Gras in der Pappe und Öl vom Acker nebenan

Einmal in der Woche riecht es in den Produktionshallen der Firma Lünewell GmbH nach Heu. Dann wird dort Wellpappe aus Graspapier gefertigt. Nicht zu 100 Prozent natürlich, aber 30 Prozent des Rohpapiers für die spätere Wellpappe bestehen aus Gras. Das Schwesterunternehmen Cartoflex GmbH verarbeitet das erzeugte Material zu Verpackungen für Handel und Industrie. Und der Grasanteil macht das Produkt nicht nur umweltfreundlicher, sondern sorgt auch für neue Absatzmärkte.
Seit Matthias Hebrok, geschäftsführender Gesellschafter beider Firmen, auf der letzten Verpackungsfachmesse vor der Corona-Pandemie vom neuen Graspapier gehört hatte, ließ ihn das Thema nicht mehr los. Damals hatte noch niemand versucht, aus dem neu für die Branche entdeckten Rohstoff nicht bloß Papier, sondern auch Wellpappe herzustellen. Hebrok erkundigte sich, wo in der Nähe seines Standortes er überhaupt Graspapier beziehen kann – und fand eine Papierfabrik in Tornesch nordwestlich von Hamburg.
„Dann stoppten wir an einem Tag die Maschinen, wechselten das Papier im Einzug und probierten es einfach aus“, erzählt der innovationsfreudige Geschäftsführer. „Es dauerte ein paar Stunden, dann roch hier alles nach Heu.“
Greencor ist geschützte Marke
Doch nicht nur das. Der Versuch glückte. Ein neues Produkt war geschaffen. Hebrok erfand den Namen GreenCor, ließ die Marke schützen und ging an den Markt. Der passende Werbespruch dazu lautet: „Jetzt geben wir richtig Gras.“
Ecke eines Kartons aus Wellpappe mit der Aufschrift
Bei der Lünewell-Entwicklung GreenCor bestehen 30 Prozent des Rohpapiers für die Wellpappe aus Gras. © Christian Lohfink
Was an Graspapier nachhaltig ist, fasst Cartoflex auf seiner Homepage zusammen: Gras wächst schneller nach als Holz. Außerdem stammt das verwendete Gras ausschließlich von regionalen Ausgleichsflächen, die extensiv bewirtschaftet und nur zweimal im Jahr gemäht werden. Als Futtermittel wäre es durch seine Länge und die starke Verholzung nicht geeignet. Die Produktion verbraucht weniger Wasser und weniger Energie, die Transportwerge sind kurz und reduzieren dadurch den Kohlenstoffdioxid-Ausstoß.
Im Jahr 2021 wurden in Lüneburg 1.700 Tonnen Graspapier verarbeitet. Im Zusammenspiel mit der Papierfabrik versucht Hebrok nun, das Produkt weiter zu optimieren. Noch liegt der Anteil der Graswellpappe im Vergleich zur gesamten Produktionsmenge bloß im einstelligen Prozentbereich. Aber, so Hebrok: „Das darf gerne mehr werden!“
Die Gras-Wellpappe sorgt für weniger Co2-Ausstoß
Die Gras-Wellpappe schont nicht nur die Umwelt, sondern die neue Verpackungslösung beschert dem seit 1978 bestehenden Familienbetrieb auch zusätzliche Kunden aus neuen, anderen Branchen, die ebenfalls Wert auf Nachhaltigkeit legen. Das zeigen auch die Zahlen: Nach den ersten zwölf Monate hat die Gras-Wellpappe eine Million Euro Umsatz generiert – und zwar zusätzlich zum übrigen Umsatz. „Das ist viel“, sagt Hebrok. Zwar habe die Corona-Krise vieles verändert. Aber: „Wir reiten mit diesem Produkt auf einer Welle, die nicht nur hip ist, sondern wirklich Sinn ergibt.“ 
Die Nachhaltigkeits-Welle wird auch in anderen Unternehmen Innovationen auslösen. Davon ist der Wirtschaftsprüfer und IHKLW-Vizepräsident Dr. Jan-Henning Weilep überzeugt. „Durch die erhöhte Sensibilität für dieses Thema auf der Nachfrageseite werden die Unternehmen letztlich gezwungen sein, die Nachhaltigkeit ihrer Wertschöpfungskette zu optimieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben“, sagt der Diplom-Kaufmann und Rechtsanwalt. „Auf diese Weise werden Innovationen belohnt, sodass sich auch die Forschung für neuartige Wege betriebswirtschaftlich lohnen wird.“
Nachhaltigkeit ist bedeutender Faktor für die Zukunftsfähigkeit
Auch in der Unternehmensbewertung spiele Nachhaltigkeit zunehmend eine Rolle, zum Beispiel bei der Prognose der finanziellen Überschüsse. Weilep: „Das Thema hat also zunehmend Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen.“
MartinKnoop-KristofStolze-SönkeLodemann
Die Landwirte Martin Knoop, Kristof Stolze und Sönke Lodemann (v.l.) betreiben in Klein Hehlen bei Celle eine eigene Ölmühle für kaltgepresstes Öl. © Roman Thomas
Ihre Zukunft wollen Sönke Lodemannn, Martin Knoop und Kristof Stolze möglichst unabhängig vom Großmarkt gestalten: Die drei Landwirte betreiben in Klein Hehlen bei Celle eine eigene Ölmühle für kaltgepresstes Öl. Die Pflanzen wachsen auf den eigenen Ackerflächen. Daher gibt es auch kein Olivenöl im Portfolio, so weit verbreitet und allseits beliebt es auch sein mag – sondern Hanföl, Distelöl, Rapsöl, Sonnenblumenöl und Leinöl.
Die drei Unternehmer verkaufen nur, was von der Aussaat bis zur Flasche in ihren eigenen Händen liegt. „Unser Ziel ist, durch die Direktvermarktung stärker über die Preise bestimmen zu können“, erklärt Kristof Stolze, studierter Landwirt und ausgebildeter Industriekaufmann. „Wir möchten den Preis nehmen, den wir für gerechtfertigt halten. Und wenn wir mit Händlern zusammenarbeiten, ihnen eine Marge ermöglichen, die auch für sie gerecht ist.“
Kreislaufwirtschaft beim Öl aus Klein Hehlen
Lange Transportwege fallen weg, der Artenreichtum auf den Äckern steigt. Das tut auch den Insekten gut. Und an den Flächen weisen Schilder darauf hin, was hier entsteht: „Hier wächst Klein Hehlener Öl“ – das ist Werbung im Vorbeigehen. Die Abfallprodukte aus der Ölmühle werden zum Futter für die Schweine, die Schweine wiederum düngen den Acker: „Hier kommt nichts weg“, sagt Kristof Stolze.
Weiterentwicklungen sind ebenfalls geplant: zum Beispiel Knoblauchöl, hergestellt mit Knoblauch aus der Lüneburger Heide. Und wer weiß, welche Gewürze noch möglich sind in Zukunft – Hauptsache, die Pflanzen wachsen in der Region. Denn von jeder Flasche soll bekannt sein, woher ihre Inhaltsstoffe stammen. Daher soll die Produktpalette auch nicht zu breit werden. „Weniger ist mehr“, sagt Stolze. „Wir wollen nichts herstellen, wofür wir am Großmarkt einkaufen müssten.“ Carolin George