Gesamtverteidigung und Wirtschaft

Nach einer langen Friedensphase seit Ende des Kalten Krieges ist Deutschland wieder militärisch bedroht. Die Angriffsszenarien und sich daraus ergebenden Maßnahmen zur sogenannten Gesamtverteidigung sind ungleich komplexer als vor Jahrzehnten. Hier erhalten Sie einen Überblick aus der Perspektive der Wirtschaft.

Einleitung

„Erstmals seit Jahrzehnten ist Deutschland auch wieder militärisch bedroht. Im euroatlantischen Raum herrscht kein Frieden.“
Diese Statements sind in den deutschen Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung beziehungsweise im aktuellen strategischen Konzept der NATO (externer Link) niedergeschrieben. Erstere wurden vom Bundeskabinett angenommen, letzteres durch die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten beschlossen.
Ein über diese Dokumente weit hinausgehender politischer und strategischer Handlungsrahmen legt somit Herausforderungen, Aufgaben und Maßnahmen der „Gesamtverteidigung“ fest, die auch die Wirtschaft betreffen. Im Rahmen ihrer Aufgaben vertritt die IHK hierbei das Gesamtinteresse der Wirtschaft, informiert, berät und unterstützt ihre Mitgliedsunternehmen.
Die Vorbereitung auf Verteidigung wird hierbei als zentrales Instrument verstanden, um Krieg oder andere Formen von Angriffen zu verhindern.

Was ist Gesamtverteidigung?

Unter dem Begriff Gesamtverteidigung versteht man die Summe beziehungsweise das Zusammenspiel aller Handlungsebenen und Maßnahmen zur Verteidigung gegen einen Angriff auf Deutschland, Europa oder das NATO-Bündnisgebiet. Hierzu zählen Maßnahmen auf militärischer Ebene ebenso wie die zivile Verteidigung (zum Beispiel Zivilschutz, Versorgung mit Gütern, Energie und Telekommunikation), die Abwehr von Bedrohungen aus dem Cyberraum, die Widerstandsfähigkeit gegen Desinformationskampagnen und vieles mehr.
In der Rahmenrichtlinie für die Gesamtverteidigung werden diese zahlreichen Handlungsebenen auf einer strategischen Ebene adressiert. Im Einzelnen reicht dies zum Beispiel von der Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung über die Sicherstellung des Verkehrs bis hin zu Aspekten des Arbeitsrechts. Zudem werden die unterschiedlichen Zuständigkeiten auf Bundes- und Landesebene, von Bundeswehr und Polizei und viele weitere Aspekte adressiert.
Stark vereinfacht ausgedrückt adressiert die Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung somit diejenigen Aspekte im Krisen- und Kriegsfall, die entweder den zivilen Bereich betreffen oder bei denen ein enges zivil-militärisches Zusammenwirken erforderlich ist. Daneben existieren weitere Strategien und Richtlinien, wie der Operationsplan Deutschland, der in erster Linie die militärischen Aspekte beinhaltet und dementsprechend der Geheimhaltung unterliegt.

Einordnung in die Sicherheitspolitik und -architektur

Strategien und Leitlinien wie die Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung oder der Operationsplan Deutschland fügen sich in ein komplexes Gesamtwerk aus politischen Ebenen, Sicherheitsarchitekturen et cetera ein. Nicht abschließend umfasst dies beispielsweise:
  • Die NATO, die damit verbundenen Bündnisverpflichtungen sowie politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen: In der von den Staats- und Regierungschefs beschlossenen NATO-Strategie werden die zentralen Eckpfeiler definiert. Im NATO Warfighting Capstone Concept finden sich Erläuterungen zur Weiterentwicklung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit bis ins Jahr 2040.
  • Die Europäische Union sowie die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Teil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik: In der Initiative Readiness 2030 sind Maßnahmen und Finanzmittel für einen deutlichen Ausbau der Verteidigungskapazitäten in Europa beziehungsweise den EU-Mitgliedstaaten beschrieben. Die NATO ist in diesem Konzept unverändert von zentraler Bedeutung, wobei Europa eine deutlich stärkere Rolle bei der eigenen Sicherheit als bisher übernimmt.
  • Deutschland: Unter dem Dach der Nationalen Sicherheitsstrategie wurden neben den bereits erwähnten Werken unter anderem auch Verteidigungspolitische Richtlinien und die Konzeption Zivile Verteidigung geführt.
Dass die „Zeitenwende“ nicht nur politisch ausgerufen wurde, sondern zunehmend greifbar wird, zeigt sich neben derartigen Rahmenwerken auch konkret am Gesetz für einen neuen Wehrdienst. In der Gesetzesbegründung wurde angeführt, dass bei heute rund 180.000 Soldaten in Zukunft mit einem Bedarf von bis zu 460.000 (inklusive einer Reserve) gerechnet wird.
Noch aus Zeiten des Kalten Krieges gibt es zudem beispielsweise ein Wirtschaftssicherstellungsgesetz und eine Wirtschaftssicherstellungsverordnung, in welcher unter anderem ein Rahmen für die Priorisierung verteidigungsrelevanter Produktionen oder Dienstleistungen festgelegt wird.
Darüber hinaus existieren im Detail weitere politische Ebenen, Strategien und Handlungsfelder rund um das Thema Gesamtverteidigung.

