenkontakt angewiesen sind, blicken verständlicherweise sehr viel kritischer auf die Maßnahmen, als die Industrie, die mit strengen Hygienevorschriften ihren Betriebsablauf selbst sichern konnte und kann.   
Für die Unternehmen im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Tourismus und in der Veranstaltungsbranche wirkt sich jede neue Corona-Verordnung auf den Geschäftsbetrieb, den Umsatz und die Kundenfrequenz aus. Dass bei schwer nachvollziehbaren Maßnahmen Kritik laut wurde, überrascht nicht. Diese Branchen leisten einen besonderen Beitrag bei der Bewältigung der Pandemie; nicht immer wurde deutlich, dass hier ein Sonderopfer erbracht wurde und bis heute wird. Klar muss deshalb sein, dass Unternehmerinnen und Unternehmer, die durch die geltenden Corona-Vorschriften ihren Geschäftsbetrieb nicht oder nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten können, entsprechende Hilfen zügig erhalten und dass das seiner Natur nach kein Almosen ist, keine "Hilfe", sondern eine Entschädigung für ein Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit, auf die Anspruch besteht. Das sollte auch im "Wording" der Hilfsmaßnahmen zum Ausdruck kommen. 
Auf Seiten der Unternehmen treffen wir grundsätzlich weniger auf Kritik an der Notwendigkeit der Maßnahmen als vielmehr daran, dass vieles zu lange dauert, zu spät erkannt oder umgesetzt wird. Das gilt insbesondere für das zweite Jahr der Pandemie. Dass das Virus im Sommer wenig, dafür im Winter um so mehr Schaden stiftet, konnte im Herbst/Winter 2021/2022 nicht mehr überraschen. Die Aufhebung der nationalen Notlage und die Ankündigung von Lockerungen wirkte da kontraindiziert, die nachfolgenden Maßnahmen nicht mehr proaktiv, sondern der tatsächlichen Entwicklung nachlaufend. 
Unverständnis gibt es auch für die föderale Uneinigkeit: Über alle Branchen hinweg stören sich die Unternehmen daran, dass sich die Bundesländer regelmäßig nicht auf einheitliche Regelungen verständigen können. Zu den Herausforderungen, die schon der grenzüberschreitende Wirtschaftsverkehr mit unseren Nachbarländern mit sich bringt, kommen so ohne Not weitere Differenzierungen im Inland. Mit diesem Flickenteppich gehen regelmäßig Chaos und Unsicherheiten einher. 

Hat die Wirtschaft fehlende Planungssicherheit bemängelt. Ist das Thema vom Tisch? 
Im Gegenteil, das Thema Planungssicherheit wird uns durch diese Pandemie - und darüber hinaus - begleiten. Tatsächlich kann es eine vollständige Planungssicherheit nicht geben, weil wir nicht wissen, wie sich das Virus verhalten wird, ob und wann neue Mutationen auftreten, wie sie sich verhalten und ausbreiten usw. Von dieser Unsicherheit sind wieder die kundennahen Branchen besonders betroffen. Sie wissen nicht, wann sie wieder zu ihrem normalen Geschäftsbetrieb zurückkehren können und für wie lange. 
Daran können wir wenig ändern. Ärgerlich ist es aber, wenn Planungssicherheit aufgrund mangelnder Kommunikation leidet. Und helfen würde es den Unternehmen, wenn wir mehr Verständnis dafür bekämen, dass ein Unternehmen nicht "an und aus geschaltet werden kann wie das Licht". Da müssen etwa in der Gastronomie leicht verderbliche Lebensmittel beschafft und gelagert werden, Personal muss in ausreichender Stärke zur Stelle sein, Lokale müssen geheizt und Küchen vorbereitet werden - all dies lässt sich vielleicht noch über Nacht stoppen (wohin dann aber mit den Lebensmitteln?), nicht aber von jetzt auf nachher wieder hochfahren. Je kurzfristiger die Kurswechsel, desto höher der Schaden. Wenn etwa von heute auf morgen verkündet wird, dass der Genesenenstatus nur noch für drei, statt sechs Monate gültig sei, ist das wenig wirtschaftsfreundlich. Nach zwei Jahren Pandemie sollten wir koordinierter miteinander umgehen. 
Unter fehlender Planungssicherheit leiden auch die Industrie und alle Unternehmen, die Rohstoffe, Vorprodukte oder Waren aus dem Ausland beziehen. Sie kämpfen nach wie vor mit unzuverlässigen Lieferketten und Versorgungsengpässen. Jede Störung zieht ein Vielzahl von Konsequenzen an anderer Stelle nach sich. Hier wird mit einer vollständigen Erholung erst weiterer Zukunft zu rechnen sein. 

Was wünschen Sie sich von der Politik mit Blick auf das weitere Krisenmanagement? 
Wir erwarten von der Landesregierung, dass sie weiterhin alle Branchen im Blick behält und hoffen auf eine vorausschauende Politik, basierend auf den gesammelten Erfahrungen und Erkenntnissen. Nach zwei Jahren Pandemie können Lockdowns und Teilschließungen keine Lösungen mehr sein. Eine gewisse Krankheitslast müssen wir im Interesse aller betroffenen Bereiche, nicht nur der Wirtschaft, hinnehmen. Sie so gering wie möglich zu halten, verlangt eine Konzentration auf die Impfkampagne, mit oder ohne Impfpflicht.   
Darüber hinaus hat die Pandemie offengelegt, was in unserem Land besser werden muss. Die Glasfaser- und Mobilfunkversorgung, die Digitalisierung der Schulen, der allgemeinen Verwaltung und des Gesundheitswesens sind Aufgaben, die nicht länger auf die lange Bank geschoben werden dürfen. Es ist blamabel, wenn mancherorts noch mit den schon sprichwörtlichen Faxgeräten gearbeitet wird, während anderswo zu künstlicher Intelligenz, Robotik und Quantencomputern geforscht wird. Wenn nach zwei Jahren Pandemie noch immer verlässliche Daten fehlen, weil über das Wochenende keine Erfassung möglich scheint, sind Zweifel angebracht, ob dieser Nachhofbedarf mit der notwendigen Verve angegangen wird.