Wie die Innenstadt der Zukunft aussieht

Prof. Dr. Gesa Ziemer, Direktorin des City Science Labs an der HafenCity Universität Hamburg, über dringend nötige Zusammenarbeit, multifunktionale Nutzungen und die Potenziale peripherer Zentren.
Frau Prof. Ziemer, viele deutsche Innenstädte stehen unter Druck. Seit Jahrzehnten wird über Leerstand, teure Gewerbemieten, austauschbare Angebote und Konkurrenz durch Onlinehandel diskutiert – hat sich denn überhaupt nichts getan?
Mehrere Dinge haben die Situation sogar noch verschärft. Einerseits hat die Corona-Pandemie dem Onlinehandel weiteren Auftrieb gegeben. Wir sind noch virtuoser beim online Einkaufen geworden und gehen noch weniger in die Innenstädte als vorher. Zum Zweiten hat sich die Wohnungssituation in den Städten weiter verschärft. Es gibt einfach zu wenig Wohnungen und die, die es gibt, sind zu teuer. Deshalb müssen wir in der Stadtentwicklung jetzt stärker über Umbau nachdenken und nicht mehr so viel über Neubau. Denn an vielen Orten können wir kaum neu bauen und weiter verdichten, weil schon längst alles zugebaut ist. Weil die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens mehr geworden sind, benötigen wir sehr viel weniger Büroflächen als früher. In den Innenstädten wollen wir einen Mix aus Wohnen, Arbeiten und Shopping. Das muss beim Thema Umbau unser Fokus sein.
Neben Wohnen, Arbeiten und Shopping gibt es ja oft den Wunsch nach Kultur, Gastronomie, Natur. Sie forschen u. a. zur digitalen Stadt und zu öffentlichen Räumen. Gibt es eine Formel zum „richtigen Mix“, der eine verwaiste Innenstadt wieder zum Leben erweckt?
Ganz so ist es nicht. Je nach Stadt wäre diese Formel sicher etwas unterschiedlich. Grundsätzlich glaube ich schon, dass zum Beispiel lokale Geschäfte eine Einkaufsstraße interessanter machen. Das Angebot muss sich schon von dem, was wir rund um die Uhr online shoppen können, unterscheiden. Sowohl in Bezug auf die Waren als auch in der Art, wie sie dargeboten werden. Und mit interessanten kreativen Angeboten bspw. in der Gastronomie und Kultur ergänzt werden. Dazu kommt der dritte verstärkende Fakt, der Innenstädte in den letzten Jahren unattraktiver gemacht hat. Neben der Pandemie und der Wohnungsnot ist das der fortschreitende Klimawandel. In den zentralen Quartieren gibt es mit viel Glas, Stahl und Beton tendenziell viele Hitzeinseln. Unsere Städte sind einst für das Auto ausgerichtet worden und nicht am Menschen. Das ist heute natürlich überholt. In Wien gibt es ein interessantes Projekt der Entsiegelung, dort reißt die Stadt Böden auf und legt kleine Gärten an. Die ganze Stadt ist mittlerweile voller grüner Inseln. Das sieht nicht nur schön aus, sondern ist auch gut für Biodiversität und Klima – und behindert weder Mobilität noch Gewerbetreibende. Ich war dort und muss sagen: Die grünen Flächen und Beete werten den öffentlichen Raum sofort auf, man hält sich jetzt lieber dort auf. Es gibt Schatten, Plätze zum Verweilen, frische Luft. Ein gutes Beispiel dafür, wie man eine Innenstadt schon durch kleine Veränderungen lebenswerter macht und damit dafür sorgt, dass sich Menschen dort gerne länger aufhalten.
Ob Entsiegelung oder der Umbau von Kaufhäusern zu Wohnraum – manches ist vielleicht nicht kurzfristig zu ändern. Zudem stehen mit den Ver­wal­tun­gen, der Bau- und Kreativwirtschaft, dem Einzelhandel u. a. unterschiedliche Akteur*innen in der Verantwortung. Wie kann der Umbau einer Innenstadt pragmatisch und effizient angegangen werden?
Es ist oft nicht so einfach, das stimmt. Bei der Innenstadtentwicklung müssen viele Stakeholder an einen Tisch gesetzt werden. Große und kleine Unternehmen, Vermietende, die Stadt, Kulturschaffende usw. Das ist je nach Größe und Konstellation eine große Herausforderung. Aber: Letztendlich verfolgen alle dasselbe Ziel: eine Aufwertung der Innenstadt. Und die Zusammenarbeit zwischen privaten und städtischen Akteuren ist dort so wichtig wie in keinem anderen Stadtteil. Das macht es gleichzeitig besonders spannend, weil die privaten Akteure, bspw. alteingesessene Familien, denen ja oft die Gebäude gehören, natürlich längst wissen, dass sie etwas tun und mit der Stadt kooperieren müssen, wenn sie die Innenstadt wieder attraktiv machen und ihre Gebäude vermieten wollen. Die Verwaltungen und politischen