Szenarien: Großer Krieg, begrenzte Sabotage, gestörte Lieferketten?

Teilweise werden das Schlagwort Gesamtverteidigung oder Diskussionen über einen möglichen Angriff auf das NATO-Bündnisgebiet mit einem Weltkriegsszenario wie zu Zeiten des Kalten Krieges in Verbindung gebracht. Ein umfangreicher militärischer Angriff stellt jedoch nur ein Szenario unter vielen dar. In diesem wäre Deutschland zudem nicht wie damals Kampfgebiet, sondern primär Aufmarschgebiet und Logistikdrehscheibe.
Das heutige sicherheitspolitische Umfeld ist ungleich komplexer. So ist im NATO-Konzept beispielsweise die Rede von einem multiregionalen, multidimensionalen Multidomänen-Umfeld. Oder einfacher formuliert: Alles ist möglich, überall, zu jeder Zeit, in jeder Form. Rein fiktiv könnte zum Beispiel die Blockade wichtiger Schifffahrtsrouten durch Sabotageakte in Verbindung mit einem Cyberangriff auf die Energieversorgung und Telekommunikation eines Staates zu erheblichen Belastungen und Schäden führen, ohne dass hiermit ein militärischer Angriff verbunden wäre. Ein extremeres Szenario wäre hingegen eine großflächige Zerstörung wichtiger Satelliten, verbunden mit Raketen- und Drohnenangriffen auf Energie- und Kommunikations-Infrastruktur, gefolgt von einem klassischen Angriff. Aus dieser Vielschichtigkeit leitet die NATO unter anderem die Notwendigkeit einer stärkeren mehrschichtigen Resilienz ab, verbunden mit einer entsprechenden Weiterentwicklung von Waffen- und Verteidigungssystemen, militärischen Fähigkeit, Cyberabwehr und vielem mehr. Ähnlich komplex und thematisch breit sind die Fragen der zivilen Gesamtverteidigung beziehungsweise der möglichen Szenarien mit Bezug zur Wirtschaft.

Gesamtverteidigung und Wirtschaft

Die Wirtschaft spielt in den Konzepten rund um die Gesamtverteidigung eine zentrale Rolle. In den jüngeren Konflikten wurde deutlich, dass trotz aller Schrecken des Krieges ein Teil des gesellschaftlichen Lebens und auch die Wirtschaft großteils weiterlaufen. Je nach Dimension eines Angriffs (siehe oben) unterschieden sich die Auswirkungen und Einschränkungen erheblich. Die Wirtschaft ist hierbei sowohl ein zentraler Akteur der Gesamtverteidigung (zum Beispiel Produktion von Rüstungsgütern, Lebensmitteln, Medizinprodukten, Bereitstellung von Logistik oder Baumaschinen) als auch Adressat vorgesehener Leistungen.
So wird der Wortstamm Wirtschaft rund 60-mal in der Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung erwähnt. Naheliegend sind Aspekte wie der Schutz vor Bedrohungen aus dem Cyberraum, wozu auch die IHKs bereits seit vielen Jahren verschiedenste Unterstützung für Unternehmen anbieten. Ein weiterer Aspekt, der an Bedeutung gewinnt, ist die Planung, Vorbereitung der Bereitstellung verschiedenster Leistungen im Kontext der Gesamtverteidigung (zum Beispiel Logistik, Baumaschinen, Instandsetzung, Lebensmittel und vieles mehr). Dasselbe gilt für den Schutz vor Spionage und Sabotage.
Neben präventiven beziehungsweise vorbereitenden Maßnahmen adressiert die Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung auch das Funktionieren der Wirtschaft im Krisen- oder Kriegsfall. Demnach ist auch im äußeren Notstand der lebens- und verteidigungswichtige Bedarf an Gütern und Leistungen für die Zivilbevölkerung und Bundeswehr durch die gewerbliche Wirtschaft zu decken, gleichzeitig wird betont, dass die grundlegenden Marktmechanismen nicht aufgehoben wären.
Konkret bedeutet dies zum Beispiel:
  • Dass die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft auch im Kriegsfall aufrechterhalten werden und davon ausgegangen wird, dass die damit verbundenen Marktmechanismen, Entscheidungs- und Lenkungsstrukturen aufgrund ihrer Dezentralität eine optimale Versorgung und Effizienz gewährleisten.
  • Dass staatliche Eingriffe nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit erfolgen dürfen und sich zum Beispiel auf die Priorisierung verteidigungsrelevanter Warenlieferungen und Werkleistungen beschränken sollen. Entsprechende Mechanismen sind auch Gegenstand der Wirtschaftssicherstellungsverordnung.
Bereits an den dargestellten ausgewählten Beispielen werden einige Aspekte deutlich:
  • Gesamtverteidigung umfasst eine Reihe proaktiver beziehungsweise präventiver Maßnahmen, die großteils nicht neu sind und mit denen trotz aller Dramatik eines möglichen Angriffs auch Geschäftsmodelle und –potenziale für Unternehmen verbunden sind.
  • Neben der Verteidigungsindustrie und –gütern ist der Bedarf an Produkten und Dienstleistungen für die Gesamtverteidigung insgesamt umfangreicher. Dies reicht von der Logistik (Transportkapazitäten) über die Baubranche (Liegenschaften, Schutzräume, Baumaschinen) oder IT-Sicherheitsdienstleistungen bis hin zur möglichen Lebensmittelversorgung entlang von Aufmarschrouten.
  • Die zusätzlichen Bedarfe bringen insbesondere für innovationsorientierte Unternehmen Potenziale für Transformation, neue Geschäftsmodelle und Absatzmärkte mit sich. So hat zum Beispiel die NATO einen Innovationsfonds aufgelegt.
  • In vielen der möglichen Krisen- und Kriegsszenarien würde ein erheblicher Teil der Wirtschaft weiterlaufen. Gleichzeitig könnte ein Teil der Belegschaften als Reservist, beim Technischen Hilfswerk, bei Rettungsdiensten oder aus anderen Gründen nicht verfügbar sein. Dies muss bei entsprechenden Vorbereitungen berücksichtigt werden.
  • Je nach Szenario ist mit einzelnen oder umfangreichen Störungen von Lieferketten zu rechnen, sowohl international als auch national
  • Es wäre zeitweise oder längerfristig mit einem Ausfall oder der Einschränkung grundlegender Dienste zu rechnen, beispielsweise der Energieversorgung, der Telekommunikation et cetera
  • und vieles mehr
Antworten auf derartige Herausforderungen sind Gegenstand umfangreicher Aktivitäten auf verschiedensten Ebenen, ein Teil davon unterliegt der Geheimhaltung. Werke wie die Rahmenrichtlinie Gesamtverteidigung stellen insofern eine öffentlich zugängliche Blaupause für die Entwicklung von Maßnahmen dar und bieten somit auch Unternehmen eine grobe Orientierung, womit zu rechnen wäre.

Entwicklungsmöglichkeiten für die Wirtschaft

Im Idealfall führt eine glaubwürdige und professionelle Vorbereitung auf die Gesamtverteidigung dazu, dass keines der Risiko-, Krisen- oder Kriegs-Szenarien eintritt. In diesem Fall bestehen infolge der beschriebenen Maßnahmen vor allem Entwicklungsmöglichkeiten für die Wirtschaft.
Dies reicht nicht abschließend von Aufträgen von Streitkräften, NATO oder im Rahmen von EU-Programmen über Dienst- und Beratungsleistungen rund um Cyberabwehr, Spionageschutz oder Krisenvorsorge bis hin zu mittelbaren Effekten wie einer verbesserten Verkehrsinfrastruktur. So wirkte zum Beispiel der Angriff auf die Ukraine als Investitionsbeschleuniger für das sogenannte 740-Meter-Schienennetz.
Die IHKs bieten ihren Mitgliedsunternehmen hierbei Unterstützung, etwa durch Informationen über die Bewerbung um Aufträge von Streitkräften. Für verschiedene Programme geben die IHKs zudem auf Aufforderung der zuständigen Behörden Stellungnahmen bei einer Bewerbung von Unternehmen um Aufträge ab.
Rund um Forschung, Innovation und Technologietransfer besteht ein umfangreiches Angebot, von der Erstberatung zur Akquise von Fördergeldern (auch im Kontext von Rüstung und Gesamtverteidigung) bis hin zur Vermittlung von Kooperationspartnern.

Unterstützung Ihrer IHK

Die gesamte beschriebene Thematik ist nicht grundsätzlich neu. So ist Niedersachsen seit jeher ein bedeutender Standort der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Entsprechende Informationen und Erstberatung von der Auftragsvergabe durch Streitkräfte bis hin zu Forschungskooperationen oder die Akquise von Fördergeldern sind daher etabliert. Angebote rund um Cybersicherheit und Wirtschaftsschutz sind ebenso seit vielen Jahren fester Bestandteil des IHK-Portfolios.
Auf unserer Website finden Sie einen überblickgebenden Leitfaden Gesamtverteidigung zur Vorbereitung als Unternehmen auf einen Krisenfall, hybriden Konflikt oder Verteidigungsfall.
Darüber hinaus stellt die Vertretung des Gesamtinteresses der Wirtschaft die zentrale gesetzliche Aufgabe der IHK dar. Ihre IHK setzt sich auf verschiedenen Ebenen (über die IHK Nord sowie die IHK Niedersachsen) sowie auf Bundes- und EU-Ebene über die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) entsprechend ein.
Mit dem fortschreitenden Ausbau konkreter Maßnahmen im Bereich der Gesamtverteidigung wird die IHK weitere Produkte entwickeln. Aus heutiger Sicht könnte dies beispielsweise weitere Leitfäden zur Vorbereitung auf Krisen- und Kriegsszenarien ebenso umfassen wie Angebote für Vernetzung und Erfahrungsaustausch in verschiedenen Handlungsfeldern der Gesamtverteidigung.