Akteure müssen langfristige Themen wie Mobilität, Wohnen und Infrastruktur angehen. Auch wenn die Ziele nicht alle kurzfristig erreicht werden können. Beide Seiten profitieren gegenseitig voneinander. Die Zusammenarbeit funktioniert nach meiner Beobachtung bisher gut, wenn es um temporäre Nutzungen geht, um Leerstand attraktiv zu überbrücken: Pop-up-Stores, Food-Labs und ähnliches. Spannend finde ich auch multifunktionale Nutzungen, zum Beispiel, wenn eine Volkshochschule oder ein Yogastudio ihren Unterricht nach Geschäftsschluss in einem Sportwarengeschäft anbieten. Oder Performancegruppen in Galerien auftreten. Davon haben alle etwas, denn das Publikum wird an Orte und in Geschäfte geführt, die sie sonst eventuell nie betreten hätten. Das kann Interesse wecken und dazu führen, dass diese Menschen als Kundinnen und Kunden wiederkommen. Da wünsche ich mir vom Handel mehr Mut und mehr Ideen zur Bespielung von Räumen, damit diese nicht allein als Verkaufsareale, sondern als öffentlicher Raum wahrgenommen werden. Dafür ist es wichtig, den Blick zu weiten, zu gucken, wer ist denn hier in meiner Nachbarschaft und was könnten wir vielleicht zusammen auf die Beine stellen? Groß- und Kleinstädte sollten solche Runden Tische mit den unterschiedlichen Akteuren fest etablieren, um gleichzeitig kurz- und langfristige Lösungen anzugehen.
Braucht es dafür jemanden, die oder der den Hut aufhat, also bspw. unabhängige Innenstadt-Manager*innen?
Damit haben Städte wie Hamburg sehr gute Erfahrungen gemacht. Dort gibt es seit ein paar Jahren eine Innenstadt-Koordinatorin, die für die Entwicklung von Konzepten unter anderem auch mit den Hochschulen zusammenarbeitet. Oft übernehmen Industrie- und Handelskammern diese Aufgabe, auch das ist eine gute Lösung. Es ist auf jeden Fall wichtig, dass jemand die Fäden in der Hand hält und den Überblick behält. Vor der Pandemie gab es kaum kooperative Strukturen für das Thema. Seither erkennen immer mehr Gemeinden das Problem und wollen es aktiv angehen. Die Alternative sähe ja auch düster aus. Unser City Science Lab an der HafenCity Universität Hamburg stellt dafür relevante Daten zusammen, etwa zu Be­völ­ke­rungs­entwicklung und Demografie. Man sollte ein Innenstadt-Konzept strukturiert und auf Basis von belastbaren Daten entwickeln. Wir bieten auch spezielle Software an, beispielsweise für Flächenmanagement und andere Stadtentwicklungsthemen. Das funktioniert für Groß- genauso wie für Kleinstädte und den ländlichen Raum. Seit der Pandemie sinkt der Bevölkerungszuwachs in den Großstädten etwas, gleichzeitig steigt sie proportional in den Kleinstädten. Das liegt vor allem an den etwas günstigeren Mieten. Kleinstädte werden attraktiver, vor allem die peripheren Zentren – also Orte, die nah an Großstädten liegen und keine autonomen Städte sein müssen, sondern in ihrer Funktion beinahe Vororte sind. Dazu würde ich Winsen/Luhe genauso zählen wie Buchholz/N., Pinneberg oder Norderstedt. Immer wichtig ist eine gute Verkehrsanbindung, vor allem für Pendler. Wenn diese peripheren Zentren gezielt weiterentwickelt werden, ist das auch gut für die benachbarten Großstädte, da diese oft schon jetzt mit dem Verkehr überfordert sind. Denn wenn die Innenstädte der peripheren Zentren selbst attraktiv genug sind, fahren weniger Menschen zum Einkaufen und für kulturelle Ereignisse in die Stadt und verstopfen die Straßen.
Das Interview führte Anne Klesse.
IHKLW-Podcast “Zentren mit Zukunft”

Leere Schaufenster, sinkende Besucherzahlen, wachsende Onlinekonkurrenz: Wie können Stadtzentren – auch im ländlichen Raum – wieder Orte der Begegnung, des Einkaufens und des Erlebens werden?

Worauf es ankommt, darüber spricht Andreas Kirschenmann, Präsident unserer IHK Lüneburg-Wolfsburg (IHKLW), mit Prof. Dr. Gesa Ziemer, Direktorin des City Science Labs an der HafenCity Universität Hamburg, und Knud Hansen, Präsident der IHK zu Kiel sowie Geschäftsführer und Inhaber von Intersport Knudsen, in Folge 5 des IHKLW-Podcasts Moin Wirtschaft. Unter dem Titel „Zentren mit Zukunft“ diskutieren sie, wie Städte Erlebnisräume schaffen, wie Einzelhändler mit der Onlinekonkurrenz Schritt halten können – und warum die Innenstadt der Zukunft weit mehr sein muss als eine Shoppingmeile.
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